Michael Stuhr

DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN


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Dicker Beton, mit schwerem Eisen armiert, das jetzt nackt, rostig und verdreht aus der verwitterten Oberfläche hervorragte. Wenn ich statt nach hinten, nach vorne gefallen wäre, in diese wirren Eisenknäuel hinein - nicht auszudenken. Zum erstenmal im Leben war ich direkt dankbar für meinen dicken Hintern, der mich so treulich zu Boden gezogen hatte.

      Ich hatte das Gefühl, in dieser unnatürlich warmen Luft fest zu stecken, und es wurde immer seltsamer:

      Hinter dem nächsten Hügel tauchten Scheinwerfer auf. Ein Wagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf den Ortseingang zu; doch obwohl er keine fünfzig Meter hinter mir vorbeischoss, hörte ich nicht das geringste Geräusch.

      "Heute ist Vollmond, da haben sie es leicht!"

      Ruckartig warf ich den Kopf herum. Direkt hinter mir hatte jemand gesprochen. Ein schabendes, knirschendes Geräusch, so als ziehe jemand eine schwere Kiste über glatten Beton, ließ mich zur anderen Seite blicken.

      "Vorsicht mit der Kiste!“, schimpfte ein Mann. "Wenn du abrutscht haben wir dienstfrei - für immer."

      "Schon gut, schon gut“, maulte eine andere Stimme zurück.

      Ganz deutlich konnte ich diese Worte verstehen. Über mir, neben mir, hinter mir. - Aber da war niemand. Mutterseelenallein saß ich auf dem uralten Betonfundament und fing ganz offensichtlich an zu spinnen.

      Leise quäkte ein Funkgerät. Eine Stimme gab die Nachricht: "Erste Welle, drei Minuten!"

      Nichts wie weg hier! Hastig versuchte ich aufzustehen. Umsonst! - Es war mir, als stecke ich in einer Mauer. Nicht, dass ich wie gelähmt gewesen wäre. Aber all meine Bewegungen liefen so langsam, so mühsam ab, als sei ich unter Wasser. Es wollte mir einfach nicht gelingen, auf die Füße zu kommen.

      Langsam, fast unmerklich, erfüllte ein leises Summen mehr und mehr die Luft.

      "Sie kommen!“, kommentierte eine Stimme hinter mir.

      Ich schwitzte. Schwitzte vor Schmerz, vor Anstrengung und vor Aufregung - und ich schwitzte vor Wärme. Es war unglaublich warm. Der Duft von Heu hatte sich noch verstärkt. Wie ein Vogel im Netz drehte und wand ich mich auf meinem Platz hin und her, versuchte aufzuspringen und kam doch nicht frei. Es war, als hielte mich eine große, warme Hand niedergedrückt.

      Das Summen hatte sich nun zu einem Dröhnen verstärkt. Das Geräusch kannte ich aus alten Wochenschaufilmen, die wir mal in der Schule gesehen hatten: Bomberstaffel im Anflug! - Und wieder hat unsere tapfere Flugabwehr ...

      "Sie sind über der Stadt."

      Fernes Grollen zeigte an, dass die ersten Bomben detonierten.

      "Hoffentlich sind die Frauen im Keller."

      "Halt doch den Mund!"

      "Und die Kinder."

      Schwere Erschütterungen jagten durch die Luft. Die ganze Stadt schien zu vibrieren. Fassungslos saß ich auf meinem Platz und erlebte mit, wie die Detonationen immer näher kamen.

      Plötzlich übertönte eine Kette scharf knallender Schüsse alle anderen Geräusche. Unwillkürlich schaute ich in die Richtung, hoch zur Brücke.

      "Kammerer macht wieder Extraschicht. Der wird nie begreifen, dass die erste Welle immer zu weit querab liegt."

      Es war, als würden die Schüsse in meinem Kopf abgefeuert. Als fände das alles nur in meinem Kopf statt, denn vor meinen Augen lagen Parkplatz, See und Brücke unverändert da.

      "Mit seinen Scheinwerfern lockt er die Brüder doch nur an." Todesangst hatte in dieser Stimme mitgeschwungen.

      "Kann ihm doch egal sein. Der sitzt oben auf dem Bahndamm in seinem Turm. An dem fällt der ganze Rotz doch vorbei."

      Das Geräusch der Flugmotoren ebbte langsam ab.

      Wieder dieses Schaben, wie von Eisen auf Beton.

      "Vorsicht!"

      Dann ein Aufschrei und ein harter Schlag.

      "Alwin, verdammt, ich hab doch gesagt, pass auf! - Alwin?"

      Eiskalt lief die Gänsehaut meinen Rücken hinunter. Alwin! - Das Bild vervollständigte sich.

      "Voll auf die Kiste geknallt. – Ich glaub der ist hin! Soll ich ..."

      "Keine Zeit jetzt. Gleich ist die zweite Welle da. Leg ihm schnell was unter den Kopf und komm!"

      Wieder die Stimme aus dem Funkgerät: "Zweite Welle, drei Minuten!"

      "Was machst du hier?" - Eine der Stimmen von vorhin! Aber näher jetzt, leiser, wärmer. "Du gehörst nicht hierher!" Ganz dicht neben mir wisperte es. Es meinte mich. "Geh weg! Wir sind alle ..."

      "Ich kann nicht!" Wieder versuchte ich aufzuspringen. "Ich bin gefangen!"

      "Du darfst nicht hierbleiben! Vielleicht kann ich dir helfen."

      "Ja bitte! Ich will weg hier!"

      "Schnell, bevor die zweite Welle kommt“, flüsterte die Stimme neben mir. "Die zweite Welle ist schlimmer! Zuerst ist die Stadt dran, dann die Brücke!"

      "Ich kann nicht!" Verzweifelt riss ich an meinen unsichtbaren Fesseln. Es war als stecke ich in Beton.

      "Lauf weg! Lauf weg!“, drängte die Stimme. "Jetzt!"

      Voller Entsetzen spürte ich, wie die Hitze um mich herum sich noch verstärkte. Ich glaubte ersticken zu müssen.

      "Verzeih mir“, hörte ich ein letztes leises Wispern. Dann fühlte ich einen harten Schlag. Ich dachte, alle Knochen müssten mir brechen, aber ich war frei. Taumelnd wirbelte ich herum und rannte, so schnell ich konnte zur Straße hinauf. Mein verletzter Knöchel schmerzte wahnsinnig. Trotzdem kämpfte ich mich immer schneller durch das dichte Gebüsch.

      Deutlich konnte ich jetzt wieder das tiefe Brummen der Bombenflugzeuge hören. Weit entfernt begann eine Flak zu feuern.

      Ich rannte, wie um mein Leben, die Straße entlang. Hinter mir verklangen die Stimmen:

      "Scheinwerfer! Zielerfassung!"

      Schneller, so schnell wie nie zuvor flogen meine Füße über den Asphalt.

      "Höhe sechstausendachthundert!"

      Ich rannte.

      "Bestätige sechstausendachthundert!"

      "Nach Erfassung Feuer ohne Befehl!"

      Mein Herz raste. Meine Lungen wollten zerreißen. Dann brach hinter mir die Hölle los. Das ganze Tal war erfüllt vom Lärm der Geschütze. Es war, als würde die Luft erbeben. Eine gigantische Welle dumpfer Detonationen wälzte sich näher. Das Abwehrfeuer steigerte sich zu einem wahnsinnigen Crescendo. Erst als ich auf dem nächsten Hügel angekommen war, blieb ich stehen und schaute mich um. Bis hier herauf war die rasend schnelle Folge von Abschüssen zu hören., bis plötzlich eine alles übertönende, ohrenbetäubende Detonation den ganzen Spuk beendete.

      Kraftlos sackte ich auf der Stelle zusammen, auf der ich gestanden hatte. Mein verletzter Knöchel tat teuflisch weh. Frisch fuhr der Wind in meine offene Jacke. Schwer atmend hockte ich auf der Straße. Gott sei Dank war jetzt alles vorbei!

      "Wollen Sie nicht doch lieber mitkommen?“, fragte hinter mir eine Stimme in der Dunkelheit. Ich spürte, wie mein ganzer Körper sich verkrampfte. Langsam drehte ich mich um.

      "Haben Sie sich verletzt?"

      Erleichtert atmete ich auf. "Könnten Sie mir bitte hochhelfen? - Ich habe mir den Knöchel verstaucht."

      Höflich hielt der Taxifahrer mir seine Hand hin und stützte mich die paar Schritte bis zu seinem Wagen. Warum hatte ich das Auto nicht gehört? War es immer noch nicht vorbei?

      "Haben Sie auf mich gewartet?“, fragte ich ihn, als er die Beifahrertür schließen wollte.

      Er lachte: "Was? Gewartet? Zwei Stunden lang? - Mädchen, sie sind gut!" Kopfschüttelnd warf er die Tür ins Schloss.

      Aber