Michael Stuhr

DIE NACHT DER ENGELSTRÄNEN


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jemals eine Frau einen Mann töten wollte, dann ich ihn, auf der Stelle! "Doofmann!", konterte ich schlagfertig.

      "Jochen, hör jetzt auf!" Die Stimme meiner Tante klang jetzt aber wirklich böse. "Deck lieber den Tisch! Gisela wird hungrig sein, nach der langen Fahrt."

      Blöde grinsend kam Jochen der Aufforderung nach. - Hatte ich da eben etwa ein leises "Muuh" gehört, als er sich zum Schrank hin umdrehte?

      Nach dem Essen, ich hasse Graupen, sprach meine Tante mich an: "Na, was hast du heute vor? Willst du das Wochenende nutzen, und dir die Stadt ein wenig ansehen? Schließlich wirst du in den nächsten Wochen hier leben. Da wäre es ganz gut, wenn du dich schon mal ein bisschen umsiehst."

      "Genau!" Das entprach ganz meiner Planung. Zuächst würde Jochen meine Koffer herauftragen, und dann könnte er mir die Stadt zeigen. "Zuerst müssen wir mal meine Koffer ...", begann ich.

      "So, ich muss dann los!" Jochen stand auf. "Wenn ich zu spät komme, wird der Platz sofort wieder vergeben." Er schaute auf seine Armbanduhr.

      "... nach oben holen“, schloss ich lahm.

      "Ja, beeil dich", riet meine Tante ihrem Sohn. "Sonst verpasst du noch deine Bahn."

      Meinen Kofferkuli konnte ich wohl vergessen. Eilig stürzte er aus der Küche, schlüpfte in seine Jacke, raffte im Flur eine blau-weiße Tennistasche an sich und verschwand mit Getöse durch die Wohnungstür. "Tschüß, Leute!“, rief er noch über die Schulter zurück. "Wir sehen uns morgen!"

      "Kommt er heute nicht wieder?“, fragte ich vorsichtig bei meiner Tante an.

      "Keine Ahnung. Wenn er sagt `bis morgen', dann meint er wohl auch `bis morgen', denke ich."

      "Ich hol dann meine Koffer." Niedergeschlagen stand ich auf. Das fing ja gut an.

      "Okay“, meinte meine Tante fröhlich. "Hast du viel Gepäck? Kannst du Hilfe gebrauchen?"

      Ich nickte.

      "Dann komme ich mit und helfe dir."

      Der erste Lichtblick in diesem dunklen Tal.

      Zwei Stunden später ging ich, dick in meinen Wintermantel eingepackt, die Amtmann-David-Straße hinunter. Tante Lucy war wirklich reizend gewesen. Zuerst hatten wir gemeinsam meine Koffer nach oben geschleppt, und dann hatte sie mir noch beim Einräumen geholfen. Mein Zimmer gefiel mir. Es war zwar klein, aber gemütlich eingerichtet. Einzig die Aussicht ließ etwas zu wünschen übrig. Knapp zwanzig Meter entfernt ragte auf der anderen Straßenseite ein riesiges, altes Bürohaus auf. Jetzt, am Sonnabendnachmittag, waren alle Räume dunkel. Trist starrten die schwarzen Fenster in dem grauen Beton vor sich hin. - Wie ein riesiger Totenschädel mit tausend Augen. Schnell hatte ich die Vorhänge zugezogen.

      Als wir mit dem Einräumen fertig waren, hatten wir noch gemeinsam Tee getrunken, und ich musste von zu Hause erzählen. Danach hatte meine Tante mir neben einem Stadtplan noch eine Menge guter Ratschläge mit auf den Weg gegeben. Tenor der ganzen Litanei war, Komm rechtzeitig heim und lauf nicht allein in der Dunkelheit herum! gewesen. Ich fand, für eine Frau, die noch nicht einmal wusste, wo ihr minderjähriger Sohn sich nachts herumtrieb, machte sie sich reichlich viel Mühe mich zu gängeln.

      Kreuz und quer ging ich durch die Straßen der Stadt, wie es mir gerade in den Sinn kam. Ich bin schon immer gern zu Fuß gegangen und hier gab es wirklich eine Menge zu sehen. Zuerst ging ich zu der Firma, bei der ich mein Praktikum absolvieren würde. Na, das sah doch gut aus! `HANSEN-EDV' stand in großen Buchstaben über dem gewaltigen Backsteinbau mitten in der City. Hier sollte ich also meine ersten Kontakte zur Welt der Arbeit knüpfen. Nun, man würde sehen. Jedenfalls behagte mir die Citylage sehr. Bestimmt konnte man in der Mittagspause immer mal eben einen kleinen Einkaufsbummel machen.

      Weiter ging es durch die Innenstadt, die jetzt, nach Feierabend, wie ausgestorben dalag. Aber die Schaufenster in der Fußgängerzone waren schon interessant. Ich nahm mir vor, mir gleich am Montag ein paar schicke Sachen zu kaufen. Zwar waren auch wir in `Hinterwald', wie Jochen unser Dörfchen nennt, modisch voll auf dem Laufenden. Ich wollte aber kein Risiko eingehen. Es reichte vollauf, wenn ich zu Hause Landei genannt wurde.

      "He, Mädchen!" Auf einer Bank, neben einem Blumenkübel mit kümmerlichen Pflanzen darin, saß ein alter Mann.

      Unsicher schaute ich mich um. Meinte der etwa mich?

      "Komm mal! - Komm doch mal!" Er gab mir Zeichen. Eindeutig!

      Langsam näherte ich mich der Bank und blieb einige Schritte davor stehen. Der Alte trug eine ehemals weiße Windjacke, die vor Schmutz nur so starrte. Darunter war ein fleckiges Hemd zu erkennen. Neben ihm lag eine Plastiktüte, aus der der Hals einer bauchigen Flasche herausschaute.

      "Hilf mir doch mal“, bat der Alte mit schwacher Stimme. "Hilf mir doch mal, damit ich auf die Beine komme. - Verstehst du?" Er machte eine hilflose Geste. "Alleine schaff ich das nicht mehr. - Verstehst du?"

      Zögernd ging ich auf ihn zu. Er sah nicht nett aus, nicht freundlich, eher verschlagen und gemein. Sein hilfloses Lächeln hatte etwas katzenhaft Lauerndes. Vorsichtig streckte ich ihm die Hand entgegen. Bedächtig griff der Alte danach, legte seine gelben Finger um mein Handgelenk und drückte fest zu.

      Sachte fing ich an zu ziehen, um ihm beim Aufstehen behilflich zu sein, aber er machte keinerlei Anstalten sich zu erheben. Im Gegenteil! Er versuchte, mich zu sich herabzuzerren.

      "So fängt man Täubchen“, kicherte er leise. Der Zug seiner Hand wurde stärker.

      "Lassen Sie das!" Mit einem Ruck versuchte ich mich zu befreien, aber er hielt eisern fest.

      "Hast du Geld? Willst du mir nicht Geld schenken?" Näher und näher zog der Alte mich zu sich heran. Ich konnte seinen Atem spüren, der nach Fusel und Fäulnis stank.

      "Nein! Lassen Sie mich los!" - Geld schenken! Das wäre ja noch schöner! Da könnte ja jeder kommen!

      "Gib Geld! Gib Geld!“, zischte der Alte. Speichel rann aus seinem zahnlosen Mund. Noch näher, noch tiefer zog er mich an sein Gesicht. Mit aller Kraft stemmte ich mich dagegen.

      "Gib Geld, und ich sag dir ein Geheimnis." Er flüsterte fast. "Dein Geheimnis, ich kenne es! Gib Geld!"

      Vor Aufregung bekam ich kein mehr Wort heraus. Tief gruben sich die nikotinverfärbten Fingernägel in mein Handgelenk. Der Alte war unglaublich stark. Diesen zähen Kampf konnte ich unmöglich lange durchhalten.

      "He, Harry, du Penner, was machst du mit dem Mädchen?" Unbemerkt waren zwei junge Männer in Lederkleidung nähergekommen. Einer von ihnen hatte die Worte zu uns herübergerufen.

      "Verpiss dich, du Ratte!“, geiferte der Alte in seine Richtung. Sein Griff wurde eher noch fester, und er fing an, ruckweise zu ziehen.

      "Lass die Kleine los, oder ich komm' mal kurz rüber!" Der junge Mann wich einen Schritt von seinem Weg ab.

      Plötzlich war ich frei. Hastig ging ich ein paar Schritte zurück und rieb mir das schmerzende Handgelenk. Der Alte bleib sitzen. "Du wirst kein Glück haben“, zischte er. Und lauter: "Kein Glück!" Rasch drehte ich mich um und ging schnell davon.

      Harry, wie der junge Mann ihn genannt hatte, saß noch immer auf der Bank und kreischte vor Wut. "Diese Stadt liebt dich nicht!“, schrie er mir nach. "Diese Stadt hasst dich!"

      Unbeirrt ging ich weiter. Weg von ihm. Wen interessiert es schon, was ein alter Straßenräuber faselt? Trotzdem! Ein unbehagliches Gefühl blieb.

      Das war also die erste Lektion, die die Stadt für mich bereitgehalten hatte: Hüte dich vor alten Männern, die allein auf Bänken sitzen! - Nun gut, das hatte ich jetzt gelernt.

      Nach etwa hundert Metern blieb ich stehen und wartete auf die beiden jungen Männer, die langsam in meine Richtung schlenderten. Schließlich kann es nicht schaden, wenn man sich ordentlich bedankt.

      "Danke!“, sagte ich ein wenig linkisch, als die beiden auf meiner Höhe angekommen waren. "Danke, dass Sie mich vor dem Alten da", ich blickte kurz in die Richtung, wo die