K. Ostler

Die Mensch-Erklärungsformel (Teil 3)


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Betroffene lernt, angetrieben von seinem innigen, schmerzhaften Verlangen nach Intimität, Verbunden- und Vertrautheit, einen Partner kennen und erfährt dank diesem Akzeptanz und Geborgenheit. Der innere Reiz, der das Gefühl der Sehnsucht auslöst und die anschließende Suche nach (bzw. Offenheit für) einen Partner initiiert, wird mittels des Vergleiches der wesensgemäßen Veranlagung mit ihren psychischen Grundbedürfnissen (= Sollzustand) und der tatsächlichen identitätsgemäßen Verfassung (Istzustand) gesetzt. Die sich daraus ergebende Disparität, identisch mit einem angezeigten Handlungsbedarf, ist letztlich ausschlaggebend für die Erregung und Ausübung des Reizes.

      Das Gefühl der Sehnsucht nach Nähe hat das parallel vorhandene Gefühl der Angst vor Nähe zurückgedrängt bzw. verdrängt, es überlagert und dementsprechend dominiert.

      Bildlich ausgedrückt: Im Kampf der Gefühle hat das der Sehnsucht über jenes der Angst obsiegt. Das eine Gefühl ist stärker, das andere schwächer.

      Aber die Dominanz des Gefühles hält, abhängig von der speziellen Beziehungskonstellation und der genauen psychischen Schädigung des Betroffenen, nicht lange an. Nachdem das Ziel erreicht zu sein scheint, sich dadurch ein Befriedigungs- bzw. Bestätigungsgefühl (im Sinne einer Bedarfserfüllung) einstellt und infolgedessen die Dringlichkeit des Reizes nachlässt (die dem Reiz innewohnende Energie hat sich mit der Realisierung abgebaut), verliert die Sehnsucht nach Nähe an Intensität und verflüchtigt sich vermeintlich. Vermeintlich, weil das Bedürfnis tatsächlich weiterhin latent ist, sinnbildlich nur untergetaucht ist, um später wieder mit neuer Vehemenz aufzutauchen.

      Zeitgleich dazu baut sich angeregt vom inneren Reiz, dessen Impuls vom identitätsgemäßen Pseudogleichgewicht ausgeht, das durch die erlebte Nähe unter Druck gerät, damit instabil wird und schließlich gefährdet ist (Bedrohung der Funktionsfähigkeit des Betroffenen), das Gefühl der Angst vor zu viel Nähe auf. Dieses Gefühl gewinnt immer mehr an Kraft, bis es durch sein ausgelöstes Verhalten (wieder eine größere Distanz zum Partner herzustellen und infolgedessen die Nähe zu reduzieren) seinen Höhepunkt an Kraft und Vitalität erreicht.

      Das vorher unterdrückte Gefühl mutiert zum dominanten Gefühl, aus dem passiven, weitgehend energielosen Gefühl (das Gefühl war trotz seiner ehemaligen Inaktivität permanent unbewusst präsent) wird demnach ein aktives und energiegeladenes.

      Das Gefühl der Sehnsucht nach Nähe tritt in den Hintergrund, die Person nimmt dieses Gefühl angesichts des aktuell übermächtigen, energievollen Gefühls der Angst nicht mehr (oder nur sehr schwach) wahr. Das fragile identitätsgemäße Pseudogleichgewicht gewinnt durch die Abschwächung der Angst wieder an Stabilität und Sicherheit, mit der Bedarfsverwirklichung und der energetischen Entladung verliert der dem Angstgefühl zugrunde liegende Reiz an (Nach) Druck und Aktualität.

      Da jedoch das Gefühl der Sehnsucht nach Nähe, bedingt ob der psychischen Schädigung während der Kindheit und des daraus resultierenden Reizes, stets existent und virulent ist, schwillt dieses mit der Zeit erneut an und nimmt in seiner Vehemenz zu, und vermindert derart zwangsläufig die Intensität des Gefühles der Angst vor Nähe.

      Dieses Wechselspiel – Aufladung eines Gefühles mit Energie, gleichzeitige energetische Entladung des anderen Gefühles, abwechselnde Dominanz des einen Gefühles über das andere, buchstäbliche Verdrängung eines Gefühles auf Kosten des anderen – geht ohne tief greifende und kontinuierliche therapeutische Arbeit ständig so weiter …

      Im Kern des Wechselspieles stehen zwei elementare Bedürfnisse, eines, das sich aus der wesensgemäßen Veranlagung des Menschen ableiten lässt, sprich das Ur-Bedürfnis nach Annahme, Anerkennung, Geborgenheit, Sicherheit und Stabilität und eines, das sich als Reaktion auf das nicht ausreichend saturierte Ur-Bedürfnis, sprich das Sekundär-Bedürfnis auf angemessene Kompensation (Stichwort: Umwegbefriedigung), ergibt.

      Kann beim geschilderten Szenario von echten/wahren, von unechten/künstlichen/falschen und von täuschenden wie manipulierenden Gefühlen gesprochen werden?

      In der Beurteilung dieser Frage spielt die Urangst als das grundsätzlichste wie ursprünglichste Gefühl (Ur-Gefühl), die sich darauf gebildete wesensgemäße psychische Veranlagung und das vitalste Bedürfnis in Form des Überlebenstriebes die entscheidende Rolle.

      Kurz: Das ausschlaggebende Bewertungskriterium für eine Einteilung in echte/wahre und unechte/künstliche Gefühle ist nicht deren persönliche Wahrnehmung, sondern der anlagebedingte Überbau des Menschen, ergo dessen Grundprogrammierung.

      Es existieren zwei Kategorien echter Gefühle. Die Prototypen echter Gefühle sind die mit den Reizen der wesensgemäßen Disposition verbundenen und ausgesendeten Gefühle. Diese Gefühle stehen im direkten Zusammenhang mit der Erfüllungsvorgabe der psychischen Grundbedürfnisse, wobei die Gefühle sowohl deren Befriedigung, deren Minderbefriedigung wie deren völlige Negierung anzeigen.

      Die zweite Gruppe echter Gefühle steht in enger Korrelation zur ersten, denn diese Gefühle können nur dann entstehen, sofern das identitätsgemäße Gleichgewicht aufgrund einer mit Selbstwert unterlegten Stabilität keinen Bedarf an stützenden kompensatorischen Kräften hat. Ist dies der Fall, sind die Gefühle und das von ihnen initiierte Verhalten authentisch, da im Hintergrund keine anderen, kompensatorischen Ziele verfolgt werden und sich das Gefühl nicht von der psychischen Verfassung instrumentalisieren lassen muss.

      Sinnbildlich befinden sich dann die ausgesendeten Gefühle im Einklang mit der anlagebedingten Struktur.

      Sobald allerdings Gefühle ausgelöst werden, deren Ziel (bzw. Zweck) der Anstoß von Handlungen ist, die kompensatorischen Charakter haben, um ein wie auch immer geartetes identitätsgemäßes Pseudogleichgewicht zu schützen, sind diese Gefühle im Kern als unecht (im Sinne von nicht originär) und künstlich zu bezeichnen.

      Mit anderen Worten: Es bestehen zwei elementare Gefühlsebenen. Die ursächliche Ebene bezieht sich auf die Vorgaben der wesensgemäßen Veranlagung des Menschen, sprich auf dessen psychische Grundbedürfnisse. Die zweite, als reaktive Ebene oder auch als Produkt der ersten Ebene zu benennen, steht durchweg in Verbindung zur ersten Ebene, um auf die nicht mehr tolerable Abweichung zu den Vorgaben zu begegnen, dabei stets das Primat des metaphysischen Prinzips des Ausgleiches berücksichtigend.

      Die ursächliche Ebene ist von ihrer Struktur her eine aktive, eigenständige Basis, hergeleitet aus der Priorität der Bedürfniserfüllung (ein Bedürfnis impliziert prinzipiell seine ausreichende Saturierung), und sendet unterschwellig immer Reize aus, deren Intension es ist, Gefühle und nachfolgend Handlungen in Gang zu setzen, die ihr Ziel in der Befriedigung des Bedürfnisses haben.

      In der Wahrnehmung spielt dieser Unterschied keine Rolle. Um dies anhand des Beziehungsangst-Beispieles zu verdeutlichen: Sobald beim Betroffenen das Gefühl der Sehnsucht nach Nähe das Gefühl der Angst vor Nähe überdeckt, dann wird dies – vor allem in der Phase des Höhepunktes des Gefühles, wenn dessen Wirksamkeit am größten ist – auch so von ihm empfunden, dies gilt ebenso für den umgekehrten Fall.

      Das jeweils aktuelle, dominante Gefühl ist für den Menschen das echte, wahre Gefühl, er kann keine Differenzierung vornehmen, weil ihm die eigentliche, tiefe Motivation, die sich hinter der Entstehung des Gefühles verbirgt, unbekannt respektive für ihn nicht nachvollziehbar ist.

      Eine gewisse Verunsicherung in der Wahrnehmung kommt auf, wenn das eine Gefühl an Stärke verliert, während das andere an Stärke zulegt. Dann ist die Wahrnehmung nicht mehr eindeutig, sondern unterliegt entsprechenden Schwankungen.

      Wichtig sind die differenten Gefühlsebenen und ihre Entstehungshistorie bei der Definition von normalen und unnormalen Verhalten und dessen Abgrenzung voneinander, um dergestalt auf das tatsächliche Wesen des Menschen rückschließen zu können.

      Von täuschenden und manipulierenden Gefühlen kann fraglos gesprochen werden, weil die Gefühle der reaktiven Gefühlsebene de facto nicht mit den ursprünglichen, eigentümlichen Erfordernissen korrespondieren. Das heißt, dass die vom Betroffenen empfundenen Gefühle nicht mit seinem tiefgründigen Verlangen übereinstimmen, und diese Täuschung respektive Manipulation erweckt oberflächlich den Eindruck, dass kein Handlungs- wie Änderungsbedarf existiert.

      Selbstredend gibt es hier