K. Ostler

Die Mensch-Erklärungsformel (Teil 3)


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Kind), meint außerdem, dass er bezüglich seinen zahlreichen Engagements und seines Gesundheitszustandes genau weiß, was er macht, und dass er darüber hinaus nicht bereit ist, sich für sein Verhalten und seine zeitintensiven Tätigkeiten rechtfertigen zu müssen.

      Es vollzieht sich Schritt für Schritt eine Veränderung in der Beziehung, der Mann wird zurücknehmender, verschlossener, distanzierter, geht Gesprächen so weit wie möglich aus dem Weg, kritisiert die Frau ohne konkreten Anlass immer öfters (und bringt sie dadurch in eine defensive, sich zu verteidigende oder sogar entschuldigende Position) und bekommt schließlich, neben den schon genannten körperlichen Problemen, noch zusätzliche, in Intervallen auftretende Krankheitssymptome, wie u. a. Herzrasen, Hitzewallungen, Beklemmungen (zugeschnürte Kehle, Atemnot) und Übelkeit. Während sie sich gemeinsame Pläne wünscht und mehr gemeinsame Zeit einfordert, wächst bei ihm die Entfremdung, die in seiner Äußerung gipfelt, dass trotz des Versuches aus einer anfänglichen Verliebtheit nicht mehr geworden ist, und dass er seinen (und nicht einen gemeinsamen) Weg geht.

      Die Beziehung verliert auf jeder Ebene an Intensität, und nach gewisser Zeit will der Mann die Trennung und lässt eine ziemlich ratlose Frau zurück, begründet in den Widersprüchlichkeiten im Verhalten des Mannes während der Beziehung (einerseits der vielversprechende Beginn der Partnerschaft, gezeichnet von intensiven Gefühlen und dem Wunsch des Mannes, sich stärker emotional zu öffnen, und andererseits sein daraufhin stetig forcierter Rückzug, begleitet mit den entsprechenden Verhaltensweisen). Der Mann wirkt durch die Trennung wie von einer Last befreit bzw. erlöst. Relativ kurz danach nimmt der Mann seine vorherige, emotional kühlere und vom On- und Off-Charakter bestimmte Verbindung abermals auf, und die in Schüben auftauchenden Beschwerden (Herzrasen, Hitzewallungen, Beklemmungen und Übelkeit) verklingen, die Infektanfälligkeit jedoch nicht.

      So viel zur eigentlich unspektakulären Geschichte, die auf den ersten Blick durchaus als normal bezeichnet werden kann, zumal sie sich in ähnlicher Form ungezählt tagtäglich auf der Welt nach dem Motto „man lernt sich kennen, versteht sich nicht mehr gut bzw. passt nicht richtig zusammen und trennt sich wieder“ derart abspielt.

      Aber wenn die oberflächliche Betrachtung beiseite gelassen und die scheinbare Normalität tiefgründig hinterfragt wird, dann stellt sich in der Analyse die Beurteilung wesentlich facettenreicher und vor allem unterschiedlicher dar.

      Was steckt demnach ursächlich hinter den jeweiligen Verhaltensweisen, welche Motive sind festzumachen, handelt es sich um freie, unabhängige Entscheidungen oder liegt eine – unbewusste – Steuerung zugrunde, die ob ihrer Kraft das Leben maßgeblich beeinflusst? Muss daher der freie Wille des Menschen als hinfällig angesehen werden?

      Um welche Verhaltensweisen geht es bei dem Beispiel dezidiert?

      Aufgrund der mangelnden Annahme in der Frühkindheit, gleichbedeutend mit einer Nichterfüllung der psychischen Grundbedürfnisse (u. a. fehlendes Urvertrauen, keine Geborgenheit, Akzeptanz und Sicherheit und damit psychische Instabilität) hat sich bei dem Mann – so paradox es zunächst klingen mag, da er bereits verheiratet war und, einzig unterbrochen von kurzen Pausen, ständig in Beziehungen lebt(e) – eine Bindungsangst und eine Angst vor (zu viel) Nähe entwickelt. Eine unzureichende Annahme ist überdies ein Symbol für eine nicht vorhandene Wertigkeit der Person, bei der sich folglich ein lebenslang währendes, latentes Minderwertigkeits- und Unsicherheitsgefühl manifestiert („ich bin es nicht wert, angenommen und geliebt zu werden“, Stichwort: Erniedrigung, Demütigung).

      Diese ausgebildete psychische Struktur ist die Basis für alle wesentlichen Verhaltensweisen, die im Kern zwei Ziele haben, erstens die Vermeidung der mit der ungenügenden Annahme verbundenen Ängste, und zweitens die Kompensation der unterschwellig verankerten Minderwertigkeit. Beide Ziele dienen der Erhaltung der Funktionsfähigkeit bzw. (Über) Lebenstauglichkeit.

      Der Betroffene leidet (der Ausdruck versinnbildlicht den Zustand sehr gut, weil es effektiv eine Dauerbelastung ist) an einer kuriosen wie seltsamen Situation. Er sucht die Nähe (als Kompensation zur nicht widerfahrenen Nähe – sprich Annahme – der Eltern), und sofern er sie gefunden hat, meidet er sie und stößt sie wieder ab (Abwehrreaktion).

      Die Nähe ist verknüpft mit einer tief liegenden Angst, neuerlich das Gefühl zu erleben, nicht gewollt, nicht angenommen, nicht anerkannt zu werden und demgemäß eine erneute Negativ-Bestätigung zu erhalten, die im Endergebnis nichts anderes ist, als eine Existenzverneinung und dem Überlebenstrieb zuwiderläuft. Das sich herausgeformte identitätsgemäße Pseudogleichgewicht steht auf dem Spiel und ist durch zu viel Nähe gefährdet.

      Das Dilemma liegt auf der einen Seite in dem unstillbaren Verlangen, Nähe zu bekommen, zum Beispiel dank einer intensiven, liebevollen Beziehung, die eine angemessene Geborgenheit, Vertrauen, Verlässlichkeit und Sicherheit vermittelt, und andererseits in der beständigen Angst, so eine Beziehung zuzulassen und einzugehen, um nicht abermalig eine Verletzung zu bekommen. Zwangsläufig wird bei der Verhinderung dieser Verletzung ein möglicher Partner verletzt, da der Betroffene höchst egoistisch agiert, besser agieren muss, um derart seine Bedürfnisse zu befriedigen, und nicht in der Lage ist, Rücksicht zu nehmen.

      Ein allein oberflächliches, eher distanziertes, nicht gefühlsstarkes Verhältnis wiederum stillt das tief verwurzelte Bedürfnis nach dem benötigten Ausmaß an Geborgenheit auch nicht. Der Betroffene ist hin- und hergerissen, natürlich nicht bewusst, zwischen der Sehnsucht und der Suche nach ausreichender Nähe und der Angst vor einer neuerlichen Verletzung bzw. dem Aushalten von zu viel Nähe. Nähe bedeutet zudem Offenheit, und Offenheit macht im Gegensatz zur Verschlossenheit verletzbar, weil, sobald sich ein Mensch auf einen anderen Menschen einlässt, dies die Gefahr der Enttäuschung in sich birgt.

      Alleinsein ist ebenfalls keine wirkliche Lösung, zumal dadurch zwar keine Bedrohung hinsichtlich einer erneuten Verletzung ausgeht, allerdings der Hunger nach Nähe damit gleichfalls nicht gestillt wird.

      Die beschriebene Ambivalenz bleibt selbstredend nicht ohne direkte und indirekte Folgen auf das Leben und die Verhaltensweisen des Betroffenen, weil die Psyche jedes Menschen grundsätzlich nicht nur die gleiche Funktion, sondern entsprechende Mechanismen wie Instrumentarien hat, auf jeweilige Störungen und Defizite (Mangelerscheinungen) zu begegnen.

      Jedoch, und dies ist den einzelnen Identitätsproblematiken geschuldet (siehe dazu das Kapitel „Das Gebilde Mensch und seine (4) Identitätsproblematiken – ihre Funktionsweisen, Wechselwirkungen und Problemfelder“), reagieren Menschen auf ihre Situation, auch wenn eine ähnlich gelagerte Schädigung vorliegt, häufig mit ziemlich unterschiedlichen Verhaltensweisen, wobei es trotzdem gewisse gleiche, übergeordnete Muster gibt, die aber genauso in ihrer Darstellung differieren können, wie u. a. Verdrängung, Rationalisierung, egoistisches Verhalten und Schauspiel (fassadäre Persönlichkeit).

      Jetzt konkret zur Charakterausprägung und den Verhaltensweisen des Mannes, salopp könnte man sagen, zur individuell zusammengezimmerten, von Kompensationen und Ersatzhandlungen bestimmten, Lebensform.

      Der große Bekanntenkreis, das kommunikative Wesen, die permanenten Beziehungen ohne eine Aus- wie Ruhezeit nach Beendigung einer Verbindung (von einer Beziehung zur nächsten) und die Aktivitäten ehrenamtlicher Natur signalisieren den enormen Drang nach Kontakt und Nähe (und gleichfalls der hiermit verbundenen Anerkennung und Bestätigung), und auf diese Weise nicht reflektieren zu müssen, sich also buchstäblich von seiner Problematik abzulenken (Stichwort: proaktive Verdrängung) und sich gar nicht in die Gefahr zu bringen, sich mit ihr auseinandersetzen zu müssen. Ein in diesem Zusammenhang treffender Ausdruck für das Verhalten ist Beschäftigungstherapie.

      Es bestehen viele Kontakte, jedoch keine zu nahen (nach dem Motto ein bisschen Nähe ist gut, aber nur keine übermäßige), und diese sind letztlich oberflächlich, es wird im Unverbindlichen verharrt, zumal der Betroffene, trotz scheinbarer Lockerheit und Zugänglichkeit, im Kern verschlossen, hart und auch im gewissen Grad emotional kalt ist. Es kann durchaus von einer Pseudo-Nähe gesprochen werden.

      Das vermittelte Außenbild entspricht nicht dem tatsächlichen Innenleben, der Mann versucht durch die zahlreichen Aktivitäten der gefühlten Einsamkeit und der inneren Leere zu entgehen (die Einsamkeit ist überdies ein Symbol der Verlassenheit, die aus der fehlenden Annahme in der Kindheit entstanden ist). Die fassadäre