K. Ostler

Die Mensch-Erklärungsformel (Teil 3)


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ihre Lebensführung dementsprechend ausrichten.

      Sie sind genötigt, sich erheblich anzupassen und müssen oftmals ihre persönlichen Wünsche verleugnen (Rationalisierung) und verdrängen, was wiederum zu noch größerer Unzufriedenheit, Erniedrigung und in der Folge zu offener oder unterdrückter, mitunter sich partiell explosiv entladender Aggression führt.

      Diese Menschen können nicht ihr eigenes, wirklich selbstbestimmtes Leben bewerkstelligen, sondern sind wie eine Marionette fremdgesteuert. Die Fremdsteuerung besteht im Benötigen von ununterbrochenen und immer neuen Pseudo-Bestätigungen, die das vorhandene Defizit ausgleichen sollen (die Fremdsteuerung erfolgt ursächlich durch den entstandenen psychischen Impetus und symptomgemäß durch die Identitätsstifter bzw. identitätsstiftenden Faktoren).

      Die als Identitätsgeber und Bedürfniserfüller zu bezeichnenden Personen besitzen deshalb eine Macht über den identitätsdefizitären Menschen, die häufig zum eigenen Nutzen missbräuchlich und manipulierend eingesetzt wird. Hierzu gibt es – gerade im (macht) politischen Bereich - genügend Beispiele in der Geschichte der Menschheit ...

      Ergänzend muss angefügt werden, dass die Fremdsteuerung nicht nur durch Menschen, hingegen ebenfalls durch Sachen (u. a. Macht des Konsums / ein aktuelles Beispiel für die Macht eines Gegenstandes über seinen Nutzer ist das Handy, das als identitätsstützendes Medium wegen seines daraus zu ziehenden Befriedigungspotenzials Suchtcharakter entfaltet), Ideologien und Anschauungen erfolgen kann.

      Hierzu eine kurze Anmerkung: Wenn dem kapitalistisch orientierten Menschen die Plattform und Bühne der bevorzugten Ersatzhandlung „Konsum“ (Stichwort: Droge Konsum) mit all ihren Facetten entzogen werden würde, wäre dies gleichbedeutend mit einem Bedürfnisverzicht und folglich einem kalten Entzug mit vielerlei belastenden Nebenwirkungen.

      Da das eigentliche Urbedürfnis aber nicht mehr zu stillen ist, handelt es sich bei den über Ersatzhandlungen und Kompensationen erzielten Bestätigungen lediglich um einen nie endenden Nachhol- und versuchten Wiedergutmachungsprozess, der die existente Unsicherheit nicht beseitigen, sondern nur – im schlechten Fall - für kurze und - im besten Fall – für längere Perioden aus- und überblenden kann.

      Menschen mit einer Identitätsproblematik haben das latente Gefühl fehlender Annahme und Akzeptanz der Um- und Mitwelt, also ein Mangel-, Hunger- bzw. Minderwertigkeitsgefühl. Darüber hinaus ist ihnen aufgrund eines Entwicklungsdefizits der Zugang zu sich selbst und der eigenen Emotionalität bloß sehr eingeschränkt möglich oder sogar gänzlich verwehrt.

      In dieser Notwendigkeit der Bekämpfung des Mangelgefühles (im übertragenen Sinne als unstillbaren Appetit und Unfähigkeit des Sattwerdens zu bezeichnen) mit fortwährenden Ersatzbefriedigungen sind auch die Wurzel und der Hintergrund des auf ständigen Wachstum ausgerichteten menschlichen Alltages zu sehen und der weitverbreiteten, latenten Unzufriedenheit.

      Grundsätzlich ist der Befriedigungswert einer Ersatz- und Kompensationshandlung geringer als von einer natürlich initiierten.

      Weil zudem der Sättigungswert bzw. -Effekt der Substitut – Handlung (Befriedigungsqualität) wegen des Gewöhnungs-, Abnutzungs- und Abstumpfungsaspektes und des vergleichenden Moments (sich und seine Situation in Vergleich zu anderen Menschen setzen, dies entsprechend bewerten und dadurch folgende Steigerung der Ansprüche, um neue Befriedigung erreichen zu können) ständig nachlässt, muss analog eines Drogenabhängigen die Dosis und Frequenz permanent erhöht werden, um zumindest eine Minimum-Wirkung zu erreichen.

      Dieses Prozedere ähnelt einem Fass mit einem ursprünglich kleinen und überschaubaren Loch im Boden, das mit der Zeit immer größer wird und deshalb immer mehr Inhalt benötigt, um den gleichen Pegel zu halten.

      Dieser Beschleunigungs-, Wachstumswahn und ebenso –wahnsinn, ergo das alles immer schneller, immer größer, immer mehr sein muss, bestimmt unser modernes Leben und hält die Menschheit buchstäblich in Gefangenheit mit den bekannten, nicht selten selbst zerstörerischen und die Umwelt zugrunde richtenden Auswüchsen.

      In der Gesellschaft erfahren diese besonders aktiven, tatkräftigen, rast- und ruhelosen, oft materiell überdurchschnittlich erfolgreichen Personen hohe Anerkennung, nehmen eine Vorbildfunktion ein und werden vordergründig als stark, selbstsicher und stabil angesehen. Sie sind begehrenswert.

      Sie werden auch deshalb bewundert, weil sie dem heutigen Gesellschaftsideal des immerwährenden Fortschritts und Erfolges entsprechen und unterschwellig der Irrglauben der Außenstehenden besteht, dass gerade diese - oberflächlich betrachtet - erfolgreichen Personen die alle Menschen betreffende Identitätsproblematik am besten gelöst haben (Motto: Je mehr Geld und je mehr Besitz, desto befriedigender, zufriedenstellender, sorgen- und angstfreier ist das Leben).

      Tatsächlich sind diese Menschen außergewöhnlich getrieben in der Sucht nach Anerkennung und Bestätigung (wegen des nach wie vor existierenden Stimulus der primären Frustrationen) und hinter ihrer künstlich aufgebauten und infolgedessen schwer zu durchschauenden Fassade mit einer sehr labilen, brüchigen und widersprüchlichen Identität ausgestattet.

      Diese identitätsgemäße Verfassung wird nicht von der eigenen Person getragen, somit nicht aus der persönlichen Kraftquelle gespeist und mit Substanz (Energie) versorgt, indes wird über die hohe Aktivitäts- und Erfolgsdynamik versucht, das Identitätsdefizit auszugleichen und den identitätsgemäßen Zustand zu stärken und zu stabilisieren. Die hohe Aktivitätsdynamik schließt auch eine große Verdrängungsdynamik und einen hohen Rationalisierungsaufwand mit ein.

      Der starke Antrieb lässt ebenfalls auf einen außerordentlich hohen Grad an Instrumentalisierung der Ratio durch die Psyche schließen, die den Betroffenen so gut wie nicht zur Ruhe kommen lässt. Ängste, wie zum Beispiel Versagens- und Verlustängste, werden hochgespült und dringen in das Bewusstsein, um über spezielle Handlungen laufend Nachschub an Ersatzbefriedigung zu erhalten und die Ängste dadurch zu reduzieren.

      Eine Nebenbemerkung: Die erwähnte Instrumentalisierung in Form von Unruhe zeigt sich u.a. auch bei Schlafproblemen, die ursächlich nicht durch einen zu aktiven, selbstständigen Geist hervorgerufen werden, der sich permanent Gedanken macht, hingegen geht der Impuls von der psychischen Problematik aus, die den Geist beschäftigt, auf Trab hält und nicht in Frieden lässt (Stichwort: Getriebenheit).

      Vielmals bauen diese Menschen ihre Identität auf Kosten anderer Personen auf, indem sie weder Rücksicht noch Verständnis auf die Befindlichkeiten der jeweiligen Mitmenschen (fehlende Empathie, Gefühlskälte, etc.) nehmen oder aufgrund ihrer problematischen Situation überhaupt nehmen können, um ihre benötigte Befriedigung (nach dem Motto „sich nehmen, was man braucht“) nicht zu gefährden.

      Automatische Folge sind latente, dauerhafte – oft auch unterschwellige und dann sporadisch explosionsartig aufbrechende - Konflikte zwischen dem Dominierenden und dem Dominierten, im Extremfall entstehen daraus exzessive, unkontrolliert verlaufende Vorfälle (u.a. eine Wurzel für ethnische Konflikte).

      Die aufgebaute Fassade kann vielleicht die Außenwelt über die reale Situation hinwegtäuschen, aber eine wirkliche Selbsttäuschung ist nahezu unmöglich (auch wenn es in diesem Bereich Zustände gibt, die einen hohen Grad an Vorspiegelung und Einbildung erlauben, also eine gewisse Verselbstständigung des Selbstbildes), da das nach außen transportierte Verhalten mit dem eigenen, tiefgründigen psychischen Empfinden nicht deckungsgleich (kongruent) ist.

      Die offensichtliche Identität bzw. Identitätswahrnehmung entspricht hier nicht der reellen Identität.

      Vergleichbar einem falschen Identitätsausweis (Pass), den man zwar sehr gut fälschen und damit die Umwelt hintergehen und die Wahrheit verbergen kann (= Fremdtäuschung), weiß der Betroffene selbst, dass es sich bei dem Dokument um kein Original, sprich um eine unechte Nachahmung (die Fassade stellt eine Imitation dar) handelt.

      Wenn der Mensch lange unter falschen Namen respektive mit gefälschter Identität lebt, dann mutiert die Fassade immer mehr zum Selbstbild. Die vermeintliche Realität und Fiktion verschwimmen und die eigenen Lügen werden zur scheinbaren Wahrheit.

      In diesem Kontext muss der häufig thematisierte Begriff der Resilienz kurz beleuchtet werden. In der öffentlichen Debatte werden, gerade wenn es um