Ghyslyn Pomsel

Lieblingsnachbarinnen


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geklopft, einen Armvoll Sofakissen einladend auf der harten Sitzbank in der Küche drapiert, das Teewasser aufgesetzt, einen Kuchen im Ofen, den Braten schon einmal angebraten und Semmeln für Semmelnknödel zerbröselt.

      Polizistensportsfreunde sind gewiss hungrig, wollen behaglich und warm sitzen und bei Laune gehalten werden.

      Die Heizung läuft auf Hochtouren, und die Nachspeise erkaltet bereits.

      Auf der Gästetoilette liegen griffbereit Sportartikelkataloge.

      Sportartikel: mehr oder weniger jeglicher Ästhetik abholde Gegenstände, die man (tatsächlich oder auch nur eingebildet) zum Betreiben verletzungsintensiver Körperertüchtigung benötigt.

      Die meisten erinnern vage an die Steinzeit.

      Die Nutzer solcherart Gerätschaften bei ihrer Betätigung desgleichen.

      Auf mehreren der Oberkörper-Trikots meines Sohnes wird der Betrachter mittels symbolträchtiger Pictogramme in Kenntnis gesetzt von der ungefähren Anwendung dieser Instrumente.

      Als ich an der Kleidung meines Sohnes zum ersten Mal die schematischen Gemälde erblickte, vermutete ich noch fälschlicherweise, mein Sohn ginge neuerdings zum Kegeln. Ich weiß es nun besser, finde aber immer noch, dass seine Instrumente zum Ausüben lebensgefährlicher Freizeitbetätigung an Kegel erinnern.

      Auf unbestimmte Weise harmonieren sie in meiner Vorstellung sehr gut mit gewaltigen Udos aus der Polizeibranche.

      Udo.

      Ein irgendwie – bedrohlicher Name. Sah ich nicht einmal einen schauderhaften Film, in dem ein Roboter dieses Namens infolge eines Maschinenschadens ausflippte und eine hanebüchene Zerstörungswut entfaltete? Ein nahezu vollständiges hübsches Häuslein in bedauernswerte Einzelteile zerlegte? Ein süßes kleines Heim – dem Erdboden gleichmachte?

      Heim: eher ein Gebilde als ein Gegenstand, in dem man sich unter bestimmten Voraussetzungen aufhalten und behaglich (sogar geborgen) fühlen kann.

      Ich besitze diese Voraussetzungen nicht.

      Mein Heim besteht im Wesentlichen aus Pappe und einigen unmaßgeblichen Betonteilen.

      Und – Udo kommt.

      Wird nach einem Schlüssel fahnden.

      Wird ihn nicht finden.

      Wird ärgerlich werden.

      Sieht seine Chance auf einen Aufenthalt in seinem Heim, der Sporthalle nämlich, schwinden.

      Sieht seine Behaglichkeit, gar seine Geborgenheit bedroht.

      Wird sehr ärgerlich werden.

      Wird – NEIN!

      Wird er nicht!

      Umgehend habe ich das ganze Erdgeschoss ausgeräumt, meine kleinen Tischchen in die Garage geschafft, alle Bücher bei meiner Indianischen Lieblingsnachbarin untergestellt, das Vitrinchen mit Operntäschchen einer anderen Lieblingsnachbarin geschenkt, die Bilder aus den Rahmen genommen, eingerollt und in Bleirohren im Garten vergraben, den Teppich zusammengefaltet, alle Sofakissen einladend mit unverwüstlichem Schaumstoff befüllt, das Teewasser ausgedreht, den Kuchen einer dritten Lieblingsnachbarin zum Verteilen an die Nachbarn geschenkt, den halbrohen Braten den Hunden des Nachbarn zum Fraß vorgeworfen, und die Semmeln Semmeln sein lassen.

      Polizistensportsfreunde, allzumal, wenn sie Udo heißen, sind nicht anheimelnd oder behaglichkeitshungrig.

      Die Heizung ist bereits erkaltet (zwecks Abkühlung etwaigen Temperaments).

      Auf der Gästetoilette liegen griffbereit Spitzenkragenkataloge.

      Ich: ungesellig, absolut unsportlich, zum Eichhörnchen mutiert, verstecke mich unterm Dach.

      Im Zimmer meines Sohnes.

      Maschine

      Wenn es ein Geheimnis auf unserer Erde gibt, dann ist es die Zeit.

      Hemmungslos bauen Physiker und Mathematiker sie ein in die Formeln,womit sie dann rechnen und schließlich sogar Ingenieure armselige Blechraketen in den Weltraum schießen lassen, darinnen ein armes Menschlein, verkabelt, geklemmt in Metall, eine gewaltige Explosion unter den Füßen und ein Garnichts über dem Kopf, in der aberwitzigen Hoffnung, auch wirklich ungefähr dort anzulangen, wo es hin soll...

      Ich verstehe nicht das Geringste von Zeit.

      Ich habe einfach kein Talent dazu.

      Manchmal stelle ich mir Zeit als eine Art Sülze vor: Ist man, wie süßsaures Gemüse, darin eingelegt? Schwimmt man in der – Sülzen-Zeit?

      Wo überhaupt ist die Zeit? Wo befindet sie sich? In mir, oder bin ich in der Zeit? Bin gar – ich die Zeit?

      In der Tat, ich merke schon, ich habe keinerlei Talent zur Zeit.

      Ich kann sie einfach nicht, die Zeit, also so etwas wie Tage, Jahrzehnte, Jahrtausende, Devon, wie einen Moment oder Demnächst. Mir gelingt sowas nicht.

      Unüberwindlichkeiten versülzen mir umgehend das Denken, sobald ich auch nur versuche, Zeit zu denken. März oder ein Jahr oder übermorgen oder eine halbe Stunde – was soll das denn sein? Man erzähle mir nur nicht, dass Zeit eine Linie sei. (Der Strich mit der Pfeilspitze vorne dran.) Oder ein Strom, der da fließt (worin ich dann fischen soll oder nicht).

      Nein, nein, Zeit ist – Sülze!

      Beweis: Fast jeder, dem ich von Zeiten als Sülze spreche – jeder von denen versteht mich.

      Sie doch auch, na?

      Oder gehören Sie tatsächlich zu denjenigen, (soll es geben) die freudig unterschreiben, dass so etwas wie Gestern, Manchmal oder die Ära der Ammoniten – jeweils feste Punkte auf der akkuraten Linie der Zeit sind.

      Nie im Leben glauben Sie das!

      Denn was sind schon Eben, Danach, Später, die Jugendzeit? Was soll das, mal ganz ehrlich, das denn wohl sein: das Alter?

      Zu solchen Dingen wie Lebenslinien und Linien überhaupt habe ich einfach kein Talent. Mir fehlt das Händchen für etwas, das bombenfest von Hier nach Sofort, von Jetzt zu Gleich geht; für derartige Unmehrdeutigkeiten, dafür habe ich keinerlei Begabung.

      Stunden, Tage, Tertiäre, vorgestern, Nachdem, Bevor, Momente! Sind dies doch alles Gürkchen und Blumenkohlstückchen und Silberzwiebeln in Sülze!

      Ein Maiskölbchen – wie begeistert es mich, das eine Maiskölbchen im Glas Sülze zu fischen!

      Ob das nun ein Übermorgen ist oder das Eben noch, wen interessiert's?

      Nein, nein, Talent zu Zeit habe ich nicht.

      Dass schon wieder eine Woche (Woche?) um ist, merke ich lediglich an der neuen Umsonst-Fernsehzeitschrift in der Tageszeitung: Statt des hübschen Viktorianischen Weihnachtsbaums habe ich dann stets plötzlich die sonnengelbe Küste Dalmatiens vor Augen oder eine Bikinifastnackte mit Osterhasenpompon auf dem Hintern.

      Jedoch kenne ich eine, die es wissen muss. Es ist – eine von meinen Lieblingsnachbarinnen. Wie könnte es anders sein.

      Wenn eine es weiß, was Zeit ist, dann sie.

      Sie ist nämlich Fachmann. Kein Gebiet, worin sie nicht schwämme wie ein Fisch im Strom! Ein Späher ist sie, ein wahrer Indianer! Alles findet sie heraus! Egal, worum es geht, sie weiß es oder, noch besser, sie wird des gewahr.

      Sie ist - ein wahrer Indianer!

      Meine Lieblingsnachbarin ist sie, denn ich liebe Indianer.

      Indianer lauschen an Bahngleisen und wissen genau, wann der Zug kommt.

      Nichts gibt es, das dem Späher-Auge entgeht.

      Sie lesen Zeichen, verstehen sich auf alle Spuren