Christina Hupfer

Götter, Gipfel und Gefahr


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ließ ich langsam meinen angehaltenen Atem entweichen, kicherte hysterisch und sank noch einmal zurück in die Polster. Dann griff ich nach einer Orange, schaute mich um, legte ich sie auf den Boden und kickte sie vorsichtig unter den Laster. Mit wackeligen Knien rannte ich in Richtung der Terminals.

      Ich konnte es kaum glauben, dass sich die Schlange vor unserem Schalter nur unwesentlich vorwärts bewegt hatte, und als wir endlich wieder draußen standen, erzählte ich, immer noch ziemlich aufgewühlt, Sylvie und Jonas von meinem Erlebnis.

      „Puh, das hätte dumm ausgehen können – da dürfen wir uns nicht einmischen”, schimpfte Jonas ein wenig mit mir. „Wir sind hier immerhin in einem fremden Land. Und ein Zollbeamter hat nun mal seine Aufgaben.”

      „Du hast ja recht”, gab ich zu und dachte: Aber was hätte ich denn anderes tun sollen?

      „Schon gut.” Er tätschelte meine Schulter. „Ist ja nichts passiert und für Morgen ist jetzt alles klar. Um 17:00 müssen wir hier sein. Genießen wir also den letzten Abend.”

      Wir drehten dem ganzen Chaos den Rücken, trotteten allmählich ziemlich geschafft zum Auto, rissen Fenster und Türen auf, um die größte Hitze herauszulassen und fuhren dann in einer weiten Kurve an den mit diversen Plakaten verunzierten Absperrungen vorbei in Richtung Ausgang. Leider sehr langsam und ohne Fahrtwind. Zu der Zeit, als Jonas liebevoll gepflegtes Wägelchen gebaut worden war, hatte man definitiv noch nichts von serienmäßigen Klimaanlagen gewusst.

      Sylvie und Jonas debattierten vorne noch immer über den Ablauf des morgigen Tages. Ich machte es mir auf meiner Rückbank bequem und schälte eine der wunderbar aromatischen Orangen, die man daheim so nie bekommt. Der große Sack neben mir, der eigentlich als Mitbringsel gedacht gewesen war, schmolz bereits ganz schön zusammen. Hoffentlich hat der Kleine die Orange erwischt, dachte ich gerade und sah im selben Moment eine Hand am rechten Fensterholmen, ein dunkler Haarschopf schob sich nach oben und ich schaute wieder in dieselben angstvollen Augen.

      Oh Gott, was jetzt, dachte ich und entdeckte gleichzeitig die zwei Kerle von vorhin, die immer noch mit suchenden Blicken hinter den Absperrungen auftauchten und schnell näherkamen.

      „Meine Jacke... eingeklemmt”, krächzte ich, öffnete die Tür, schwang meine Beine seitlich auf die Bank und deutete mit der einen Hand nach unten in den Fußraum während ich gleichzeitig einen Finger der anderen auf die Lippen legte. Und jetzt hatte ich ein Problem.

      Das schmächtige „Problem” lag zitternd unter dem schnell von mir darüber gerollten Sack Orangen und meinem Rucksack, und als ich ebenfalls zitternd wieder nach vorn schaute, sah ich erst, was diese langsame Kriecherei verursachte. Der Beamte von vorhin stand an der Ausfahrt zur Straße und schien jedes Auto mit Blicken zu durchbohren.

      „Was stinkt denn hier so?”, drang Sylvies Stimme schwach durch das laute Dröhnen meines Herzens. „Seid ihr vielleicht in was reingetreten?”

      „Oh – äh – das kommt wohl von draußen” brachte ich heraus, begann gleichzeitig noch eine Orange zu schälen und hoffte, dass die ätherischen Öle derselben den „Duft”, der von unten hoch waberte, etwas überdecken würden. „Hier, wollt Ihr auch einen Schnitz?”

      Hektisch schälte ich eine weitere Frucht und war um einen gigantischen Felsbrocken erleichtert, als wir endlich unbehelligt auf die Straße einbogen und der Fahrtwind den Geruch nach Urin und Erbrochenem etwas milderte.

      „Was hier in dieser Gegend wohl so stinkt?” Sylvie konnte sich immer noch nicht beruhigen. „Das ist ja widerlich.”

      An der nächsten roten Ampel wollte, musste ich meinen heimlichen Gast wieder loswerden. Doch ein paar Ampeln weiter, und mein blinder Passagier lag immer noch zu meinen Füßen.

      Die Straße führte fast zwei Kilometer am Hafengelände entlang, und als wir endlich dran vorbei waren, hatten wir „Grüne Welle”. Murphys Gesetz ließ grüßen.

      Inzwischen lag ein kleiner, schmutziger, dunkler Kopf auf meinen Knien und bernsteinfarbene Augen schauten mich dankbar an, während ich ihm Schnitz für Schnitz in den Mund schob. Wir bogen in die Straße zu unserem Campingplatz ein und in meinem Kopf herrschte Chaos. Was sollte ich jetzt nur tun? Meinen Freunden alles beichten (Hallo, ich hab da einen kleinen, stinkenden Passagier dabei, der wahrscheinlich auf der Flucht vor ein paar Ganoven ist..., und ich weiß nicht was ich jetzt tun soll.)? Dem Jungen etwas Geld und Proviant geben und ihn dann wegschicken? Was, was, was?

      Mein Blick fiel auf einen Prospekt, der aus der Netztasche vor mir lugte und unbeschwerten Strandurlaub versprach. Schon hatte ich einen Kuli in der Hand, kritzelte ein Zelt darauf, deutete auf mich, dann zeichnete ich ein Männchen am Strand und deutete auf ihn. Dann noch eine Uhr mit einem Zeitfenster von einer Stunde.

      Ich steckte ihm gerade den Zettel in die Hand, da hielten wir auch schon und ich drückte den Kopf meines unbekannten kleinen Freundes wieder nach unten.

      Und als Sylvie und Jonas die Rucksäcke aus dem Kofferraum wuchteten und ich mich auch langsam aus dem Wagen schälte, verschwand wie der Blitz eine kleine Gestalt hinter den Büschen.

      „Mannomann, das war heute wieder ganz schön anstrengend”, seufzte meine Freundin wie jeden Abend bisher und ließ sich in den Klappstuhl vor ihrem Wohnwagen fallen. „Ich muss jetzt zuerst mal relaxen.” Und Gott sei Dank setzte sich auch wie immer Jonas mit einem kalten Getränk neben sie.

      „Ich gehe noch kurz ins Meer und dann zum Duschen”, verkündete ich nervös und hoffte, dass sie sich nicht ausgerechnet heute anschließen wollten.

      „Laß` Dir Zeit – Abendessen gibt es erst in ein paar Stunden”, murmelte sie und hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne.

      * 3 *

      Ich tauchte ein in den Schutz meines Zeltes, setzte mich auf die Matratze und hielt mir erst mal den surrenden Kopf. „Cara, bist du eigentlich noch zu retten?”, fragte ich mich kurz. Aber dann warf ich alles, was mir hilfreich erschien, in einen Stoffbeutel. Alle restlichen Müsliriegel, eine angefangene Packung Kekse, einen schrumpeligen Apfel, eine große Flasche Wasser, das kleine Stückchen Seife aus der Fährkabine, ein Handtuch und den kleinen Geldbeutel, den ich als Mitbringsel auf dem bezaubernden Markt in Korinth erstanden hatte. Ich zählte mein letztes Kleingeld, 27,65 Euro, und nach kurzem Zögern steckte ich es in die Börse. Dann schlüpfte ich in meinen Bikini, schnappte meine Strandtasche, stopfte den Beutel hinein und verschwand mit einem gespielt lässigen „Tschüss, ich geh dann mal”.

      Kaum außer Sicht begann ich die paar Meter zu Strand zu laufen. Die meisten Sonnenbadenden und Strandläufer waren schon verschwunden und das, obwohl die Sonne noch ordentlich wärmte und das seidenweiche Wasser zu einem erfrischenden Bad verlockte.

      Ich lies meine Augen über den fast verlassenen Strand gleiten und sah nirgends einen kleinen Jungen. Irgendwie war ich gleichzeitig besorgt, aber auch sehr erleichtert. Er wird sich schon irgendwie durchschlagen – so Straßenkinder sind ja wohl hart im Nehmen, dachte ich, atmete tief durch, glitt langsam in die kühlen Wellen, ließ mich auf dem Rücken treiben und versuchte, das Gedankenkarussell abzustellen. Doch so etwas wie eine innere Ruhe wollte sich nicht einstellen.

      Ich beendete mein Bad, setzte mich auf ein Stück dickes Treibholz und ließ meine Blicke nochmals den Strand auf und abwandern. Da, da war doch was! Am linken Ende des Strandes bewegte sich einer der dunklen Felsen, die die Bucht einrahmten. Tja, dann. Ich erhob mich, packte meine Tasche und stapfte langsam darauf zu.

      Er hatte wohl versucht sich zu waschen, denn die paar Fetzen, die seine Kleidung darstellten, klebten nass an seinem mageren Körper. Misstrauisch und sichernd wie ein wildes Tier blickte er mir aus umschatteten, zusammengekniffenen Augen entgegen. Ich hielt ihm den gefüllten Beutel hin: „Da, das ist für Dich.” Er schluckte krampfhaft und griff vorsichtig danach.

      „Thank you, Danke”, glaubte ich zu hören.

      „Ja, dann...”, sagte ich. „Alles Gute.”

      Er