Christina Hupfer

Götter, Gipfel und Gefahr


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Zeltplatz. Mist, Mist, Mist!

      Aber was sollte ich denn tun? Ich konnte ihn ja schlecht einpacken wie einen Sack Orangen. Geschweige denn mit nach Hause nehmen. Ich war hier in einem fremden Land. Ich lief schneller. Er würde schon zurechtkommen. Immerhin war er den gruseligen Kerlen entkommen.

      Gegen meinen Willen blickte ich nochmals zurück. Wie verloren stand seine kleine Gestalt neben den großen Felsen. An einer Hand baumelte die erbärmliche Tüte.

      „Kalispera, ich bin Cara”, sagte ich, als ich wieder bei ihm angelangt war und hielt ihm meine Hand hin. Eine Schönheit war der kleine Kerl ja wirklich nicht. Ziemlich große Zähne dominierten in seinem schmalen Gesicht und über den leicht abstehenden Ohren lockten sich dunkle, speckige Strähnen, mit denen das Meerwasser nicht fertig geworden war.

      „Bbsbgschkova”, drang an mein Ohr. Oh jemine – das war definitiv kein Griechisch. Wobei mir das auch nicht viel geholfen hätte. Wie sollte ich nur meine vielen Fragen loswerden? Woher kommst Du? Wo sind Deine Eltern? Wie kann ich Dir helfen? Und meine Fähre fährt morgen Abend. Punkt.

      Entmutigt murmelte ich:

      „Und Du sprichst ganz sicher auch noch perfektes Hochdeutsch.”

      „Ganz klein. Danke viel”, hörte ich. Hörte ich richtig? Der Junge sprach deutsche Worte!

      „Also, ich bin Cara”, sagte ich nochmals. „Und wie heißt Du?”

      „Ich, Lorik“, antwortete er feierlich und hielt mir nun auch seine Hand hin.

      Es stellte sich allerdings heraus, dass das wohl auch die meisten deutschen Worte waren, die sein Wortschatz hergab. Doch englische Brocken hatte er einige in seinem Repertoire und der liebe Gott hat uns, Dank sei Ihm, auch noch Hände und Füße gegeben. Und Bleistift und Papier. Das Reisetagebuch, ein Geschenk meiner Mutter, wartete schließlich seit Anfang unseres Urlaubs in meiner Strandtasche auf Einträge. Und so gestaltete sich unser „Gespräch” doch noch recht flüssig. Ich setzte mich auf die warmen, rund geschliffenen Kieselsteine des Strandes und lud ihn ein, sich neben mich zu setzen. Bald darauf war mein Block gefüllt wie ein Comic (wobei die besseren Zeichnungen ganz sicher nicht von mir waren) und ich reimte mir die ganze Geschichte zusammen.

      Lorik war gerade erst acht Jahre alt, als fast seine ganze Familie, mit der er in den Bergen in der Nähe von Tirana (der Hauptstadt Albaniens) gewohnt hatte, während einer Naturkatastrophe ums Leben kam. Das war ungefähr zwei Jahre her. Die Hälfte des Dorfes war damals anscheinend bei diesem Bergsturz vernichtet worden. Als er am Abend der Katastrophe mit dem Schulbus nach Hause gekommen war, hatte er sein Dorf nicht mehr erkannt. Dort, wo er gewohnt hatte, wo die Mutter normalerweise mit dem Abendessen wartete, wo seine Freunde spielten und wo die Großmutter zur Nacht die haarsträubendsten Geschichten erzählte, lag nur noch ein riesiger Schlamm und Schutthaufen. Anstatt der Eltern hatten Rettungshelfer die verstörten Kinder in Empfang genommen und hatten versucht, sie so schnell wie möglich bei Verwandten unterzubringen. Und das war bei Lorik ein Problem gewesen. Es gab zwar noch einen Onkel, der aber bei der Staatspolizei eine wichtige Position bekleidete und der sich deshalb nicht um den Jungen kümmern konnte. Doch eine befreundete Nachbarsfamilie, die von dem Unglück verschont worden war, hatte den Jungen bei sich aufgenommen. So konnte er weiter in die Schule gehen und der Onkel bezahlte den guten Leuten die Unkosten. Das hatte anscheinend auch lange Zeit problemlos funktioniert, aber vor ein paar Monaten war der Pflegevater arbeitslos geworden. Er hatte zu trinken angefangen und war richtig bösartig geworden. Dann hatte er seine Kinder und auch Lorik aus der Schule genommen und hatte sie gezwungen, in einem entlegenen Weiler Ziegen zu hüten und auf dem Acker der Familie zu arbeiten. Lorik hätte gerne seinen Onkel um Hilfe gebeten, aber in diesem Nest gab es weit und breit keinen Telefonempfang. Dann vor einer Woche hatte er die unerwartete, aber gute Nachricht bekommen, sein Onkel hätte für ihn einen Platz in einem Internat organisiert. Er hatte sich so sehr darauf gefreut, mit anderen Kindern lernen zu dürfen und diesem verhassten Flecken und dem unerträglichen Nachbarn den Rücken kehren zu können.

      Zwei Tage später schon wurde er frisch herausgeputzt mit seinem kleinen Koffer einem Paar übergeben, das ihn in die Stadt mitnehmen und im Internat abliefern sollte. Seine Pflegeeltern hatten ihm zwei neue Hemden, eine neue Hose, Socken und Unterwäsche in den Koffer gepackt und von den netten Leuten, die ihn abholten, bekam er sogar ein Paar total neue Turnschuhe geschenkt, die er sofort anziehen durfte. Er stieg zu Ihnen ins Auto, es gab zu essen und zu trinken, – und dann wusste er nichts mehr, bis er in einem fensterlosen, verschlossenen, nur von einer einzelnen Glühbirne erhellten Raum aufwachte. Mit ihm saßen beziehungsweise lagen noch zwei weitere verängstigte Kinder in diesem Gefängnis. Ihnen hatte man wohl ungefähr das Gleiche erzählt und alle ihre wenigen Habseligkeiten waren verschwunden. Später, sie wussten nicht wie viele Tage vergangen waren, sind sie bei Nacht auf ein Schiff gebracht und dort in ein dunkles Loch gesteckt worden. In einem kleinen Hafen wurden sie dann in einen Lieferwagen „umgeladen”.

      Wenn ich das alles richtig interpretiert hatte, waren die Kinder dazu wieder mit einem Mittel in einer Mahlzeit oder einem Getränk betäubt worden. Lorik musste sich jedenfalls erbrechen, dadurch wirkte es bei ihm nicht so stark wie bei seinen Leidensgenossen und er konnte im Hafen von Patras entwischen. Der Junge kämpfte vergebens gegen die Tränen, wischte sich die Augen und schnäuzte sich heftig in das Taschentuch, das ich ihm reichte.

      „What happens with my friends / Was passiert jetzt mit den Anderen?”

      Ich durfte mir gar nicht vorstellen, was diese Bande mit den Kindern vorhatte.

      „Ja, und was willst Du jetzt machen?”, fragte ich ihn besorgt in unserer Deutschenglischgestikbildersprache.

      „Call my uncle / meinen Onkel anrufen?”

      „Wo ist eigentlich dieser Onkel?” Und warum hat er sich bisher nicht besser um dich gekümmert? Er meinte wohl, mit Geld sei alles geregelt, dachte ich.

      „Im Ausland”, interpretierte ich seinen Pfeil, der quer übers Blatt, weit weg von der Skizze Albaniens, wies.

      „Und die Telefon–Nr?”

      „In my head / in meinem Kopf – hast du ein Handy?” Er hielt seine Hand ans Ohr und schaute mich hoffnungsvoll an.

      „Aber ja.” Erleichtert sah ich eine Lösung in Reichweite. „Wir werden ihn gleich anrufen.”

      Schon kramte ich in meiner riesigen Tasche, musste aber feststellen, daß mein Akku wieder einmal leer war.

      Seine fühlbare Enttäuschung tat mir richtig weh.

      „Kein Problem, im Zelt oben kann ich es wieder laden”, beruhigte ich ihn.

      Was dieses Bürschchen schon alles erlebt und mitgemacht hatte! Ich konnte nicht anders, ich musste ihm helfen. Ob ich nicht doch meine Freunde einweihen sollte? Aber Lorik konnte sich nicht so einfach verständlich machen und ich wollte mich auch nicht endlosen Diskussionen aussetzen. Dafür war einfach keine Zeit. Und sie hätten wahrscheinlich auch kein Verständnis für meine Eigenmächtigkeiten. Ich würde es ihnen sagen, sobald ich den Onkel erreicht hatte, beschloss ich für mich.

      Inzwischen war es empfindlich kühl geworden. Die Sonne hing schon tief über der Wolkenbank, die sich draußen auf dem Meer auftürmte und tauchte Wasser und Küste in warme Farben. Ein leichter Abendwind war aufgekommen und obwohl wir uns bereits in die Handtücher eingewickelt hatten, fingen wir an zu frieren. Außerdem fielen Riki, wie ich ihn inzwischen nannte, so langsam die Augen zu und ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es höchste Zeit war, zu meinen Freunden zurückzukehren.

      Eine Person mehr oder weniger fällt auf so einem Platz, auf dem ein tägliches Kommen und Gehen herrscht, überhaupt nicht auf und so bedeutete ich Riki, mir in einigem Abstand zu folgen und führte ihn zum Waschhaus. Das war ein seeehr einfaches Gebäude, aber es verfügte immerhin über drei Toilettenräume. Die bestanden aus einem Loch im Boden zwischen zwei Tritten in der Ecke für alles (!), was weg musste, und etwas, das ein Duschkopf sein sollte, an der Decke. Immerhin gab es auch noch ein kleines Waschbecken und ein paar Haken an der Tür, um eine Tasche und ein paar Kleidungsstücke aufzuhängen. Und es kümmerte