Daniel Sternberg

Die Insel


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nicht. Und eigentlich war es ihm auch ziemlich egal. Er zündete eine Zigarette an, sog den Rauch in seine Lunge und lehnte sich zurück. Er blies den Rauch wieder aus und sah zu, wie er in dünnen Fäden an die Decke stieg. Nun war es also soweit, dachte er. Er war dreissig. Und er hatte sein Glück noch immer nicht gefunden. Er fühlte sich leer, ausgebrannt, irgendwie alt. Er hatte das Stadtleben gründlich satt, es machte ihn einfach nicht glücklich - an diesem Morgen war es ihm geradezu zuwider, genau wie der Geschmack in seiner Mundhöhle. Dabei war es genau das Leben, das er sich immer gewünscht hatte. Unabhängig, frei von Verantwortung und immer mittendrin, wenn etwas passierte.

      Er rauchte und sah zu, wie die ersten Sonnenstrahlen durch den Rolladen drangen und sich wie feine Lanzen durch den Rauch bohrten, der sich an der Decke gesammelt hatte. Der Lärm von der Strasse drang überdeutlich an seine Ohren, irgendwo heulte eine Sirene. Vielleicht sollte er sich eine feste Freundin suchen, dachte er müde, eine Frau, in die er sich richtig verlieben konnte. Aber die Liebe liess sich nicht erzwingen, so viel war klar, und seine bisherigen Versuche, sich längerfristig zu binden, waren nicht eben ermutigend verlaufen. Vielleicht sollte er sich eine feste Arbeit suchen, darin aufgehen und Karriere machen, genau wie alle anderen. Aber auch das wollte er nicht, denn er brauchte die Abwechslung und hatte es noch nie geschafft, dieselbe Arbeit länger als ein Jahr auszuüben. Er nahm einen weiteren Schluck aus dem Glas und behielt die Flüssigkeit eine Weile in seinem Mund, während er vor sich hin starrte. Auf dem Salontisch vor ihm standen zahlreiche leere und halbleere Flaschen sowie zwei überquellende Aschenbecher, dazwischen lagen zerknüllte Verpackungen und ein Mobiltelefon, das irgendjemand vergessen hatte. Aus seinem Blickwinkel sahen die Flaschen aus wie die Kontur einer Stadt. Es war eine abweisende Stadt, eine Stadt aus kaltem Glas und abgestandenen Getränken. Eine Stadt ohne Liebe und ohne Hoffnung. Eine Stadt, wie es die seine war. Er seufzte, beugte sich vor, drückte die Zigarette aus und liess sich ins Sofa zurückfallen. Vielleicht war es das, dachte er und wischte sich den kalten Schweiss von der Stirn. Vielleicht sollte er einfach einmal die Stadt verlassen, in der er sein ganzes Leben verbracht hatte.

      Als er in seinem Rücken ein klackendes Geräusch vernahm, wandte er müde den Kopf. In der Tür zum Badezimmer stand Julia in roter Unterwäsche und genauso roten, mit spitzen Absätzen versehenen Stiefeln. Die Arme hatte sie gegen den Türrahmen gestützt, ein Bein war vor das andere geschlagen. Sie stand einfach nur da, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und schaute ihn herausfordernd an.

      "Du bist immer noch da?", fragte Leon und schob die Augenbrauen zusammen. Er kannte Julia nicht sonderlich lange. Sie hatten ein paar Mal miteinander geschlafen, mehr nicht. Dass sie jetzt noch immer in seiner Wohnung stand, überraschte ihn.

      "Oh ja, das bin ich", erwiderte Julia, stützte die Hände in ihre Seiten und kam langsam auf ihn zu. Sie fixierte ihn mit ihren Blicken, während sie einen Fuss vor den anderen setzte. Leon sah den geübten Schwung ihrer Hüfte, hörte das Klacken ihrer Absätze, und ehe er sich versah, sass sie rittlings auf seinem Schoss.

      "Julia", sagte er und fasste sie bei den Armen, "ich mag jetzt nicht."

      "Du magst nicht?", lachte Julia, während sie ihre Hüfte langsam hin- und herbewegte, "ist das ein Scherz?"

      Sie versuchte, Leon zu küssen, doch er wich ihren Lippen aus. "Ich möchte jetzt einfach alleine sein."

      Julia lehnte sich zurück, die Arme noch immer um seinen Hals geschlungen. "Du willst alleine sein?", rief sie mit gespielter Entrüstung und warf ihre Haare zurück, "und was willst du jetzt machen? Mich nach Hause schicken?"

      Leon löste sich aus ihrer Umarmung, schob sie von seinem Schoss, erhob sich und wartete, bis der Schwindel, der ihn erfasst hatte, vorüber war. Dann trat er ans Fenster und zog den Rolladen hoch. Das Licht des neuen Tages brach erbarmungslos in seine Wohnung, seine Augen verengten sich unwillkürlich zu schmalen Schlitzen. Er stützte sich auf das Fensterbrett und starrte nach unten, wo sich der Verkehr bereits lautstark durch die Strassen zwängte. Vielleicht war es das, dachte er wieder, vielleicht sollte er die Stadt tatsächlich verlassen und sein Glück woanders versuchen. Er fragte sich, warum ihm dieser Gedanke noch nie in den Sinn gekommen war, denn jetzt erschien er ihm auf einmal ganz natürlich. Er rieb sich den Nacken und versuchte, den Gedanken weiterzuführen, als Julia von hinten an ihn herantrat und sich an ihn schmiegte. Ihre Hände fuhren über seinen Bauch und bewegten sich langsam nach unten. Als er ihre Brüste an seinem Rücken fühlte, überlegte er für einen kurzen Moment, ihr nachzugeben. Aber dann besann er sich eines Besseren, drehte sich um und schob sie von sich weg. "Ich mag jetzt wirklich nicht."

      Julia wurde rot und bewegte stumm ihre Lippen. Erst jetzt erkannte Leon, dass auch sie ziemlich betrunken war, denn sie wankte bedrohlich hin und her.

      "Du verdammter Schweinehund!", brach es schliesslich aus ihr heraus, "du... das ist mir noch gar nie passiert, das... das ist doch..."

      Sie verstummte, warf ihm einen bitterbösen Blick zu, drehte sich auf dem Absatz und verschwand im Bad. Als sie kurz darauf wieder erschien, war sie mit einem Mantel bekleidet und hatte ihre Handtasche unter den Arm geklemmt. Sie stakte an ihm vorbei und verliess seine Wohnung, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

      II

      Zwei Stunden später erreichte Leon den Busbahnhof. Er ging an den wartenden Bussen vorbei, erklomm die Treppe zum Obergeschoss und fand sich in einer riesigen Halle wieder. Die Menschen liefen aufgeregt durcheinander, die Lautsprecheransagen jagten sich im Sekundentakt. Er legte die Hände an seine Schläfen, versuchte sich zu konzentrieren und schaute sich um. Sein Blick fiel auf einen Geldautomaten. Er ging hin, zückte seine Kreditkarte und hob etwas Bargeld ab. Gleichzeitig überprüfte er den Kontostand und stellte erleichtert fest, dass er genügend Geld besass, um ein paar Wochen zu überleben - wenn er sparsam damit umging, sogar ein paar Monate. Er verstaute das Geld in seiner Brieftasche, nahm das Mobiltelefon hervor und wählte die Nummer von Nolan, dem Besitzer des Clubs, in dem er als Barmann arbeitete. Dass Nolan nicht antwortete, erstaunte ihn nicht, denn es war Sonntag Morgen und die übergrosse Uhr an der Hallendecke stand auf neun Uhr fünfundvierzig. Er hinterliess eine Nachricht, mit der er sich für das plötzliche Verschwinden entschuldigte und ihm mitteilte, dass er für ein paar Wochen verreisen würde. Dass er die Stelle durch sein Verhalten ziemlich sicher verlieren würde, bekümmerte ihn wenig - er hatte sich ohnehin nach einer neuen Beschäftigung umsehen wollen. Er steckte das Mobiltelefon wieder ein und stellte sich in die Schlange, die sich vor dem Fahrkartenschalter gebildet hatte.

      "Welches ist der nächste Bus, der die Stadt verlässt?", fragte er, als die Reihe an ihm war. Die Dame hinter der Glasscheibe hob überrascht die Augenbrauen. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, ihre Bluse war bis obenhin zugeknöpft.

      "Die Busse verlassen die Stadt immer zur vollen Stunde", entgegnete sie unbewegt, "und zwar in alle Richtungen."

      Leon überlegte. Er hatte die Stadt - bis auf den Sommer, in dem er auf den umliegenden Feldern beschäftigt gewesen war - noch nie verlassen und versuchte sich zu erinnern, was er über die anderen Städte des Kontinents gehört hatte. Aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, zumal ihn die Dame unverwandt anblickte. Ihm fiel auf, dass ihm ihre Augen nicht den geringsten Widerstand boten. Sie waren wie zwei Brunnen, deren Grund er nicht erkannte, so dass er sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, in ihnen zu versinken.

      "Warum wollen Sie denn weg?", fragte die Dame, als er nicht mehr weitersprach. Leon schüttelte unmerklich den Kopf und rieb sich den Nacken. "Ich weiss nicht", antwortete er, "ich muss einfach mal raus aus der Stadt. Mal was Neues erleben."

      Die Dame antwortete nicht. Sie stand regungslos hinter der Scheibe und starrte ihn einfach nur an. Sie schien nicht ganz bei der Sache zu sein, gerade so, als sei ihre Seele kurzzeitig ausgeflogen. Leon fühlte sich nicht sehr wohl in seiner Haut, denn die Leere, die diese Seele hinterlassen hatte, schien alles in ihrer Umgebung aufzusaugen. Er fühlte sich nackt, und er bemerkte, dass seine Achselhöhlen feuchter wurden. Er schob den Schweiss der Wirkung des Alkohols zu, der noch immer durch seine Adern floss, war aber dennoch froh, als die Dame wieder zu sich kam, kaum merklich mit dem Kopf nickte, etwas in ihren Computer tippte und ihm eine Fahrkarte ausdrückte.

      "Fahren