Daniel Sternberg

Die Insel


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Raum, dessen Wände aus aufeinandergeschichteten Steinen bestanden. Die Tür war geschlossen, genau wie die Fensterläden. Es roch nach Erde. Ganz in der Nähe waren Stimmen zu hören, irgendwo kreischte ein Vogel. Er lag mit dem Rücken auf einer weichen Unterlage und war bedeckt mit einem Laken. Er hob das Laken an, blickte an sich hinunter und stellte verwundert fest, dass er vollkommen nackt war. Er liess den Kopf in das Kissen zurücksinken, legte seine Hände an die Schläfen und versuchte, sich zu sammeln. Was war geschehen? Wo war er? Und wie war er hierher gelangt? Zunächst bekam er kaum einen klaren Gedanken zu fassen. Immer, wenn er meinte, ein Stück seiner Erinnerung gefunden zu haben, fuhr ein weiches, helles Licht durch seinen Kopf und liess es ihm wieder entgleiten. Doch liess er sich davon nicht beirren und suchte geduldig weiter, gerade so, als füge er ein Puzzle zusammen. Er sammelte die Teile seiner Erinnerung ein, betrachtete sie genau und hoffte, sie am richtigen Platz wieder einzusetzen. Die Anstrengung zahlte sich aus, denn das Licht, das seinen Kopf durchfuhr, verlor allmählich an Heftigkeit. Die einzelnen Teile fügten sich nach und nach zusammen, und dann wusste er plötzlich wieder, was mit ihm geschehen war. Immanuel! Er war mit Immanuel unterwegs gewesen! Sie hatten den ganzen Tag über gefischt, geredet und von diesem Schnaps getrunken. Sie waren in diesen Sturm geraten, er war auf den Aufbau geklettert und hatte die Sturmlampe eingeschaltet. Und dann war die Welle gekommen und hatte ihn mitgerissen. Er hatte sich an die Planke geklammert und gegen die Wellen gekämpft. Der Sturm hatte nicht nachgelassen, dafür aber seine Kräfte. Seine Sinne waren geschwunden, und dann musste er das Bewusstsein verloren haben, denn er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was danach geschehen war. Er schaute sich um, doch konnte er sich ebenso wenig erinnern, wie er in diesen Raum gelangt war und warum er nackt in diesem Bett lag. Er fuhr mit der Hand über sein Gesicht und seufzte, während er sich fragte, wo Immanuel wohl geblieben war. Ob er noch lebte, und ob das Boot den Sturm unbeschadet überstanden hatte. Er hoffte es sehr, denn er hatte den alten Mann - obwohl er ihn erst seit einem Tag gekannt hatte - doch schon ein wenig lieb gewonnen.

      Er streckte sich und stellte erleichtert fest, dass ihm diese Bewegung nicht die geringsten Schmerzen bereitete. Er schlug das Laken beiseite, erhob sich, schwang mit den Armen, bückte sich und drehte den Kopf in alle Richtungen - sein Körper schien einwandfrei zu funktionieren. In dem Raum befanden sich ausser seinem eigenen noch zwei weitere Betten, wobei es sich nicht um eigentliche Betten handelte, sondern um dicke Moosteppiche, die mit einem Laken bedeckt waren. Ansonsten war der Raum leer - allerdings hätte der Platz für weitere Möbel ohnehin gefehlt. Er ging zur Tür, die aus Holz bestand und kein Schloss besass. Gerade, als er sie aufstossen wollte, öffnete sie sich. Das Mädchen, das sie aufgezogen hatte, stiess einen Schrei aus und rannte davon. Leon blieb verwundert stehen, bis er bemerkte, dass er immer noch nackt war. Er kehrte beschämt in den Raum zurück und hüllte seinen Körper in eines der Laken. Dann ging er durch die Tür und gelangte in einen weiteren Raum, dessen Mauern ebenfalls aus aufeinandergeschichteten Steinen bestanden. Das Dach war aus Steinplatten zusammengesetzt, die auf einem Holzgerüst ruhten. In dem Raum befanden sich ein Tisch, drei Stühle, ein Gestell sowie verschiedene Geräte, die er nicht genauer besichtigen konnte, weil sich in diesem Moment die Tür öffnete, die nach draussen führte. Das Mädchen kam zurück, aber diesmal hatte sie sich hinter einer Frau versteckt und schaute mit grossen Augen hervor. Die Frau betrat den Raum und neigte den Kopf.

      "Willkommen auf Magnor", sagte sie und fasste Leon am Arm, "fühlst du dich besser?"

      "Es geht mir gut, danke", entgegnete Leon, machte sich los, trat einen Schritt zurück und betrachtete die Frau, die vor ihm stand. Ihr Körper war rundlich, genau wie ihr Gesicht. Das Haar war zu zwei Knoten gebunden, die ihr Gesicht umrahmten und dessen Rundlichkeit noch betonten. Ihr Hemd war aus einfachem Stoff gefertigt, genau wie ihr Rock, ihre Füsse waren nackt. Das Mädchen hielt sich immer noch hinter der Frau versteckt und wartete gespannt, was geschehen würde.

      "Mir geht es gut", wiederholte Leon und strich sich die Haare aus der Stirn, "allerdings kann ich mich nicht erinnern, wie ich hierher gelangt bin."

      "Das kann ich dir leider auch nicht sagen", antwortete die Frau und stützte die Hände in die Hüften, "aber du warst ganz schön verwirrt, als du hier ankamst. Mein Mann hat dich aus dem Wasser gezogen, das war gestern. Er hat dich hierhergebracht. Du hast die ganze Zeit über gesprochen, ohne dass deine Worte einen Sinn ergeben hätten, und du hattest diesen irren Blick. Deine Augen waren fast völlig weiss!" Sie verdrehte die Augen, um ihre Aussage zu untermauern, und schüttelte den Kopf. "Wir haben dir die nassen Kleider ausgezogen und dich hingebettet, und einen Augenblick später bist du eingeschlafen." Sie trat an Leon heran und fasste ihn erneut am Arm. "Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?"

      "Oh ja, ich fühle mich gut!", versicherte Leon, "aber sag mir: habt ihr noch einen anderen Mann aus dem Wasser gezogen?"

      "Nein. Du warst allein."

      Leon setzte sich auf einen der Stühle und kratzte sich am Kinn. "Und wie lange habe ich geschlafen?"

      "Eine ganze Nacht und einen ganzen Tag."

      "Eine Nacht und einen Tag", wiederholte Leon ungläubig. Noch einmal rief er sich das Boot in Erinnerung, die Welle und die Planke, an der er sich festgeklammert hatte, aber danach folgte nichts mehr. Einfach nichts. Was ihn am meisten beunruhigte, war die Tatsache, dass er - wenn er der Frau glauben konnte, und es gab keinen Grund, es nicht zu tun - bei Bewusstsein gewesen war und geredet hatte, als er hier angekommen war. Doch konnte er sich auch daran nicht mehr erinnern. Er rieb sich den Nacken und dachte angestrengt nach, aber die Erinnerung blieb ganz einfach verschwunden.

      Als die Frau einen Krug mit Wasser auf den Tisch stellte, schreckte Leon aus seinen Gedanken hoch. Er schaute auf und sah, dass die Frau ausserdem Brot, gepökelten Fisch und eine Schale mit Beeren aufgetischt hatte. Sein Magen begann auf der Stelle zu knurren, als hätte er nur auf dieses Zeichen gewartet.

      "Iss!", sagte die Frau und lachte auf, "iss erstmal, damit du wieder zu Kräften kommst."

      Mit diesen Worten drehte sie sich um, nahm das Mädchen, das noch immer an ihrem Rockzipfel hing, bei der Hand und ging zur Tür hinaus. Sie war so schnell verschwunden, dass Leon nicht einmal dazu kam, sich zu bedanken. Trotzdem machte er sich freudig über das Essen her. Das Brot war nicht mehr ganz frisch, der Fisch schmeckte salzig und die Beeren säuerlich, aber das störte ihn in keiner Weise. Während er ass, kam die Frau noch einmal zurück und brachte ihm ein Bündel mit Kleidern.

      "Deine alten Kleider sind leider nicht mehr zu gebrauchen, ich habe dir aber eine Hose, eine Unterhose und ein Hemd dazugelegt. Mein Mann kommt bald zurück, dann werden wir alles Weitere besprechen."

      Kaum hatte sie das Bündel auf den Tisch gelegt, war sie auch schon wieder verschwunden. Nachdem Leon gegessen und den Krug ausgetrunken hatte, untersuchte er das Bündel, das vor ihm auf dem Tisch lag. Seine alten Kleider waren zerrissen und tatsächlich nicht mehr zu gebrauchen. Er erhob sich, entledigte sich des Lakens und schlüpfte in seine neuen Kleider. Er ging einmal um den Tisch herum, schwang mit den Armen und stellte fest, dass sie ganz gut passten - nur der Stoff kratzte ein wenig auf der nackten Haut. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl, lehnte sich zurück und strich mit der Hand über seinen Bauch, als erneut die Tür aufging. Die Frau kam zurück und betrat den Raum. Das Mädchen hing wieder an ihrem Rockzipfel, hinter ihr erschienen zwei Männer. Sie trugen - genau wie die Frau - Kleider aus einfachem Stoff, ihre Füsse waren genauso nackt. Der ältere der beiden Männer - er ging gebückt und stützte sich dabei auf einen Stock - setzte sich zu Leon an den Tisch, der andere blieb neben der Frau und dem Mädchen stehen.

      "Mein Name ist Elias", begann der Mann und richtete sich auf, "und ich heisse dich herzlich willkommen auf Magnor."

      "Magnor", wiederholte Leon und betrachtete den Mann, der ihm gegenüber sass. Er war klein und sein Körperbau gedrungen. Die weissen, nach allen Seiten abstehenden Haare lichteten sich über der Stirn und liessen seinen Kopf ungewöhnlich gross erscheinen. Er besass ein starkes Kinn, sein Blick war der eines Mannes, der in seinem Leben schon alles gesehen hatte.

      "Magnor, genau richtig", sagte Elias, "so heisst unsere Insel. Du hast ganz schön Glück gehabt, dass wir dich gefunden haben. Du kannst dich bei Amon bedanken", er deutete mit dem Daumen nach hinten, "der dich aus dem Wasser gefischt hat."

      Leon