Daniel Sternberg

Die Insel


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sollte recht behalten. Nachdem sie eine Weile schweigend gewartet hatten, bog sich eine der Ruten nach unten. Immanuel sprang auf, packte die Rute und begann, an der Rolle zu kurbeln. Abwechlungsweise holte er Schnur ein und gab wieder etwas nach, während die Adern an seinem Hals deutlich hervortraten. Die Muskeln an seinen dünnen, sehnigen Armen spannten sich an, sein Kiefer bewegte sich verbissen hin und her. Überhaupt wirkte er auf einmal wie verwandelt, gerade so, als sei er erst jetzt so richtig erwacht. Als er den Fisch nahe genug an das Boot herangezogen hatte, rief er nach Leon und wies ihn an, ihm zu helfen. Leon packte die Stange, an deren Ende ein Haken befestigt war, und versuchte, den Fisch heranzuholen. Aber der Fisch leistete erbitterten Widerstand, so dass es ihm erst nach zahlreichen, vergeblichen Versuchen gelang, den Haken in dessen Flanke zu schlagen und ihn - zusammen mit Immanuel - an Bord zu ziehen. Immanuel nahm eine Keule zur Hand und schlug dem Fisch mit einem gezielten Schlag auf den Kopf, so dass sich dieser nicht mehr bewegte. Er öffnete eine Luke, unter der sich eine mit Eis gefüllte Kiste befand, schleifte den Fisch über das Deck und liess ihn in die Kiste plumpsen. Dann schloss er die Luke, wischte sich den Schweiss von der Stirn, setzte sich auf eine Kiste, brachte eine Flasche zum Vorschein und nahm einen grossen Schluck.

      "Den hätte ich alleine nicht geschafft!", keuchte er und reichte Leon die Flasche, während er einen prüfenden Blick auf die anderen Ruten warf. Leon setzte sich zu ihm hin, nahm die Flasche dankbar entgegen und kostete den durchsichtigen Inhalt. Der Schnaps war so scharf, dass er nicht darum herum kam, das Gesicht zu verziehen, doch trank er jedesmal mit, wenn ihm Immanuel die Flasche reichte - einerseits wollte er den alten Mann nicht verärgern, andererseits genoss er die beruhigende Wirkung, die sich schon bald in seinem Körper ausbreitete. Und auch Immanuel taute zusehends auf. Seine Gesichtszüge entspannten sich, seine Augen wurden klarer und seine Zunge leichter. Er erzählte von seiner Kindheit, vom Dorf mit der stolzen Fischerflotte, vom Markt, der weit herum bekannt gewesen war, von den Frauen, die das Dorf bewohnt hatten und von der einen mit den lieblichen, roten Wangen, die er geheiratet hatte. Er schien es richtiggehend zu geniessen, dass ihm jemand zuhörte, doch hielt seine Hochstimmung nicht sehr lange an. Je weiter die Sonne in den Himmel stieg, desto kürzer wurden seine Geschichten. Je länger sie auf den nächsten Fang warten mussten, desto geringer wurde seine Begeisterung, und als er den mächtigen Kutter entdeckte, der gar nicht so weit entfernt an ihnen vorüberfuhr, war seine gute Laune endgültig verflogen.

      "Diese verdammten Schweine!", zischte er, erhob sich von seiner Kiste und stellte sich an die Reling. "Sie haben ihre Arbeit erledigt. Ihre Kisten sind gefüllt, ihre Gier ist befriedigt. Wenn sie so weitermachen, gibt es hier bald nichts mehr zu fangen, dann müssen wir sehen, wo wir bleiben." Er krallte sich an der Reling fest, während er dem Kutter mit zornigen Augen hinterherschaute. "Und das Schlimmste ist, dass sie nicht auf uns hören! Es ist jedes Jahr dasselbe. Wir bringen unsere Anliegen vor und sie tun so, als ob sie uns verstünden. Sie versprechen, nächstes Jahr weniger zu fangen, aber am Ende verändert sich doch nichts. Am Ende sind wir doch wieder auf uns alleine gestellt, und die Fischereibehörde schaut dem Treiben tatenlos zu."

      Leon sass etwas beschämt auf seiner Kiste, und da ihm auf die Worte des alten Mannes keine Erwiderung einfiel, zündete er sich eine Zigarette an. Immanuel nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, die sich bereits zu zwei Dritteln geleert hatte, stellte sie wieder an die Reling und blickte zum Horizont, über dem ein paar Wolken erschienen waren. Die Unterseite der Wolken war flach und ihre Oberseite sah aus wie Blumenkohl, der langsam, aber stetig in den Himmel wuchs.

      "So sind sie, diese verdammten Schweine", sagte er verächtlich und ohne den Blick von den Wolken zu lösen, "sie wollen immer alles haben, und wenn sie haben, was sie wollten, wollen sie noch mehr." Er musste husten, würgte irgendetwas hervor, spuckte ins Meer und fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung über den Mund. "Ich hoffe, dass sie eines Tages an ihrer eigenen Gier ersticken!"

      V

      Als sie der Küste entgegenfuhren - sie hatten vergeblich auf einen weiteren Fang gewartet -, begann sich das Wasser im aufkommenden Wind zu kräuseln. Die Wolken erhoben sich rasch zu hohen Türmen, aus der Ferne rollten die ersten Donner heran. Immanuel war erneut in tiefes Schweigen versunken und stand wie versteinert am Steuerruder. Leon sass im Heck des Bootes und schaute gebannt auf die Wolken, die immer weiter in den Himmel stiegen. Als er noch klein war, hatte er die Gewitter geliebt, die in regelmässigen Abständen über die Stadt gefegt waren. Er hatte stundenlang am Fenster gesessen und beobachtet, wie die Blitze durch den Himmel gezuckt waren. Aber jetzt, auf hoher See, wurde ihm doch etwas mulmig zumute - zumal das Licht seine Schärfe verloren hatte und die Welt in ein unbestimmtes Grau hüllte. Die Wolken schoben sich über das Boot, während die ersten, schweren Regentropfen auf das Deck klatschten. Leon gesellte sich zu Immanuel in den Aufbau, bald darauf goss es wie aus Kübeln. In der Ferne zuckten Blitze durch das Dämmerlicht, die Wellen wurden höher und schlugen mit zunehmender Wucht gegen den Rumpf des Bootes.

      "Ich muss die Sturmlampe einschalten!", rief Immanuel unvermittelt, "kannst du das Ruder für einen Moment übernehmen?"

      "Die Sturmlampe?", rief Leon zurück.

      "Die Sturmlampe!", bestätigte Immanuel und deutete nach oben, worauf ihm Leon verwundert in die Augen sah.

      "Du willst aufs Dach klettern?"

      "Mir bleibt wohl nichts anderes übrig!"

      "Lass mich das machen!", rief Leon und wartete Immanuels Einwand gar nicht erst ab. Obwohl das Boot bedrohlich hin- und herwankte, gelang es ihm, auf das Dach des Aufbaus zu klettern. Er fand die Lampe, die an einem kurzen Mast befestigt war, betätigte den Schalter und schaute zu, wie das Licht aufglomm. Dann ging alles sehr schnell. Er hörte ein Rauschen, schaute sich um und sah eine gischtspeiende Wand, die auf ihn zurollte. Er wollte sich ducken, um sich festzuhalten, aber die Welle hatte das Boot erreicht, bevor er das Gerüst des Daches zu fassen bekam. Er wurde mitgerissen, ins Meer gespült und nach unten gezogen. Er schluckte Wasser, tauchte wieder auf und schlug verzweifelt mit den Armen, während er immer wieder nach Immanuel rief. Er sah das Boot, das auf den Wellen tanzte und sich rasch von ihm entfernte, und er sah Immanuel, der vergeblich versuchte, das Boot in seine Richtung zu lenken. Er sah sein erschrockenes Gesicht und seine Lippen, die sich bewegten, aber er hörte nicht, was er ihm zurief. Es gelang ihm, sich auf eine Planke zu schieben, die neben ihm hertrieb, bevor eine weitere Welle über ihm zusammenbrach und ihn mitsamt der Planke nach unten drückte. Er tauchte auf, spuckte das Wasser aus, das er geschluckt hatte und krallte sich mit aller Kraft an die Planke. Das Boot entfernte sich immer weiter, schon bald war es aus seinem Sichtfeld verschwunden. Er starrte entsetzt auf die Stelle, an der er es zuletzt gesehen hatte, während die Wellen mit unverminderter Heftigkeit über ihm zusammenbrachen. Immer wieder rief er Immanuels Namen, doch seine Rufe blieben unbeantwortet, so dass er sich irgendwann darauf konzentrierte, sich über Wasser zu halten. Er trieb hilflos dahin, wurde hin- und hergeworfen, tauchte unter und wieder auf, unter und wieder auf. Ihm war kalt. Er zitterte am ganzen Körper, während er sich verzweifelt an seiner Planke festhielt. Die Zeit rann dahin, ohne dass die Heftigkeit der Wellen nachliess, so dass er irgendwann überhaupt nicht mehr daran glaubte, dass der Sturm jemals ein Ende fände. Dennoch riss er sich zusammen und kämpfte weiter, aber er merkte, dass ihn seine Kräfte allmählich verliessen. Er fühlte, dass er schwächer wurde, grub seine Fingerkuppen in die Oberfläche der Planke und sandte stumme Gebete in den Himmel. Er glaubte zwar nicht an Gott, aber immerhin halfen ihm diese Gebete, seine Gedanken einigermassen beisammenzuhalten. Irgendwann sah er ein Fass, das gleich darauf von den Fluten verschluckt wurde, und im nächsten Moment war er sich nicht mehr sicher, ob er das Fass tatsächlich gesehen oder ob er sich nur eingebildet hatte, es zu sehen. Die Wellen um ihn herum verschwammen zu einem einzigen, tosenden Wirbel, während ihm die Kälte, die seinen Körper erfasst hatte, immer häufiger den Atem nahm. Seine Sinne begannen, zu schwinden, und die letzte Empfindung, an die er sich später erinnern sollte, war der salzige Geschmack, der seinen Mund ausfüllte.

      I

      Leon öffnete die Augen und blinzelte, das Blut in seinem Kopf pochte laut gegen die Schläfen. Zunächst nahm er seine Umgebung nur verschwommen wahr, ehe sich die Umrisse langsam