Daniel Sternberg

Die Insel


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      "Oh ja, wir fahren täglich hinaus, um zu fischen. Allerdings entfernen wir uns nicht sehr weit von der Küste."

      "Und seid ihr denn niemals weiter hinausgefahren? Ich meine, habt ihr euch denn nie gefragt, ob da draussen noch mehr ist?"

      "Nun, wir wissen, dass Ellenor da draussen liegt, soviel ist sicher. Aber ebenso sicher ist, dass diese Insel viel zu weit weg ist, als dass wir sie erreichen könnten."

      Leon seufzte und lehnte sich zurück. "Du meinst es ernst, nicht wahr?"

      "Oh ja, ich würde dich niemals belügen", erwiderte Elias und schaute ihn mit treuherzigen Augen an, "das ist die Wahrheit, so wahr ich hier sitze!"

      Leon verschränkte die Arme und schürzte die Lippen. "Dann werde ich dir das Gegenteil beweisen!"

      Elias runzelte die Stirn, senkte den Blick und betrachtete seine Hände, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. "Das ist dein gutes Recht", entgegnete er und schaute auf, "doch solange du auf Magnor weilst, musst du deine Pflichten erfüllen, genau wie alle anderen auch."

      "Meine Pflichten?", rief Leon und schob die Augenbrauen zusammen, "das wird ja immer schöner!"

      Elias schien die Ironie in seinen Worten überhört zu haben. "Nur wenn jeder seine Pflicht erfüllt, kann das Leben auf Magnor ordnungsgemäss ablaufen. Es ist sehr wichtig, dass sich jeder daran hält!" Er knetete eine Weile seine Hände, schaute auf und sah Leon fest in die Augen. "Es gibt insgesamt drei Pflichten, die zu erfüllen sind. Die erste betrifft die tägliche Arbeit, zu der alle Männer verpflichtet sind, ob im Wald, auf dem Feld oder auf dem Wasser. Es geht darum, genügend Nahrung für das Dorf zu beschaffen." Er machte eine Pause, um sich zu vergewissern, ob Leon verstanden hatte. Leon sass mit verschränkten Armen auf seinem Stuhl, halb belustigt und halb verärgert über die Selbstverständlichkeit, mit der er in das Inselleben eingebunden wurde, war aber nicht in der Lage, etwas zu erwidern. "Die zweite Pflicht betrifft das Rad", fuhr Elias fort, "eine Pflicht, die für die Neuankömmlinge nicht so einfach zu verstehen ist. Sie ist aber nicht weniger wichtig. Es geht darum, das Rad in Bewegung zu halten, denn das Rad darf niemals ruhen!" Er legte erneut eine Pause ein und sah Leon prüfend in die Augen, bevor er seine Einweisung fortsetzte. "Und die dritte Pflicht besteht darin, diesen Armreif zu tragen", er deutete auf den metallenen Reif an seinem rechten Handgelenk, "der dazu dient, den Blutzoll aufzufangen."

      Leon weitete die Augen und schaute befremdet auf den Reif an Elias' Handgelenk. "Den Blutzoll?", fragte er, das Wort absichtlich in die Länge ziehend.

      "Den Blutzoll", wiederholte Elias ungerührt, "er dient als Opfer für Theodon, unseren König. Das Blut soll ihn milde stimmen und ihn dazu bewegen, uns eines Tages nach Ellenor zurückzuführen."

      Leon sass eine Weile sprachlos am Tisch, während er immer wieder ungläubig den Kopf schüttelte. Bisweilen lächelte er, dann wurde er wieder ernst, und es dauerte eine ganze Weile, bis er seine Sprache wiederfand.

      "Das ist alles?", fragte er schliesslich mit gespielter Freundlichkeit.

      "Das ist alles", bestätigte Elias.

      "Und was geschieht, wenn ich meine Pflichten nicht erfülle?"

      Elias senkte den Blick und drehte den Stock, den er zwischen seine Knie geklemmt hatte, zwischen den Fingern. "Dann bekommst du auch nichts zu essen", erwiderte er und schaute etwas verlegen zu ihm auf, "es tut mir leid, aber das Leben auf der Insel funktioniert nur, wenn jeder seinen Teil dazu beiträgt. Ich hoffe, du kannst das verstehen."

      Leon war nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Er sass mit geöffnetem Mund auf seinem Stuhl und betrachtete den Mann, der ihm gegenüber sass, während er sich fragte, wo in aller Welt er hier gelandet war.

      "Es tut mir leid, aber so sind die Regeln", setzte Elias hinzu, erhob sich von seinem Stuhl und bemühte sich um ein Lächeln, "doch heute Abend bist du herzlich eingeladen, mit uns zu speisen."

      III

      Am nächsten Morgen wurde Leon von einem Klopfen aus dem Schlaf gerissen. Er öffnete die Augen, hob den Kopf und starrte in die Dunkelheit. Er rieb sich verwirrt die Augen, erkannte die aus Steinen geschichteten Mauern, die ihn umgaben, und wurde sich allmählich bewusst, dass er sich ja auf dieser seltsamen Insel befand. Es klopfte abermals, diesmal lauter und härter. Er gähnte, schlug das Laken zurück, raffte sich auf und wankte zur Tür. Als er die Tür öffnete, erblickte er Elias, der soeben dazu ansetzte, seinen Stock ein drittes Mal gegen die Tür zu schlagen.

      "Guten Morgen", sagte Elias und schaute prüfend zu ihm auf, "hast du gut geschlafen, junger Mann?"

      "Unruhig", erwiderte Leon und blinzelte über Elias hinweg. Das Dorf lag still und friedlich im Dämmerlicht, die Sonne war noch nicht aufgegangen.

      "Da fällt mir ein, dass du mir deinen Namen noch gar nicht genannt hat. Wie heisst du denn, junger Mann?"

      "Mein Name ist Leon."

      "Ah, Leon, ein ungewöhnlicher Name. Bei uns trägt ihn niemand, aber er gefällt mir. Oh ja, er gefällt mir. Und bevor ich es vergesse: das ist für dich."

      Der alte Mann war trotz der frühen Morgenstunde schon hellwach und überreichte Leon zwei Hosen, zwei Unterhosen und zwei Hemden. "Zum Wechseln", fügte er hinzu und zwinkerte mit dem Auge, "schliesslich willst du ja nicht immer in den gleichen Kleidern herumlaufen."

      Leon hob ablehnend die Hände. "Vielen Dank", sagte er, "aber die brauche ich nicht. Ich werde nicht lange bleiben."

      Elias legte seine Stirn in Falten, schaute Leon vorwurfsvoll an, bückte sich und legte die Kleider auf die Türschwelle. "Du wirst sie brauchen, das kannst du mir glauben. Aber jetzt müssen wir los, zur Arbeit, ich habe dich den Fischern zugeteilt. Sie können eine neue Arbeitskraft gebrauchen, sie stechen schon bald in See, und sie ..."

      "Ich werde hier nicht bleiben!", unterbrach ihn Leon, "und ich werde hier nicht arbeiten!"

      Als er merkte, dass er den Alten angeschrien hatte, hielt er sich beschämt die Hand vor den Mund und murmelte ein paar entschuldigende Worte. Denn irgendwie mochte er diesen Elias, auch wenn seine Sturheit kaum zu überbieten war.

      "Ich möchte dich darum bitten", fuhr er mit gedämpfter Stimme fort, "mich mit einem eurer Boote aufs Festland zu bringen. Das Festland liegt im Osten, wir fahren ganz einfach nach Osten, dann können wir die Küste unmöglich verfehlen."

      Elias machte einen Schritt zurück und kratzte sich lange in seinem schlohweissen Haar, während er Leon mit schräg geneigtem Kopf betrachtete. "Ich weiss nicht, was ich noch tun kann, damit du mir endlich glaubst", erwiderte er schliesslich, "es ist so, wie ich es dir gesagt habe: Es gibt kein Festland, und du wirst auch niemanden finden, der mit dir aufs Meer hinausfährt."

      Leon schüttelte den Kopf und lachte auf, obwohl ihm gar nicht danach zumute war. "Du meinst es tatsächlich ernst. Ich kann das gar nicht glauben, aber du wirst dich noch wundern. Ich werde dich schon sehr bald vom Gegenteil überzeugen!"

      Elias senkte den Blick und betrachtete seinen Stock, der über den felsigen Boden kratzte. "Also kommst du nicht mit uns zur Arbeit?"

      "Nein", entgegnete Leon trotzig und verschränkte die Arme über der Brust, "ich werde jetzt jemanden suchen, der mich aufs Festland bringt."

      IV

      Die Sonne hatte sich soeben aus dem Meer erhoben und überflutete den Dorfplatz mit ihrem kristallklaren Licht. Aus den Feuerstellen stiegen noch vereinzelte Rauchfäden in den Himmel, die Kessel waren verschwunden. Die morgendliche Stille wurde nur von den Schreien der Vögel durchbrochen, die über der Küste kreisten. Die Männer standen in Gruppen beisammen und schienen auf irgendetwas zu warten, Frauen und Kinder waren nicht zu sehen. Leon näherte sich einer Gruppe, die offenbar zu den Fischern gehörte - einige der Männer hatten Angelruten dabei, und in ihrer Mitte lag ein grosses, zusammengefaltetes Netz.

      "Guten Morgen", sagte er, trat zu ihnen