Daniel Sternberg

Die Insel


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ein und begab sich wieder auf seinen Aussichtsplatz. Aber auch am Nachmittag wartete er vergeblich darauf, dass etwas geschah. Die Sonne wanderte ungerührt über den Himmel, und je mehr Zeit verging, ohne dass er ein Schiff entdeckte, desto unruhiger wurde er. Was hätte er gegeben für eine Zigarette oder ein kühles Bier, so aber blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit seinen Gedanken herumzuschlagen. Er haderte mit seinem Schicksal und fragte sich, warum es ihn ausgerechnet auf diese Insel geführt hatte, zu diesen Menschen, die in einfachen Steinhäusern lebten und sich nur um sich selber kümmerten. Denn schliesslich war er ausgezogen, um sein Glück zu suchen, und er bezweifelte, dass es ausgerechnet auf dieser Insel zu finden war.

      Die einzige Abwechslung, die sich ihm darbot, war ein kurzer, aber heftiger Regenschauer, der sich über dem Berg entlud. Der Regen fiel etwa zur gleichen Zeit wie am Tag zuvor, doch befand Leon sich jetzt an der Küste und bekam nur ein paar Tropfen davon ab. Als der Regen vorüber war, überprüfte er das Holz, das er aufgeschichtet hatte, und stellte erleichtert fest, dass es mehrheitlich trocken geblieben war. Er setzte sich wieder hin und wartete. Aus dem Dorf interessierte sich kaum jemand für ihn. Vor einem Haus am Rand des Dorfes waren ein paar Frauen damit beschäftigt, Korn zu mahlen. Ab und zu schauten sie zu ihm herüber, wie um sich zu vergewissern, dass er noch da war, aber zu mehr schien ihr Interesse nicht zu reichen. Auch die Frauen, die gelegentlich vorbeikamen, um das gemahlene Korn abzuholen, beachteten ihn kaum, nur die Kinder, die spielend um die Häuser zogen, blieben gelegentlich stehen, tuschelten, zeigten mit dem Finger auf ihn und verschwanden hinter der nächsten Ecke. Umso erstaunter war Leon, als sich gegen Abend vom Dorf her ein Mann näherte. Er war klein und stämmig, und als er bei ihm ankam, keuchte er deutlich hörbar. Sein Gesicht glänzte, der Schweiss lief ihm über die fleischigen Wangen und das Doppelkinn. Er blieb stehen, strich sich mehrmals über seinen Dreitagebart und atmete durch.

      "Mein Name ist Arwin", begann er keuchend, "ich bin dein Nachbar, und ich..., ich wollte dir nur sagen, dass es besser wäre, wenn du arbeiten würdest."

      Leon schob die Augenbrauen zusammen. "Für wen wäre es besser?"

      Arwin schaute auf das Meer hinaus, während er sich in seinem Bart kratzte. "Für alle", entgegnete er und wandte sich wieder an Leon, "es ist wichtig, dass die Regeln eingehalten werden. Wir müssen zusammenhalten, und wir ...", er machte eine Pause, während der er sich die nächsten Worte zurechtlegte, "... und schliesslich ist es auch für dich das Beste, du musst doch hungrig sein, und wenn du nicht arbeitest, wirst du auch kein Essen bekommen."

      Leon schaute Arwin fest in die Augen. "Ich werde nicht lange bleiben, du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen."

      Arwin presste die Lippen zusammen, senkte den Blick und scharrte mit dem Fuss über den Boden, sagte aber nichts mehr.

      "Du kannst mich nicht zufällig aufs Festland bringen?", fragte Leon.

      "Aufs Festland?", fragte Arwin zurück, schaute auf und legte die Stirn in Falten.

      "Aufs Festland. Die grosse Insel im Osten, die direkt vor eurer Nase liegt."

      "Es..., da ist keine Insel, es gibt nur ..."

      "Ist schon gut", unterbrach ihn Leon, "vergiss es einfach."

      Arwin rieb sich den Nacken und schien nachzudenken, als sein Blick auf Leons Füsse fiel. "Was in Theodons Namen hast du mit deinen Füssen gemacht?"

      "Ach, meine Füsse. Ich habe einen kleinen Spaziergang unternommen."

      "Einen Spaziergang?", rief Arwin und weitete die Augen, "warum..., wer macht denn so was?"

      Als er keine Antwort erhielt, schüttelte er den Kopf und lief davon, kam aber kurze Zeit später wieder zurück. Keuchend zog er ein Töpfchen aus seiner Hemdtasche, öffnete den Deckel und deutete auf die gelbliche Paste, die sich darin befand. "Damit werden deine Füsse schneller verheilen. Die Salbe sorgt dafür, dass sich deine Wunden nicht weiter entzünden."

      Er überreichte ihm das Töpfchen und schickte sich an, zu gehen. "Und morgen gehst du zur Arbeit, versprochen?"

      Leon schaute seinem Nachbarn in die Augen und presste die Lippen zusammen. Irgendwie mochte er den Kerl mit dem gutmütigen Blick, konnte sich aber trotzdem nicht zu einer Antwort durchringen. "Vielen Dank für die Salbe!", sagte er stattdessen und sah zu, wie sich Arwin von ihm entfernte.

      "Ach, Arwin, du...", Arwin drehte sich noch einmal um, "...du hast nicht zufällig ein wenig Tabak?"

      Arwin schaute ihn fragend an. "Tabak?"

      "Tabak", bestätigte Leon, "das Kraut, das man rauchen kann." Er presste Daumen und Zeigefinger gegeneinander, als würde er eine unsichtbare Zigarette halten, führte diese zu seinem Mund und sog daran.

      Arwin schaute ihn verständnislos an. "Ein Kraut, das man rauchen kann?"

      Leon winkte ab. Er hatte ganz vergessen, dass auf dieser Insel offensichtlich einiges anders war und dass es hier so etwas wie Tabak wahrscheinlich gar nicht gab.

      "Ist schon gut, vergiss es. Und nochmals vielen Dank für die Salbe!", sagte er, worauf Arwin kopfschüttelnd zum Dorf zurückkehrte.

      IX

      Die folgenden Tage verbrachte Leon vorwiegend an seinem Aussichtsplatz an der Küste. Stundenlang beobachtete er das Meer, ohne auch nur ein einziges Schiff zu entdecken - einmal abgesehen von den Booten der Inselbewohner, die sich vor der Küste tummelten. Flugzeuge sah er ebenfalls keine, die Welt, die er kannte, blieb ganz einfach verschwunden. Und auch seine Ausflüge brachten keine neuen Erkenntnisse. Sobald die Entzündung an seinen Füssen abgeklungen war, besuchte er die Nachbardörfer, die ebenfalls an der Küste lagen und ähnlich aussahen wie sein eigenes - eine Ansammlung einfacher Steinhäuser, die sich um einen zentralen Platz formierten. Er fragte die Menschen, die dort wohnten, nach dem Festland, oder ob sie bereit wären, ihn mit ihren Booten nach Osten zu fahren. Doch die Antworten blieben dieselben. Niemand hatte je etwas vom Festland gehört, und mit den Booten auf das Meer hinauszufahren, kam für sie überhaupt nicht in Frage. Auch sie gaben sich sehr verschlossen, genau wie die Menschen in seinem eigenen Dorf - es schien dies eine Eigenheit aller Inselbewohner zu sein. Sie vertieften sich mit beinahe heiligem Eifer in ihre Arbeit und waren froh, wenn sie nicht gestört wurden. Ihre Gesichter waren ernst, manchmal sogar verbissen, ihre Blicke meist freudlos und leer. Sie sprachen wenig und lachten selten, gerade so, als würde irgendetwas auf ihren Seelen lasten. Vielleicht hatte es etwas mit ihrem Glauben zu tun, mit dem König, den Elias erwähnt hatte und mit dem Blutsopfer, das diesen König dazu bewegen sollte, sie auf ihre Heimatinsel zurückzuführen. Vielleicht war diese Heimatinsel so etwas wie das Paradies, in dem das Leben sehr viel angenehmer war. Vielleicht glaubten sie tatsächlich an solche Geschichten - und auch wenn es für Leon nur schwer verständlich war, hätte ein solcher Glaube gut zu ihrer unzeitgemässen Lebensweise gepasst.

      Leon hatte nie an solche Geschichten geglaubt. Er glaubte, was er mit seinem Verstand überprüfen konnte, und damit war er immer sehr gut gefahren. Insgeheim belächelte er die Inselbewohner um ihren Glauben, auch wenn ihn das Monument an der Küste ziemlich beeindruckt hatte. Er war ein wenig ausserhalb des Dorfes darauf gestossen, als er sich auf den Weg gemacht hatte, um die Nachbardörfer zu besuchen. Das Monument war vollständig aus dem Fels gehauen, und es war ziemlich gross. Ein hüfthohes, liegendes Rad mit insgesamt zwölf dicken Speichen bildete den Sockel, wobei der Durchmesser des Rades ungefähr fünf Meter betrug. In der Mitte des Rades sass eine übergrosse Blüte - drei grosse und drei kleine Blütenblätter reckten sich in den Himmel und schlossen sich zu einem riesigen Kelch. Die Oberfläche der Blätter war so kunstvoll geschliffen, dass es den Anschein machte, sie seien von Leben durchdrungen. Leon war eine ganze Weile vor dem Monument gestanden und hatte gestaunt - der Glaube der Inselbewohner musste in der Tat ein sehr starker sein. Ob dieser Glaube aber tatsächlich der Grund für ihre Schwermut war, konnte er nicht sagen, zumal sie sich meist von ihm fernhielten. Der Einzige, der sich dann und wann um ihn kümmerte, war Arwin, sein Nachbar. So brachte er ihm eine Seife - einen rötlichen, schmierigen Klumpen, der erstaunlich gut roch - und zeigte ihm die Stelle im Bach, wo sich die Dorfbewohner zu waschen pflegten. Oder er zeigte ihm, wo