Daniel Sternberg

Die Insel


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ein Boot entdecken, geschweige denn eine Insel oder gar das Festland. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Der Berg war - so schätzte er - mindestens zweihundert Meter hoch, und sein Gefühl sagte ihm, dass er von diesem Punkt aus das Festland ganz sicher hätte entdecken müssen. Ausserdem war er, als er mit Immanuel hinausgefahren war, an zahlreichen Inseln vorbeigekommen. War es möglich, dass ihn der Sturm so weit ins Meer hinausgetragen hatte? Weit weg vom Festland, weit weg von allen anderen Inseln? Er konnte es sich nicht anders vorstellen, und vielleicht war das auch eine Erklärung, warum die Inselbewohner noch nie etwas vom Festland gehört hatten. Und dennoch kam es ihm seltsam vor, genau wie das Licht, das ihm irgendwie anders erschien als gewohnt, heller und schärfer. Es leuchtete die Welt bis in jede Kleinigkeit aus und liess sie in überaus kräftigen Farben erstrahlen - gerade so, als hätte er bisher einen Sehfehler gehabt und trüge nun auf einmal eine Brille.

      Er wischte sich den Schweiss von der Stirn und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Insel. Sie war erstaunlich rund, wie mit dem Zirkel gezogen. An der Küste erkannte er - in bemerkenswert regelmässigen Abständen - insgesamt zwölf Dörfer, alle von ungefähr derselben Grösse, alle an einem Bach gelegen. Dann folgten weitläufige Wiesen und weiter innen der Wald, der sich bis an den Fuss der Berges erstreckte. Der Berg befand sich genau in der Mitte der Insel, so dass sich ein harmonisches, abgerundetes Bild ergab. Vielleicht etwas zu harmonisch. Er setzte sich hin und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Stein, während er vorsichtig die Sohlen seiner Füsse betastete, an denen sich Blasen gebildet hatten. Er seufzte, streckte die Beine von sich und schaute müde auf das Meer hinaus, doch zeigte sich den ganzen Nachmittag über kein einziges Schiff. Als die Hitze schon ein wenig nachgelassen hatte, zogen auf einmal dunkle Wolken auf und ballten sich über dem Gipfel des Berges zusammen. Es begann so unvermittelt zu regnen, als wäre ein grosser, unsichtbarer Duschkopf angedreht worden. Leon strich sich die nassen Haare aus der Stirn, schaute ungläubig nach oben, erhob sich von seinem Platz und machte sich an den Abstieg.

      VII

      Es war schon fast dunkel, als Leon das Dorf erreichte. Es hatte aufgehört zu regnen. Seine Kleider waren längst wieder trocken, aber seine Füsse schmerzten. Einige der Blasen waren geplatzt, so dass er kaum mehr gehen konnte. Er hatte mehrere Pausen eingelegt, um die Füsse im nahen Bach zu kühlen, hatte dadurch aber nur eine kurzzeitige Linderung erfahren. Zudem war er vom Hunger gequält worden. Er hatte noch mehr von den Brombeeren gegessen, später auch ein paar wilde Birnen, doch vermochten die Früchte seinen Hunger nicht wirklich zu stillen. Sein Magen knurrte, als er auf den Dorfplatz gelangte. Vor den Feuerstellen hatten sich lange Schlangen gebildet, aus den Kesseln, die in den Gluten standen, stieg ein leckerer Geruch in den Abendhimmel. Bei jedem Kessel stand eine Frau mit einem Schöpflöffel und füllte die Schalen, die ihr entgegengestreckt wurden. Leon schaute den Frauen eine ganze Weile zu, während er bemerkte, dass ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Dann ging er zu seiner Hütte, holte die Schale, die er am Vorabend in seinem Gestell entdeckt hatte, lief eilends zurück und stellte sich in eine der Schlangen. Die Menschen, die mit ihm anstanden, warfen ihm befremdete Blicke zu und tuschelten miteinander, sagten aber nichts. Als er an der Reihe war, hielt er der Frau seine Schale hin, genau so, wie er es bei den anderen gesehen hatte. Die Frau bedachte ihn mit einem ausdruckslosen Blick und schüttelte den Kopf.

      "Nur wer arbeitet, bekommt etwas zu essen", sagte sie lakonisch und wandte sich dem nächsten zu. Noch bevor Leon etwas entgegnen konnte, wurde er vom Kessel fortgedrängt. Er warf den Menschen, die ihn wegstiessen, missbilligende Blicke zu und versuchte es bei einem anderen Kessel, doch auch dort wurde er abgewiesen. Er versuchte es ein drittes und ein viertes Mal, aber sein Unterfangen erwies sich als aussichtslos. Überall wurde er abgewiesen, alle schienen bereits zu wissen, dass er nicht gearbeitet hatte. Er gab sein Unterfangen auf und fühlte wieder diese Wut im Bauch, die ihn bereits am frühen Morgen erfasst hatte. Er schaute sich um und suchte nach Elias, um sich bei ihm zu beschweren, doch dieser war nirgends zu sehen. Er fand sich von lauter fremden Menschen umgeben, die um die Feuerstellen herumsassen und stumm aus ihren Schalen löffelten. Sie sprachen kaum miteinander, starrten in die Gluten, erhoben sich bisweilen, um ihre Schalen nachzufüllen. Leon wurde kaum beachtet, was ihn noch wütender machte. Sein Magen knurrte immer lauter, doch sein Stolz verbot ihm, bei jemandem um Essen zu betteln - eher würde er hungern, sagte er sich, als sich vor diesem unfreundlichen Volk zu erniedrigen. Er warf einen wütenden Blick in die Runde, wandte sich ab und kehrte zu seinem Haus zurück.

      VIII

      Als Leon am folgenden Morgen erwachte, drangen bereits die ersten Sonnenstrahlen durch die Fensterläden. Obwohl sein Körper nach dem Ausflug auf den Berg völlig entkräftet gewesen war, hatte er fast die ganze Nacht hindurch wach gelegen. Sein Geist war einfach nicht müde geworden. In der Ferne hatten Wölfe geheult, ausserdem war er vom Hunger geplagt worden. Er gähnte, rieb sich die Augen und erhob sich von seinem Bett, als er einen brennenden Schmerz verspürte, der von seinen Füssen ausging. Er humpelte zum Fenster, öffnete die Läden und setzte sich auf einen Stuhl. Im Licht des neuen Tages betrachtete er seine Fussohlen. Sie waren geschwollen, die meisten Blasen waren geplatzt, und die Haut hatte sich an manchen Stellen gerötet. Er seufzte, holte einen Krug aus dem Gestell und humpelte damit zum nahen Bach. Er trank ausgiebig, füllte den Krug, kühlte die Füsse und kehrte zu seinem Haus zurück. Er stellte den Krug auf den Tisch und machte sich daran, die Gegenstände, die sich in seinem Gestell befanden, zu untersuchen. Er fand mehrere hölzerne Schalen, zwei Löffel, die ebenfalls aus Holz gefertigt waren, ein Messer, Krüge, Kerzen, zwei kleine Körbe und einen grossen Korb, den man sich auf den Rücken schnallen konnte. Auf dem untersten Brett hatte er seine alten, zerrissenen Kleider verstaut. Er durchsuchte sie und fand seine Ausweispapiere, die immer noch feucht waren. Er faltete die Papiere auseinander und legte sie auf das Fensterbrett, um sie zu trocknen. Er war überzeugt, dass er sie bald wieder gebrauchen würde, schliesslich hatte er gesehen, dass es auf der Insel noch weitere Dörfer gab - und dass die Menschen in diesem Dorf nichts vom Festland wissen wollten, hiess noch lange nicht, dass es die anderen Menschen genauso sahen. Da aber mit seinen wunden Füssen an einen weiteren Ausflug nicht zu denken war, beschloss er, sich erst einmal an die Küste zu setzen und Ausschau zu halten nach einem Schiff. Er wusste, dass sich vor der Westküste des Kontinents zahlreiche Schiffe tummelten. Mit eigenen Augen hatte er sie gesehen, die Fischerboote, die Frachtschiffe und die Tanker, und eigentlich konnte es nicht sehr lange dauern, bis eines davon in die Nähe der Insel käme.

      Sein Haus lag am äussersten Rand des Dorfes, und gar nicht so weit entfernt, in einer flachen Mulde, entdeckte er ein kleines Wäldchen. Er suchte Reisig und trockenes Holz zusammen, schnitt ein paar frische Zweige, packte alles in den Korb, den er mitgebracht hatte, schnallte sich den Korb auf den Rücken und humpelte damit zur Küste. Nachdem er einen Platz ausgesucht hatte, der ein wenig erhöht lag und von dem aus man weite Teile der Küste überblicken konnte, schichtete er das Holz auf das Reisig und legte die grünen Zweige daneben. Sobald ein Schiff auftauchen würde, so nahm er sich vor, würde er auf dem Dorfplatz ein brennendes Scheit holen, das Feuer entzünden, die grünen Zweige auflegen und darauf hoffen, dass das Schiff auf den Rauch, der dadurch entstünde, aufmerksam würde. Er setzte sich auf einen Stein und beobachtete abwechslungsweise das Meer und die Vögel, die über der Küste kreisten, sich in die Höhe schraubten, spitze Schreie ausstiessen und niederstachen, um sich ihre Beute aus dem Wasser zu holen. Ab und zu erhob er sich, vertrat sich die Beine und untersuchte die Umgebung seines Aussichtsplatzes. Er ging bis an den Rand der Klippen, die fast senkrecht abfielen, beugte sich vor und schaute hinab. Er sah die Nester, die sich auf den schmalen Felsabsätzen befanden, und beobachtete die Vögel, die diese Nester anflogen, ihre Jungen fütterten und kurze Zeit später wieder verschwanden. Aber die Vögel vermochten seine Aufmerksamkeit nicht sehr lange zu fesseln, so dass er sich jeweils bald wieder hinsetzte und den ganzen Vormittag über vergeblich darauf wartete, dass am Horizont ein Schiff auftauchte.

      Es wurde Mittag, die Sonne brannte und sein Hunger wuchs. Als er es nicht mehr aushielt, schnallte er sich den Korb auf den Rücken und suchte erneut das Wäldchen auf. Er fand einen Baum mit wilden Birnen - von derselben Art, von der er am Tag zuvor gegessen hatte - und ass, soviel er konnte. Nachdem er den Korb mit weiteren Birnen gefüllt