Gabriele Schillinger

Eine mysteriöse Entführung


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Karls Kinder füllten die Räume mit lautem Geschrei. Ständig krabbelte ihr ein kleines um die Beine und wollte sich hochziehen. Der Geruch von vollen Windeln biss in der Nase. Helene versuchte die Kinder nicht zu beachten. Schließlich mochte sie Kinder, wenn sie ihr ins Herz schlichen, würde sie vielleicht weich und hätte zu wenig Kraft für den Scheidungskrieg. Es dauerte nicht lange und die dazugehörigen Mütter saßen im Wohnzimmer. Sie zickten sich gegenseitig an, stritten wer das klügste Kind hatte und zu welchem sich Karl am stärksten hingezogen fühlte.

      Am liebsten wäre Helene aus dem Haus ausgezogen. Die Rechtsanwältin jedoch riet ihr davon ab, weil sie ansonsten alle Rechte auf das Haus verlieren könnte. Also blieb ihr nichts anderes übrig als sich vorwiegend in ihrem Zimmer aufzuhalten.

      Vor Gericht bestritt Karl Helenes volle Mitarbeit am Unternehmen und dass sie die Firma damals mit ihm aufgebaut hatte. Weil sie zur Gründung der Spedition noch nicht verheiratet waren und die offiziellen Dinge nur auf Karls Namen liefen, fiel Helene schließlich um jegliche Firmenansprüche um. Karl setzte alle Hebel in Bewegung, um Helene zum Rückzug des Scheidungsantrages zu zwingen. Irgendwann reichte es dem Richter und er sprach das Urteil aus. Karl war verpflichtet Helene Unterhalt zu zahlen und ihr eine Wohnung zu organisieren. Abfindung bekam sie keine, weil sie offiziell lediglich als Teilzeitkraft beschäftigt war, da musste sich der Richter leider nach den vorliegenden Fakten richten.

      Da Karl immer noch daran festhielt, Helene das Leben schwer zu machen, suchte er eine Bleibe von der er genau wusste, dass sie sich nicht wohl fühlen würde. Er war sicher, sie könnte nicht ohne ihn überleben, war sogar davon überzeugt, sie würde eines Tages vor seiner Türe stehen und ihn anflehen, wieder nach Hause kommen zu dürfen. Im Notfall müsste er halt nachhelfen …

      Ein neuer Schritt im Leben

      Nachdenklich blickte Helene aus dem Fenster. Die kleine Wohnung war nicht ihre erste Wahl gewesen. Ein runtergekommener Wolkenkratzer in einen Vorort, den sie zuvor noch nie betreten hatte. Zwei alte Aufzüge, welche nicht nur ständig kaputt waren, sondern auch schmutzig. Manchmal hatte Helene sorge, sie könnte sich darin eine Krankheit holen, doch sie musste 18 Stockwerke hoch, was zu Fuß sehr anstrengend war. Bei der Wohnungstüre war ein Spalt, durch den sie das Licht im Stiegenhaus sehen konnte. Wenn jemand vorbeiging und gerade eine Zigarette rauchte, qualmte der Geruch durch den Schlitz. Die Nachbarn waren laut. Ein Paar stritt ständig, schien sich Dinge nachzuwerfen und dann gab es eine hörbare Versöhnung. Auf der anderen Seite der Wohnung schrie die ganze Nacht ein Baby, oberhalb hüpften mehrere Kinder rücksichtslos herum und unter ihr wohnte ein junger Mann mit einem eigenwilligen, viel zu lauten Musikgeschmack. Ganz zu schweigen von seinem stets offenen Fenster aus dem sich Cannabisgeruch schlich.

      Also alles zusammen eine richtig ungemütliche Wohnung …

      Helene musste vorsichtig sein, damit sie nicht wieder in eine Depression fällt. Der Richter verpflichtete Karl auch ihre Therapiestunden zu zahlen, solange sie notwendig waren. Obwohl ihm die Zahlung widerstrebte, überwies er zuverlässig das Geld.

      Ed hatte Helene beim Umzug geholfen. Da sie, außer persönlichen Dingen, nichts aus dem Haus mitnahm, ging es eher um den Transport der neuen Möbel und deren Aufstellung. Am letzten Tag bestellten sie chinesisches Essen und tranken eine Flasche Rotwein dazu. An diesem Abend wollte Ed sein Glück versuchen. Er zog Helene vorsichtig an sich und küsste sie. Doch Helene erwiderte nicht, schob ihn zur Seite ohne Gewalt anzuwenden. Ed war ihr zwar ans Herz gewachsen, aber nur als guter Freund oder Bruder, nicht als Liebhaber. Insgeheim hatte sie schon lange Angst vor diesem Augenblick, denn ihr entgingen seine Gefühle für sie nicht. Die beiden schauten sich mit Tränen in den Augen an. Jeder von ihnen wusste, dass ab diesem Zeitpunkt keine normale Freundschaft mehr möglich war. Ed kippte sein Glas Wein aus, umarmte Helene noch einmal und ging. Obwohl nun alle Möbel in der Wohnung waren, wirkte der Raum unendlich leer. Helene sackte auf das Sofa, schlug sich die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Ed gab ihr in schwierigen Zeiten viel Halt. Warum musste er sich nur in sie verlieben?

      Die Tage vergingen langsam, der Fernseher lief nahezu rund um die Uhr. Beim Blick aus dem Fenster waren lediglich Unmengen kaputter Dächer zu sehen. Freundinnen waren keine mehr in Helenes Leben, die hatte Karl in den letzten Ehejahren alle vergrault. Immer, wenn eine zu Besuch war, kam er ihnen viel zu nahe. Die einen sprangen dann entweder mit ihm ins Bett oder ließen sich nicht mehr blicken. Andere wiederum entfernten sich während Helenes depressiver Phase. Und Ed … er fehlte ihr.

      Helene hatte die eigene Familie nie kennen gelernt. Ihre Mutter hatte sie als Baby bei einem Kinderheim vor die Türe gelegt. Bald darauf starb sie selbst an einer Überdosis Heroin. Vater hatte sie keinen angegeben und ihre Drogensüchtigen Freunde konnten auch keine Auskunft über den Erzeuger geben. Alle Nachforschungen, den Erzeuger zu finden, verliefen im Sand. Wahrscheinlich schwängerte sie damals einer ihrer Freier. Helenes Mutter bot angeblich öfter ihren Körper für Geld an, um sich Drogen kaufen zu können.

      Karls Eltern starben beide bei einem Flugzeugabsturz. Da sich in der Familie niemand fand, der ihn aufnehmen wollte, kam er im Alter von fünf Jahren in die gleiche Kindereinrichtung wie Helene. Die Tatsache, keine Familie zu haben, war einer der Gründe, weshalb sie sich von Anfang an gut verstanden. Viele der anderen Kinder hatten noch Eltern. Sie wurden denen aus unterschiedlichen Gründen zwar weggenommen, aber einige kamen immer wieder zu Besuch. Anfangs fühlten sie sich als Bruder und Schwester, doch mit dem Alter bemerkten sie, wie sehr sie sich voneinander angezogen fühlten. Als sie 18 Jahre alt wurden suchten sie eine gemeinsame Wohnung. Das Lehrgeld war nicht sonderlich hoch, aber eine kleine Unterkunft ging sich aus. Karl war bisher Helenes einziger Mann in ihren Leben.

      Um sich mehr leisten zu können, organisierten sie sich ein Fahrrad und fuhren am Wochenende Botengänge aus. Bald konnten sie den Führerschein finanzieren und ein gebrauchtes Auto kaufen. Karl führte nun größere Pakete aus. Dann folgten ein Lieferbus und schließlich ein Klein- LKW. Die Aufträge wurden immer mehr, sodass Karl seinen Job als Büromitarbeiter kündigte und sich selbständig machte. Helene kündigte ebenfalls ihre Arbeitsstelle, um im gemeinsamen Betrieb die Buchhaltung und die Koordinierung der Aufträge zu übernehmen. Das war der Beginn der Spedition, welche nun mit mehreren Sattelschleppern auch Länderübergreifend belieferte.

      Nun saß Helene nichts tuend in dieser kleinen Wohnung, in der sie sich trotz des Lärms der Nachbarn sehr einsam fühlte.

      Sie musste sich unbedingt eine Beschäftigung suchen. Ein Job musste her.

      Bald darauf bewarb sie sich auf mehrere Zeitungsinserate. Leider kamen viele Absagen zurück. Die einen meinten, sie wäre überqualifiziert, ein anderer wiederum bemängelte ihre Ausbildung, oder die längere Zeit im Krankenstand. Dann kam überraschend ein Anruf, in dem man sie bat, zu einem Bewerbungsgespräch zu kommen.

      Nervös stand sie vor dem Spiegel. Was zog man bei einem solchen Treffen überhaupt an?

      Natürlich war sie schon oft bei Firmenbesprechungen dabei, oder präsentierte vor dem Personal verschiedene Firmenerneuerungen, doch diesmal ging es um sie. In die Rolle eines Mitarbeiters zu schlüpfen war wahrhaft eine Herausforderung. Sie wollte sich weder dominant, noch wie ein kleines Mäuschen präsentieren, aber wie wirkte man einfach nur entschlossen?

      Da stand sie nun vor einem großen Pharmaziegebäude. Helene kannte die Firma bereits, denn sie war Kunde der Spedition. Hoffentlich würde sich dieser Umstand nicht als Nachteil herausstellen. Das Gespräch verlief überraschend gut. Obwohl der Personalchef genau wusste, wer Helene war, sprach er diese Tatsache nicht an.

      So wie es schien, suchten sie jemanden mit genau den Fähigkeiten, die Helene mitbrachte. Noch vor Ort bekam sie eine Zusage und in ein paar Wochen sollte sie mit ihrer Arbeit dort beginnen. Helene war sehr erleichtert, niemand gab ihr das Gefühl nur wegen Karl, oder aus Mitleid die Stelle bekommen zu haben.

      Es war ein tolles Gefühl wieder gebraucht zu werden. Beschwingt ging sie durch eine Einkaufsstraße. Spontan entschied sie sich mit einem Kleid zu belohnen. Ihre positive Laune steckte auch andere an und der Verkäufer schien förmlich mit ihr zu flirten.

      Als sie auf den Lift wartete um in ihre