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Christine Jörg
Geh in die Wueste
Ich vermisse dich
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Inhaltsverzeichnis
1
Als der Wecker um sechs Uhr läutet ist für es Ruth eine Erlösung. Sie hat sehr unruhig geschlafen. Hat sie überhaupt geschlafen? Sie fühlt sich wie gerädert.
Gestern Abend hatte sie Baldrianpillen eingenommen. Die Wirkung blieb jedoch aus. Das bildet sich Ruth zumindest ein.
Sie ist zu aufgeregt vor dem großen Treffen heute. Wie kann man sich mit sechsundvierzig noch so kindisch benehmen. Sie versteht sich selbst nicht. Trotzdem hat sie zu einem Treffen eingewilligt.
Schnell duscht sie und zieht sich an. Gestern hat sie bereits die Kleidung bereit gelegt. Eine Stunde hatte sie ratlos und suchend vor ihrem Kleiderschrank gestanden. Heute fragt sie sich, ob sie die richtige Kleidung ausgesucht hat, doch es bleibt keine Zeit nochmals von vorne anzufangen. Es muss passen. Ist auch besser so!
Obwohl sie keinen Hunger hat, zwingt sie sich eine Tasse Milch zu trinken und ein Marmeladenbrot zusammen mit der Milch hinunterzuwürgen. Sie hat es sich angewöhnt, nach Möglichkeit, nicht ohne Frühstück aus dem Haus zu gehen. Daran hält sie sich auch heute Morgen.
Zähne putzen. So, jetzt die Zahnbürste und Zahncreme in die Reisetasche und fertig!
Noch einmal macht sie eine Runde durch die Drei-Zimmer-Wohnung, kontrolliert ob alle Geräte ausgeschaltet sind. Dann nimmt sie den Schlüssel, ihre Reisetasche, die Handtasche und die Bauchtasche, oder Wimmerl, wie man so schön sagt, und verlässt die Wohnung. Sorgfältig verriegelt sie die Türe und begibt sich zu Fuß zum Bahnhof. Die große Reisetasche zieht sie auf Rädern hinter sich her.
*
In München ging sie früher auch immer zu Fuß oder fuhr mit U-Bahn und Bus. Auto hatte sie damals, während ihrer Studienzeit, keines. Sie hatte es auch nicht vermisst.
Ruth hat den Eindruck, dass ihr Leben erst im Frühjahr 1992 in München begann, damals als sie Fernando zum ersten Mal begegnete. Für Ruth war es Liebe auf den ersten Blick. Sie bildete sich sogleich ein der Liebe ihres Lebens begegnet zu sein.
Zum ersten Mal trafen sich die Beiden in der Kneipe La Peseta Loca. Für Ruth war es stets der Ort, an den sie Latinos treffen und gute lateinamerikanische Musik hören konnte.
Oft kam sie mit den Gästen, meist Latinos, ins Gespräch. Für die Lateinamerikaner war es der Treffpunkt mit der Heimat. Ruth diskutierte gerne mit diesen Menschen. Auf Spanisch, natürlich!
Sie studierte zwar die Hauptfächer Englisch und Erdkunde für das Lehramt. Jedoch war Spanisch ihr Lieblingskind. Deswegen hatte sie an der Uni zusätzlich Spanischkurse belegt. Sie verliebte sich in alles was in irgendeiner Art mit Spanisch und der spanischsprachigen Kultur zu tun hatte. Essen, Literatur, Musik, Länder und Leute. Einfach alles saugte sie in sich hinein und fühlte sich wohl dabei.
Mit ihrer Schulfreundin und damaligen Mitbewohnerin der Wohngemeinschaft, Gabi, ging sie regelmäßig in ihre Lieblingskneipe.
An einem dieser Abende, Mitte April, begegneten die Freundinnen Fernando. Ruth diskutierte in dem Augenblick mit Atilio, den sie bereits kannte. Zusammen mit Fernando und Oscar spielte er in einer Gruppe für lateinamerikanische Musik. Das Trio konnte sich nicht auf eine Musikrichtung einigen, also spielten sie verschiedenartige Musik aus verschiedenen Ländern Mittel- und Südamerikas. Das kam bei den Gästen besonders gut an.
Fernando hörte, wie Atilio und Ruth Spanisch sprachen und mischte sich ein. Im ersten Augenblick waren sowohl Atilio, als auch Ruth über Fernandos Einwurf und Einmischung überrascht. Aber schnell bezogen sie ihn in die Diskussion mit ein.
Die Gruppe trat auf. Ruth und Gabi hörten, wie üblich, aufmerksam zu. Einige Passagen kannte Ruth schon und sang mit.
Während des Auftritts blieb Ruth genügend Zeit Fernando zu inspizieren. Er war etwas größer als sie. Eigentlich schade, dass er nur ein bisschen größer war, denn normalerweise zog sie richtig große Männer, so ab ein Meter fünfundachtzig, vor. Aber man konnte eben nicht alles haben. Einen großen, dunkelhaarigen, der auch noch Spanisch sprach. Das war wohl zu viel des Guten. Auf jeden Fall hatte Fernando dunkles, gelocktes, fast zotteliges, Haar, das einen Haarschnitt vertragen hätte. Die Haut des rundlichen Gesichts war getönt. Die indianischen Vorfahren ließen sich nicht verleugnen. Am meisten beeindruckten die großen, schwarzen Augen in dem Gesicht. Ruth hatte Mühe, nicht ständig in diese wunderschönen Augen zu starren.
Sie betrachtete Fernando unverhohlen. Bestimmt war er beim Musizieren mit den Freunden auf der Bühne abgelenkt und bemerkte nicht wie sie ihn taxierte. Ruth fuhr in aller Ruhe mit der Bestandsaufnahme fort. Fernando hatte volle Lippen, die er, wie die meisten Menschen, deren Muttersprache Spanisch war, viel bewegte, um seine Aussprache deutlich zu machen. Er trug ein Hemd, das er in die Jeans gesteckt hatte. Ruth vermutete, dass er eher schlank war, doch konnte das Hemd auch ein kleines Bäuchlein verbergen, aber viel war es bestimmt nicht. Alles