Farfalla Gris

Schattenkristalle


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ihrer Aufgabe zuwandte und dem Geheiß Folge leistete.

      „Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als das Kind aus Eurem Leib zu pressen …“

      Ohne Elenór zu erklären, was genau sie damit meinte, stemmte die Alte ihre langen, knochigen Finger auf den Bauch und begann mit aller Macht, das Kind aus dem Leib zu schieben.

      Immer lauter und verzweifelter wurden die Schreie Elenórs, während sie die schlimmste Tortur ihres Lebens über sich ergehen ließ.

      „Es kommt“, rief die Alte keuchend, während sie weiterhin den Bauch unbarmherzig knetete und bearbeitete.

      Beinahe besinnungslos nahm Elenór wahr, wie ein zartes Stimmchen an ihr Ohr drang und die Alte ihr zögernd ein in Tücher gewickeltes Bündel in die Arme legte.

      „Eure Tochter“, flüsterte sie ebenfalls mit Tränen in den Augen und wandte sich ab, als die Herrin das Kind freudestrahlend betrachtete und an sich drückte. Vergangen waren sogleich Kummer und Schmerz.

      „Ich gehe und hole den Herrn“, sagte die Alte und lief bereits Richtung Tür davon.

      „Wartet … Stimmt etwas nicht?“, fragte Elenór und richtete sich etwas weiter in den blutgetränkten Laken auf.

      „Meine Herrin …“, begann sie, doch sie schüttelte sogleich den Kopf. „Es ist nichts. Ich beglückwünsche Euch zu Eurem Nachwuchs, auf dass sie gesund und kräftig werde …“

      Geschwind huschte sie aus dem Zimmer und gab den Weg für Elenórs Ehemann und die Bediensteten frei, die bedächtig das Zimmer betraten, um Mutter und Kind nicht zu erschrecken.

      Vorsichtig näherte sich ihr ihr Mann und ließ sich behutsam auf der Bettkante nieder.

      „Seht, mein Geliebter“, flüsterte Elenór stolz. „Eure Tochter!“

      Mit Tränen in den Augen bewunderte er seine kleine, nahezu perfekte Tochter, die friedlich schlafend in den Armen ihrer Mutter ruhte.

      „Wie ist ihr Name?“

      „Aleríà …“ wisperte Elenór und blickte in die aufgerissenen großen, runden Babyaugen, die für einen winzigen Augenblick rot zu glühen schienen, ehe sie ein sattes Grün annahmen.

      Währenddessen eilte die Hexe die Stufen des Anwesens hinunter und riss sich enorm zusammen, um nicht in einen schnellen Sprint zu verfallen. Sie schwor sich, dass sie das Dorf so schnell wie möglich verlassen würde, denn in dem Kind, welches soeben die Welt erblickt hatte, wohnte ein Geist der Alten Zeit ...

       Unerwarteter Besucher

      Die Nachricht über Aleríàs Geburt verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Land Erandôla und lockte viele Würdenträger nach Thiônan. Alle wollten den Sprössling der Dulclarce-Familie willkommen heißen, denn es war schon viel zu lange her, dass man erfreuliche Kunde von ihr vernommen hatte. Und das lag nicht zuletzt an den Zwistigkeiten, die die beiden Brüder seit ihrer Kindheit verfolgte und entzweite. Der ältere der beiden und zudem frisch gebackener Vater war schon als Kind freundlich und herzensgut, wohingegen sein Bruder Lucius zu den größten Unruhestiftern der gesamten Umgebung zählte. Ihre Eltern hatten besonders mit ihm zu kämpfen, da er ein äußerst garstiges Kind war. Auf keinen Tadel hörte er, genauso wenig wie auf gute Ratschläge. Das Einzige, was er im Sinn hatte, war, anderen Leid zuzufügen und sich später darüber, zum Missfallen aller, zu amüsieren.

      Doch egal, wie sehr Lucius seinen Bruder für seine Umgänglichkeit auch verachten mochte, genauso sehr liebte er ihn. Im Grunde genommen hatte er es nie leicht gehabt. Schon seit seiner Geburt war er anders behandelt worden als andere Kinder – was nicht zuletzt an seiner Herkunft lag. Er war ein Bastard. Außerdem trug sein äußeres Erscheinungsbild maßgeblich zu den Hänseleien bei.

      Durch einen Unfall, der sich in Kindertagen ereignet hatte, war ein Teil seines Gesichts von Narben entstellt. Auch das linke Auge war stark in Mitleidenschaft gezogen worden und von einer langen Kerbe durchzogen. Die Kinder des Dorfes hatten ihm den Namen grässlicher Harlekin gegeben, was seinem Genie keineswegs gerecht wurde.

      Armand jedoch, der das Leid, was seinem Bruder widerfuhr, zumeist nicht wahrhaben wollte, wies jegliche Hilfegesuche von sich ab. Sie seien Hirngespinste, die nur in seiner Fantasie existierten, denn niemand konnte in Armands Augen so grausam sein – er war damals auch ein wirklich gutgläubiges Kind, das jegliches Böse für eine Erfindung der Erwachsenen hielt.

      Was allerdings keiner bemerkte, war die Veränderung, die sich allmählich in Lucius? Seele vollzog.

      Je mehr man ihn verspottete und verhöhnte, umso aggressiver wurde er. Lucius zögerte niemals, wenn es darum ging, ihnen eine Lektion zu erteilen. Doch je heftiger er sich wehrte, umso schlimmer wurden die Angriffe auf ihn, bis sich eines Tages ein Wandel in seinem Verhalten bemerkbar machte.

      Schlagartig wurde aus dem monströsen Jugendlichen, zu dem er herangewachsen war, ein beinahe liebenswürdiger junger Mann, der jeden höflich und zuvorkommend behandelte, ganz gleich, wie dieser ihn verlachte und verachtete.

      Für seine Eltern war es ein regelrechter Segen, dass ihr jüngster Sohn endlich zur Vernunft gekommen war und gesellschaftsfähig wurde.

      Auch Armand glaubte, dass von nun an alles gut werden würde, denn er hatte seinem kleinen Bruder lange genug vorgelebt, wie man sich zu benehmen hatte. Allerdings interessierte ihn auch, weshalb er sich so verändert hatte.

      Dass Gerüchte jedoch ihre Runden durch das Land zogen, ignorierten sie.

      Es war schließlich völlig undenkbar, dass ihr Sohn etwas mit Magie zu schaffen hatte, zumal er früher ein wirklicher Nichtsnutz gewesen war und der Familie mehr als einmal Schande bereitet hatte.

      Trotzdem blieb er ihr Sohn und sie konnten stolzer nicht sein, zumindest im Moment, denn eines Tages führte er ganz unverhofft eine junge Frau zur Tür herein, die schöner nicht hätte sein können.

      Smaragdgrüne Augen leuchteten aus einem blassen, makellosen Gesicht, welches von braunen, leicht gewellten Haaren umrahmt wurde.

      Ein jeder fragte sich, wo er auf solch eine Schönheit getroffen war, und viel wichtiger noch, wie sie sich augenscheinlich in ihn verliebt haben konnte – in den grässlich entstellten Harlekin von Thiônan.

      Was jedoch zunächst niemand bemerkte, war die magische Anziehungskraft, die sie auf Armand hatte. Allein ihr Anblick reichte aus, um etwas in ihm zu wecken, was er nie zuvor verspürt hatte – Habgier. Er wollte sie, begehrte sie wie noch nie etwas in seinem Leben, und er schwor, bei den Göttern, dass sie ihm gehören würde … Koste es, was es wolle!

      Und wie es das Schicksal so wollte, geschah es, dass sich die beiden heimlich ineinander verliebten.

      Lucius erfuhr davon zunächst nichts, bis er sie eines Tages zusammen sah.

      Sein Zorn hätte nicht größer sein können. Es entbrannte ein langer und heftiger Schwertkampf zwischen den Brüdern, den Lucius mit Sicherheit gewonnen hätte, doch bevor er den finalen Schlag ausführen konnte, beherrschte er wie durch ein Wunder seine Gefühle und kehrte den beiden sowie seiner gesamten Familie den Rücken.

      Seit diesem schicksalhaften Tag vor einigen Jahren hatte man nie wieder etwas von Lucius vernommen. Es war, als wäre er gänzlich aus der Welt verschwunden.

      Bis zu jenem stürmischen Sommerabend, knapp ein Jahr nach Aleríàs Geburt, als der Wind heulend durch die tiefen Talschluchten heulte und das Kind, welches seins hätte sein sollen, das Licht der Welt erblickte.

      Eingehüllt in einen langen dunklen Mantel, das Gesicht von einer schwarzen Kapuze verdeckt, wanderte Lucius gelassenen Schrittes den schmalen Pfad entlang, der zu seinem ehemaligen Elternhaus führte.

      Ein leises Lächeln umspielte seine rauen Lippen und abgehärteten Züge, die in all den Jahren nur wenige glückliche Momente erlebt hatten. Aber heute würde sich dies ändern. Er wollte seinem Bruder zeigen, was es bedeutete, ihn, Lucius Dulclarce, zu verspotten und ihm das