Farfalla Gris

Schattenkristalle


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wie Sirup, während er auf ein Lebenszeichen von innen wartete.

      Es dauerte seine Zeit, bis er das leise Trampeln hinter der Tür vernahm und erahnte, wer ihm gleich öffnen würde.

      Mit lautem Knarren schwang das Portal einen Spaltbreit auf und ein von flackerndem Kerzenlicht beschienenes Gesicht erschien in ebendiesem, um den Fremden misstrauisch zu betrachten.

      „Wer seid Ihr?“, schnarrte ihre unfreundliche Stimme, die sich in all den Jahren nicht verändert hatte.

      Lucius lächelte charmant unter der Kapuze hervor und spielte beleidigt, während er ihr mit leicht geschürzten Lippen antwortete.

      „Ich bin enttäuscht, dass du mich nicht mehr erkennst, Mârry, wo wir doch schon so viel zusammen erlebt haben …“

      Verwundert über die Nennung ihres Namens begann sie, den Fremden vor sich eingehender zu mustern, was sich in dem Dunkel der Nacht als äußerst schwierig erwies. Ein Blitz, der jedoch kurz darauf den Himmel erhellte, brachte schließlich das Licht der Erkenntnis mit sich.

      „Herr Lucius“, keuchte sie erschrocken auf und ließ beinahe die mit Petroleum gefüllte Öllampe zu Boden fallen.

      „Genau der bin ich“, lächelte er mit einem leicht diabolischen Zug um die Lippen und drängte Mârry mit Leichtigkeit zur Seite, um sich Einlass zu verschaffen.

      „Es macht dir doch nichts aus, wenn ich eintrete. Draußen ist es nämlich ziemlich kühl …“

      Völlig überrumpelt wagte es die kleine, leicht korpulente Frau nicht, ihm zu widersprechen, und blickte ihn lediglich mit großen Augen an, während er sich wie selbstverständlich seines Mantels entledigte und diesen achtlos auf das kleine, im Foyer platzierte Sofa fallen ließ.

      Neugierig ließ er den Blick umherschweifen, konnte jedoch nicht verhindern, dass das, was sein Auge erfasste, mit Verachtung gestraft wurde.

      Viel verändert hatte sich in seiner Abwesenheit nicht.

      Die Eingangshalle war genauso dunkel mit Holz vertäfelt wie in seiner Kindheit. Nur hier und da waren einige Stellen ausgebessert worden – schlecht, wie er bemerkte. Die Farben stimmten bei genauerer Betrachtung nicht überein. Das ursprüngliche Holz war von einem satten, erdigen Braun gewesen, während die Ausbesserungen von einem eher sandigen Braun waren und einem sofort ins Auge sprangen.

      Verächtlich schüttelte er den Kopf. Sein ach so perfekter großer Bruder schätzte zwar das Künstlerische, besaß aber dennoch kein Auge für die besonderen Details, die diese Welt ihm offenbarten.

      „Würdest du meinem Bruder ausrichten, dass ich gekommen bin?“, fragte er übertrieben liebenswürdig an die noch immer erstarrte Mârry gerichtet, die ihn unentwegt anstarrte.

      Mit einem flüchtigen Knicks verbeugte sie sich vor ihm, um sogleich in einem der vielen Nebenzimmer zu verschwinden, die vom Foyer aus erreichbar waren.

      Gelangweilt begann Lucius einen kleinen Rundgang. Seine Schritte hallten laut auf den Steinfliesen wider, die genauso abwetzt waren, wie er sie in Erinnerung hatte.

      Auch die zahlreichen Gemälde – der ganze Stolz seines Vaters – waren nicht ersetzt worden, sondern weilten wie stumme Zeugen der alten Zeit an ihrem angestammten Platz. Erinnerungen, die längst hätten vergessen werden sollen, anstatt die Atmosphäre mit ihrer Aura der Melancholie zu verpesten.

      Doch eines war neu für ihn. Sattere Farben fielen ihm sogleich ins Auge und zeugten von Frische und unverbrauchter schöpferischer Kraft und Energie. Als er jedoch das Werk zur Gänze betrachtete, spürte er, wie unbändiger Hass in seiner Seele aufstieg und ihn zu überschwemmen drohte.

      Das Bild zeigte eine glückliche Familie – seine Familie. Er sah Elenór, die schön und anmutig auf einer Blumenwiese kniete, während sein ‚geliebter‘ Bruder hinter ihr hockte und sie beide mit glanzvollen Augen einem kleinen Wesen nachblickten, was kaum über die hochgewachsenen Blüten ragte – ihre Tochter.

      Heiß begann das Metall in seiner Tasche zu glühen. Das Medaillon reagierte auf seine abwesenden Gedanken und verriet ihm, dass sich jemand näherte. Durch einen tiefen Atemzug gelang es ihm, sein Temperament zu zügeln und seine Emotionen hinter einer neutralen Maske zu verstecken. Er war schon als Kind ein guter Schauspieler gewesen, wenn es darum ging, jemanden zu täuschen – vor allem seinen naiven Bruder.

      „Lucius, was führt dich hierher?“, fragte Armand erfreut und vorsichtig zugleich, während er mit strammen Schritten auf seinen Bruder zuhielt.

      „Muss der kleine Bruder denn einen Grund haben, wenn er mal nach dem Rechten sehen will bei seinem wertgeschätzten großen Bruder?“, antwortete Lucius spöttisch mit einer Gegenfrage.

      „Eigentlich nicht, aber zwischen uns ist nie ein solch inniges Verhältnis entstanden, wie es für Brüder normal scheint“, seufzte Armand.

      „Deshalb bin ich hier. Ich möchte Frieden mit dir und deiner Angetrauten schließen. Wir sind doch eine Familie und sollten uns auch so verhalten“, schmeichelte Lucius seinem Bruder, denn er wusste, wie sehr ihm die Familie etwas bedeutete.

      „Das klingt vernünftig, aber woher der plötzliche Sinneswandel, Bruder?“, fragte Armand skeptisch und musterte Lucius von oben bis unten.

      „Nun, mich erreichte die frohe Kunde, dass ich nun Onkel einer liebreizenden jungen Dame geworden bin. Und du willst mir doch wohl nicht verbieten, mich dieser vorzustellen, oder?“

      Armand zögerte kurz, ehe er antwortete.

      „Natürlich nicht … Folge mir!“

      Gemeinsam stiegen sie die dunklen Stufen der Walnussholztreppe hinauf und erreichten eine von zahlreichen Kandelabern erleuchtete Galerie.

      Schon von Weitem vernahm Lucius das leise Rasseln und Klimpern von Spielzeug sowie das aufgeweckte Lachen eines Kindes.

      Sein Herz begann, merklich schneller zu schlagen, denn er hörte nicht nur das Kind, sondern auch eine Stimme, die er unter Tausenden erkennen würde – Elenór.

      Begierig leckte er sich über die Lippen und konnte seine Erregung, die allein seine Erinnerung erzeugte, kaum verbergen.

      Einzig das Medaillon, welches wie ein flammendes Herz zu pulsieren begann, schaffte es, seine Konzentration zurückzulenken auf das, was er zu tun beabsichtigte und wofür er einen klaren, scharfen Verstand brauchte. Er würde warten. Zeit spielte für ihn schließlich keine Rolle mehr …

       Geschenke

      Elenór blickte verwundert auf, als die Tür des Kinderzimmers sich langsam öffnete, und beendete mit einem winzigen Schnippen der Finger den Zauber, den sie für Aleríà erzeugt hatte.

      „Ist etwas vorgefallen?“, fragte sie ihren Mann, der soeben eingetreten war und dessen Erscheinen ihr leichtes Unwohlsein bereitete.

      „Nein, mein Herz. Wir haben bloß einen Besucher, der unsere Tochter kennenlernen möchte“, lächelte er beruhigend und bedeutete jemandem in seinem Rücken mit einer einladenden Handbewegung näherzutreten.

      Mit weit aufgerissenen Augen starrte Elenór den Mann an, den sie vor vielen Jahren schamlos hintergangen hatte. Sie konnte nicht glauben, dass Lucius zurückgekehrt war, es durfte nicht sein. Ihren Gefühlen widersprechend, besann sie sich sogleich und wahrte das Gesicht, indem sie ihn mit gespielt teilnahmslosem Blick musterte.

      Er wirkte älter, als er eigentlich war. Seine Kleidung war durch eine anscheinend lange Reise stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Sogar winzige Löcher konnte sie am Saum seiner dunklen Hosen ausmachen. Ebenso zeichnete sich sein weiteres Erscheinungsbild durch ein wettergegerbtes Gesicht aus, in dem zu ihrem Erstaunen, was sie nicht verbergen konnte, keine Narben erkennbar waren.

      „Dein Gesicht … Die Narben sind verschwunden …“, keuchte sie überrascht.

      „Du täuschst dich, Liebling. Gerade eben hatte er noch die … Wo sind sie hin?“,