Farfalla Gris

Schattenkristalle


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dem Thema erst einmal ablenken sollte.

      „Ich kann mich nicht erinnern“, sagte sie wieder und schüttelte bedauernd den Kopf. Sie wandte den Blick von ihm ab, um die Enttäuschung, die mit Sicherheit in seinem Blick aufflackern würde, nicht mit ansehen zu müssen.

      Als eine plötzlich auftretende Windböe sie beide erfasste, hielt Aleríà sich ihre dunklen Locken mit einer Hand aus dem Gesicht. Es war merkwürdig: Obwohl eine sommerliche Hitze vorherrschte, fröstelte Aleríà urplötzlich und sehnte sich nach einer warmen Suppe ihrer Mutter. Da Ralath nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch kein einziges Wort gesprochen hatte, blickte sie zu ihm auf und bemerkte einen Schatten, der seine Augen verdunkelte. Innerhalb eines Wimpernschlages waren seine Augen wieder normal, sodass sie glaubte, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein.

      „Komm, wir sollten uns auf den Weg machen. Mutter wartet bereits“, sagte Aleríà und erhob sich.

      „O.k.“, war das Einzige, was er ihr tonlos antwortete, und trottete mit gesenkten Schultern langsam Richtung Haus.

      Aleríà glaubte, sich getäuscht zu haben, konnte aber den finsteren Ausdruck, den sie gesehen hatte, nicht deuten. Sie schob es auf die Anstrengung, der sie beide innerhalb der letzten Wochen tagtäglich ausgesetzt gewesen waren, ohne wirklich Erfolg zu erzielen.

      Sie verstand nur allzu gut, wie er sich fühlen mochte, wusste aber auch nicht, wie sie ihm verständlich machen sollte, wie er die Kraft, die in jedem Lebewesen wohnte, zum Vorschein bringen konnte.

      Mit einem Seufzer lief sie ihrem Bruder hinterher, der schon ein gutes Stück vorgelaufen war.

      Mitten in der Nacht schreckte sie, von Panik erfüllt, aus dem Schlaf hoch. Sie konnte nicht benennen, was sie geweckt hatte, spürte aber, dass dieses Etwas nichts Gutes verheißen konnte.

      „Ralath …“, wisperte sie leise. „Schläfst du noch?“

      Eigentlich wollte sie ihn nicht wecken, wünschte sich aber im Augenblick nichts sehnlicher, als die Nähe ihres Bruders zu spüren und ihn im Arm zu halten. Wenn sie zusammen waren, gab es einfach nichts, was ihnen gefährlich werden konnte. Nicht umsonst hatten sie früher mithilfe ihrer Fantasie die waghalsigsten Abenteuer überstanden und sich gegenseitig Trost gespendet, wenn die Kinder des Dorfes sie mal wieder nicht hatten mitspielen lassen, weil sie nicht Teil der Gesellschaft waren. Weil sie anders waren.

      Als Aleríà leise aufstand und zu dem Bett ihres Bruders schlich, stellte sie mit Verwunderung fest, dass dieses vollkommen unberührt war. Einzig die zerknüllten Laken wiesen darauf hin, dass jemand darin geschlafen haben musste.

      Mit der flachen Hand fuhr sie leicht über das Laken und spürte die schwindende Wärme von ihm ausgehen. Ralath konnte also noch nicht lange fort sein.

      Ich geh am besten hinter ihm her, sonst fürchtet er sich wieder, dachte sie und warf sich schnell einen Umhang über die Schultern, damit sie nicht draußen in der Nacht fror. Obwohl der Sommer sich seinem Ende entgegenneigte, erschien ihr diese Nacht kalt und beängstigend.

      Mit leisen Sohlen schlich sie sich zur Tür hinaus und atmete erleichtert auf, als sie den Garten betrat. Im Licht des Vollmondes erblickte sie Fußspuren in der vom Regen feuchten Erde – jemand war hier entlanggelaufen – barfuß.

      Irritiert und ein wenig ängstlich zugleich folgte sie den Spuren, die von ihrem Haus weg tief in den Wald hineinführten.

      Leichter Wind wirbelte ihre Locken durcheinander und ließ die dunklen Schatten, die in der Nacht lauerten, noch bedrohlicher und realer erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren.

      Mit einem leichten Ziehen im Herzen blickte Aleríà den Waldrand entlang, ehe sie sich entschied, ihn zu betreten.

      Sie war ein neugieriges Kind und wollte immer alles um sich herum genau wahrnehmen und in Erfahrung bringen. Nachdem Aleríà einmal tief Atem geschöpft hatte und sich zum wiederholten Male versichert hatte, dass es nichts in diesem finsteren Wald gab, das ihr schaden würde, zog sie den Umhang fester um sich und marschierte mit festen Schritten los.

      Das Laub raschelte um sie herum und von überall her wisperten verzerrte Stimmen.

      Äste knackten unter ihren kleinen Füßen, obwohl sie nur seicht auftrat, und verrieten ihre Position jedem, der in der Nähe sein Unwesen treiben mochte.

      Sie fühlte sich immer unwohler, je näher sie der Lichtung kam, auf der Ralath und sie seit Wochen trainierten.

      Ein Uhu, der vor ihr aus einem Gebüsch hochschoss, jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein, sodass sie mit einem leisen Aufschrei zu Boden stürzte und zunächst zitternd dort unten verharrte.

      Ralath, wo bist du nur?, fragte sie sich verzweifelt und machte sich mit wackeligen Beinen wieder auf den Weg.

      Erneut flüsterten Stimmen, durch den Wind getragen, zu ihr herüber und nun erkannte sie eine sogar als die ihres Bruders, die ihr so vertraut und doch so fremd erschien.

      Hinter einem Busch versteckt, vorsichtig die Zweige auseinanderschiebend, beobachtete sie die Lichtung, die sich vor ihr offenbarte.

      Viel erkennen konnte sie jedoch nicht, da der Mond von Wolken verhüllt wurde und zunächst nicht sein Antlitz präsentierte. Schatten tanzten zur Musik des Windes umher und flüsternde Stimmen einer ihr unbekannten Sprache schienen die Schattenwesen weiter anzuheizen, sodass sie wie wogendes nachtschwarzes Wasser den Boden bedeckten.

      Aleríà schwante nichts Gutes, doch sie musste herausfinden, wo ihr Bruder war.

      Just in diesem Augenblick tauchte der volle, runde Mond hinter seiner Verschleierung hervor und erfüllte die Lichtung mit silbrigem Licht.

      Ralath stand nur wenige Meter von ihr entfernt und blickte jemandem entgegen. Eine Gestalt, in einer schwarzen Kutte verborgen, tauchte auf und blieb vor Ralath stehen. Es war eine furchterregende Gestalt, der man am besten nicht über den Weg traute, geschweige denn lief, wie Aleríà sofort bemerkte. Doch bei Ralath war sie sich nicht so sicher. Er war noch so jung und unbedarft. Es fiel ihm manchmal schwer, Gut von Böse zu unterscheiden. Selbst Fremden, die mehr als verdächtig erschienen, schenkte er meist Vertrauen.

      Der Vermummte trat dicht an Ralath heran und flüsterte etwas dicht an seinem Ohr, was Aleríà nicht verstehen konnte. Doch als die beiden aufblickten und genau in ihre Richtung starrten, ahnte sie, um was es ging – um sie.

      Erschrocken stolperte sie zurück, als rot glühende Augen sie unter der Kapuze heraus anstarrten, doch bevor sie auch nur einen Gedanken an Flucht verschwenden konnte, stand der Mann unvermittelt vor ihr. Wie ein Geist hatte er sich vor ihr materialisiert und erstickte jeden Gedanken an Flucht im Keim.

      Noch bevor Aleríà irgendeine Reaktion von sich geben konnte, spürte sie, wie ihre Glieder schwer wurden und ihre Gedanken zähflüssig wie Sirup dahinschweiften. Das Letzte, woran sich ihr zusammenbrechender Körper erinnerte, war ein schauriges Grinsen, das Ralaths Züge verfinsterte …

      Am nächsten Morgen erwachte Aleríà beunruhigt und fand sich zu ihrem Erstaunen in ihrem eigenen Bett wieder. Wie sie dahin gekommen war, konnte sie beileibe nicht beantworten, aber viel wichtiger erschien ihr im Augenblick die Frage nach ihrem Bruder. Was war mit ihm geschehen?

      Kaum dass sie aus dem Bett gesprungen war und sich hektisch angekleidet hatte, drang auch schon sein herzerwärmendes Lachen zu ihr herauf.

      Blitzschnell hechtete sie die Leiter hinunter und erstarrte bei der Szenerie, die sich vor ihr abspielte. Ralath saß vergnügt wie immer am Frühstückstisch und aß mit Freude seinen Haferbrei. Nichts erinnerte mehr an die dämonische Aura der vergangenen Nacht. Unschlüssig, ob sie etwas sagen sollte, stand Aleríà da. Sollte sie ihre Mutter mit etwas beunruhigen, was vielleicht doch nur ein Traum war, der unsagbar realistisch erschien, oder lieber schweigen und das Ganze einfach vergessen? Ihre Mutter Elenór nahm ihr aber sogleich die Entscheidung ab.

      „Guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?“, fragte ihre Mutter liebevoll und stellte eine Schüssel mit Haferbrei für sie auf den Tisch.

      „Ja,