Katherina Ushachov

Der tote Prinz


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      Der tote Prinz

      Band 16 der Märchenspinnerei

       Roman

      Katherina Ushachov

      Märchenspinnerei

      Alle Rechte bei Katherina Ushachov

      Copyright © März 2019

      Katherina Ushachov

      Heidegg 471

      6855 Andelsbuch, Österreich

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      Für alle Verlorenen, Verstoßenen und Vertriebenen. Und für alle Wesen dieser Welt.

      Felix

      Die al­te Gran hat­te ge­sagt, dass sein Na­me in ei­ner längst to­ten Spra­che »der Glück­li­che« be­deu­te­te, aber glück­lich fühl­te Fe­lix sich nicht.

      Die schmut­zi­gen Lum­pen­wi­ckel schütz­ten sei­ne Hand­flä­chen nur un­zu­rei­chend. Er spür­te, dass er sie längst durch­ge­schwitzt hat­te.

      Schweiß lief ihm auch über das Ge­sicht, brann­te in sei­nen Au­gen und ver­schlei­er­te die Sicht. Oder war es die Luft, die im gna­den­lo­sen Son­nen­licht flim­mer­te?

      Das war das Ein­zi­ge, was sie im Über­fluss hat­ten, seit sich die Staub­schlei­er ge­legt hat­ten und die Dun­kel­heit die Welt nicht mehr ver­schluck­te.

      Er er­in­ner­te sich nicht mehr an die­se Zeit. Nur manch­mal, wenn er sich sehr an­streng­te, konn­te er das Ge­fühl bei­ßen­der Käl­te auf der Haut her­bei­ru­fen. Schmerz war gut, hielt ihn wach. Bei den Müll­ber­gen ein­zu­schla­fen, en­de­te meist töd­lich.

      Et­was Blau­es fun­kel­te vor ihm in der Son­ne und er leg­te has­tig die Hand dar­auf. Blau­es Glas war kost­bar. Er konn­te es ge­gen Was­ser ein­tau­schen. Und ge­gen ge­nug Es­sen für ei­ne Wo­che. Sie­ben Ta­ge oh­ne Hun­ger, oh­ne Durst, oh­ne die Sor­ge um sein Über­le­ben.

      Wenn, nur wenn …

      Die auf ihn fal­len­den Schat­ten lie­ßen sei­nen kur­z­en Tag­traum zer­schel­len.

      Fe­lix dreh­te sich um und starr­te in die rost­brau­nen Au­gen von Ai­no. Die Haa­re von der Son­ne zu ei­ner un­de­fi­nier­ba­ren Far­be ge­bleicht, das hel­le Ge­sicht mit ei­ner di­cken, ro­ten Pas­te ge­gen die Son­ne be­deckt, rag­te sie in im­pro­vi­sier­ter Rüs­tung über ihm auf. Hin­ter ihr stan­den zwei Mit­glie­der ih­rer Grup­pe, bei­de hat­ten einen hö­he­ren Rang als Fe­lix – und so­mit mit der Er­laub­nis, auf ihn ein­zu­prü­geln. »Was hast du da?«

      Er ball­te die Hän­de zu Fäus­ten und ließ das Glas­stück un­auf­fäl­lig zwi­schen den Schich­ten sei­ner Hand­bin­den ver­schwin­den. Er brauch­te es drin­gen­der als Ai­no, die ei­ne gan­ze Rei­he da­von um den Hals trug. Ein Ver­mö­gen! Aber Frau­en hat­ten oh­ne­hin Vor­tei­le. Sie konn­te ihn al­lein da­für schla­gen und be­vor­mun­den, dass er ein Mann war. Und es gab nichts, das er da­ge­gen tun durf­te.

      »Nichts. Ich ha­be noch nichts ge­fun­den.«

      Sie trat nä­her und stell­te ih­ren Stie­fel auf sei­ne Schul­ter. »Ah ja? Los, durch­sucht ihn. Und wenn er lügt …« Ih­re Au­gen glänz­ten – als wür­de sie sich sei­ne Stra­fe be­reits aus­ma­len. »Du weißt, was mit Müll­samm­lern pas­siert, die von der Ge­mein­schaft steh­len.«

      Die zwei Schrän­ke hin­ter ihr setz­ten sich in Be­we­gung.

      So weit durf­te er es nicht kom­men las­sen. Ge­mein­schaft schön und gut, aber Ai­nos Stra­fen wa­ren hart, und auf den Müll­ber­gen konn­te je­de Ver­let­zung ein To­des­ur­teil sein. Fe­lix pack­te ihr Bein, zog es nach vor­ne und sich selbst dar­an auf die Bei­ne. Ehe Ai­no wie­der auf­ste­hen und ihm fol­gen konn­te, rann­te er be­reits mit ge­schlos­se­nen Au­gen der Son­ne ent­ge­gen. Hier kann­te er je­den Hü­gel, je­de bau­fäl­li­ge Well­blech­hüt­te, je­des Ver­steck. Wenn er sich nur nicht blen­den ließ, konn­te er sie ab­hän­gen.

      Ai­no und ih­re Beglei­ter keuch­ten in sei­nem Rücken.

      Er glaub­te, ih­ren hei­ßen Atem in sei­nem Na­cken zu spü­ren, sen­gen­der als die Hit­ze der Son­ne im Ge­sicht.

      Er strau­chel­te und fiel.

      Ber­ge an wa­cke­lig ge­sta­pel­tem Müll bra­chen um ihn her­um ein. Er rutsch­te wie auf Treib­sand. Je mehr er sich be­weg­te, de­sto mehr Müll schob sich nach und riss ihn mit sich.

      Ai­no stand als Sil­hou­et­te des Tri­um­phs am Ran­de des Ab­grun­des und lach­te. Sie hob et­was auf und warf es ihm hin­ter­her. Da­mit lös­te sie einen wei­te­ren Müll­rutsch aus.

      Fe­lix stram­pel­te, such­te Halt und spür­te einen dump­fen Schmerz am Kopf, der sich aus­brei­te­te und ihn ver­schluck­te.

      Er er­wach­te mit tro­ckenem Mund und Kopf­schmer­zen, die ihm Trä­nen in die Au­gen trie­ben. Um ihn her­um nichts als Dun­kel­heit und vie­le klei­ne Ge­gen­stän­de, die auf sei­ne Brust drück­ten und ihm die Luft zum At­men nah­men.

      Vor­sich­tig streck­te er die Ar­me aus und schaff­te es, mit den Fin­gern die Ober­flä­che aus lo­cke­rem Ge­rüm­pel zu durch­bre­chen. Vi­el­leicht war so­gar bun­tes Glas da­bei … Sei­ne Fin­ger er­tas­te­ten et­was Glat­tes, Me­tal­li­sches. Er hielt sich dar­an fest und zog sich vor­sich­tig aus dem Müll, um­sich­tig, um kei­ne neue La­wi­ne zu ver­ur­sa­chen. Dann erst schau­te er sich an, wor­an er sich fest­ge­hal­ten hat­te.

      Ein grö­ße­rer, ver­hak­ter Ge­gen­stand aus zer­kratz­tem, grün an­ge­lau­fe­nem Me­tall.

      Bron­ze. Und gleich großes Stück da­von. Das war be­stimmt wert­voll; falls er sich bis zur Stadt durch­schla­gen konn­te, um es zu ver­kau­fen, ganz al­lein, oh­ne dass Ai­no ih­ren An­teil ver­lan­gen konn­te …

      Fe­lix grub vor­sich­tig so lan­ge, bis er den Ge­gen­stand raus­zie­hen konn­te. Sein Herz ras­te. So­fort schob er das Ding vor Schreck ruck­ar­tig un­ter sei­ne Ja­cke. Das war doch … Was war das?

      Has­tig blick­te er sich um, ob je­mand in der Nä­he war, aber er war al­lei­ne. Kei­ne an­de­ren Müll­samm­ler in Sicht.

      Er setz­te sich auf den Bo­den, lehn­te sich an die Sei­te des Hü­gels und nahm das Bron­ze­ding wie­der aus sei­ner Ja­cke.

      Kreis­rund, mit ei­ni­gen klei­nen Qua­dra­ten, ne­ben de­nen ei­ne Son­ne ab­ge­bil­det war, zeig­te es ein stau­bi­ges, zer­kratz­tes Jun­gen­ge­sicht, grü­ne Au­gen mit gol­de­nen Punk­ten in­mit­ten von na­he­zu schwar­zer Haut. »Hal­lo, du. Ich bin Fe­lix.«

      Das Ding leuch­te­te kurz auf und Li­ni­en zo­gen sich über das Ge­sicht des Jun­gen. Zah­len leuch­te­ten auf sei­ner Wan­ge auf: 2084. Dann er­tön­te ei­ne freund­li­che Frau­en­stim­me aus dem Ding und vi­brier­te ge­gen sei­ne Fin­ger. »Hal­lo Fe­lix. Ich bin Nar­zis­sa. Stel­le dei­ne Fra­ge.«

      »Nar­zis­sa?« Das war ein Frau­en­na­me. Aber das Ge­sicht war das ei­nes Jun­gen. »Wer ist das im Fens­ter?«

      »Ich bin ein Spie­gel. Du siehst dich selbst.«

      »Mich selbst? So se­he ich aus?«

      Li­ni­en über­zo­gen das Ge­sicht – sein Ge­sicht.