Katherina Ushachov

Der tote Prinz


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be­müh­te, konn­te er noch vor dem Ablauf der ge­setz­li­chen Trau­er­zeit der neue Lord Lue wer­den.

      »Ich über­neh­me von hier an.« Er ver­beug­te sich vor Ali­xe­na und scheuch­te mit ei­ner klei­nen Hand­be­we­gung den Fah­rer von ihr fort.

      So­fort nä­her­ten sich ei­ni­ge Jung­knech­te und mach­ten sich dar­an, den Wa­gen zu wa­schen und zu des­in­fi­zie­ren, ehe er in die Stal­lun­gen ge­fah­ren wer­den wür­de.

      »Fe­lix, nicht wahr?« Sie nahm dank­bar sei­ne Hand und lehn­te sich leicht in sei­ne Rich­tung, als wä­re ihr nach der lan­gen Fahrt schwin­de­lig.

      Vor­sich­tig hielt er sie am El­len­bo­gen fest – sie um die Hüf­te zu fas­sen, wag­te er noch nicht – und führ­te sie ins In­ne­re von Palast Lue. »Fe­lix M’nao. Ich war der obers­te Kam­mer­knecht von Lord Ge­ro und Ihr Ver­lust trifft mich tief. Schließ­lich stand ich ihm sehr na­he und war an sei­ner Sei­te, als er plötz­lich starb.«

      Sie at­me­te tief durch, lehn­te ih­ren Kopf an ihn. »Wie ist er ge­stor­ben?«

      »Ei­ne Un­ver­träg­lich­keit. Ha­ben La­dy Ali­xe­na ge­wusst, dass Lord Ge­ro kei­ne Nüs­se es­sen kann? Er hat von ei­ner Erd­nuss ge­nascht.« Von ei­ner, die er un­ter das fein­kör­ni­ge Tee­pul­ver ge­mischt hat­te. Aber na­tür­lich hat­te man ne­ben dem To­ten ei­ne Scha­le Erd­nüs­se ge­fun­den.

      »Nein, das wuss­te ich nicht. Ich wuss­te, dass er kei­ne Boh­nen es­sen darf. Aber Erd­nüs­se? Das ist mir neu.« Sie droh­te fast zu stol­pern und Trä­nen schim­mer­ten in ih­ren Au­gen.

      Fe­lix konn­te sich nicht vor­stel­len, wie die­se schwa­che Frau in der La­ge sein soll­te, Krieg zu füh­ren. So sen­ti­men­tal, wie sie auf den Tod ih­res Lords rea­gier­te, konn­te sie un­mög­lich hart ge­nug sein, um Men­schen zu tö­ten. Sie mach­te es ihm ge­ra­de­zu lä­cher­lich leicht.

      »Ich ha­be mir die größ­te Mü­he ge­ge­ben, ihm einen Ab­schied zu ge­ben, der in Erin­ne­rung blei­ben wird. Wol­len La­dy Ali­xe­na ihn vor der Ze­re­mo­nie se­hen?«

      La­dy Ali­xe­na rich­te­te sich ge­ra­de auf. »Ja. Aber zu­erst möch­te ich mei­nen Sohn se­hen. Wo ist er?«

      »Er ist bei mir. Ge­hen wir.« Es war gut, dass sie in sein Zim­mer kom­men woll­te. So konn­te er ihr Ge­sicht un­auf­fäl­lig von Nar­zis­sa be­trach­ten las­sen. Wer wuss­te schon, wo­für das nütz­lich sein moch­te?

      5. Alixena

      Bei dem Ge­dan­ken an den An­blick des to­ten Ge­ro er­schau­er­te sie. So­lan­ge sie ihn nicht mit ih­ren ei­ge­nen Au­gen ge­se­hen und mit ih­ren ei­ge­nen Hän­den be­rührt hat­te, so­lan­ge sie nicht sei­ne Stirn ge­küsst und ih­re ei­si­ge Käl­te ge­schmeckt hat­te, so­lan­ge war er noch nicht wirk­lich ver­gan­gen, so lan­ge konn­te sie noch auf ein Wun­der hof­fen. Auf ei­ne Täu­schung. Ob­gleich ihr be­wusst war, dass es nicht pas­sie­ren wür­de, hoff­te sie, er wür­de zu ihr tre­ten und ge­ste­hen, dass ihr nur ein bö­ser Streich ge­spielt wor­den war.

      Be­vor sie dem To­ten ge­gen­über­tre­ten konn­te, muss­te Ali­xe­na Da­rio se­hen, sich ver­ge­wis­sern, dass er un­ver­sehrt war.

      Sie eil­te die al­ten Stu­fen des Schlos­ses hin­auf, Stu­fen aus grau­en Be­ton, an ei­ni­gen Stel­len not­dürf­tig mit Plas­tik aus­ge­bes­sert, so­dass man die ver­ros­te­ten Stahl­ge­rüs­te dar­un­ter er­ken­nen konn­te. Fast muss­te sie sich zwin­gen, sich zu­rück­zu­hal­ten, um Fe­lix’ Räu­me nicht vor ihm zu be­tre­ten. Das wä­re selbst für ei­ne War­la­dy un­ge­hö­rig ge­we­sen.

      Ei­ne Ecke des Rau­mes war mit lan­gen Tü­chern ver­hängt. Ver­mut­lich zog es von dort.

      Aus den Au­gen­win­keln sah sie et­was auf­blit­zen. Hor­te­te Fe­lix dort sei­nen Schmuck oder spar­te er auf ei­ne Rüs­tung? Sie könn­te es ihm nicht ver­den­ken.

      Oh­ne ei­ne or­dent­li­che Rüs­tung war es schwer, sich au­ßer­halb von Be­hau­sun­gen oder Dampf­mo­bi­len auf­zu­hal­ten, aber Rüs­tun­gen wa­ren teu­er. Sie ver­schlan­gen Me­tall, Plas­tik, Dräh­te, Schmier­öl, Mem­bra­nen – Un­men­gen an Res­sour­cen, die be­grenzt wa­ren. So wie al­les auf der Er­de be­grenzt war seit der großen Dun­kel­heit. Ali­xe­na schloss die Au­gen für einen Au­gen­blick und sah wie­der die drücken­de Fins­ter­nis ih­rer Kind­heit, spür­te wie­der die aschen­graue Käl­te auf ih­rer Haut, wel­che Auf­ent­hal­te im Frei­en zu ei­ner Tor­tur ge­macht hat­te. Den Re­gen, der schmeck­te, als hät­te sie ei­ne Bat­te­rie ab­ge­leckt und von dem sie einen selt­sa­men Aus­schlag be­kam, als sie ein­mal heim­lich in den Pfüt­zen her­um­ge­sprun­gen war.

      Manch­mal gab es so­gar Schnee, der Kin­der krank mach­te. So vie­le wa­ren ge­stor­ben.

      Und nun hat­te sie auch Ge­ro ver­lo­ren. Ge­ro, mit dem zu­sam­men sie die­se Zeit über­lebt hat­te. Mit dem sie al­le Wi­d­rig­kei­ten ir­gend­wie über­ste­hen konn­te, weil al­lein sei­ne An­we­sen­heit al­les er­träg­lich mach­te. Die Krie­ge, den Hun­ger, die Käl­te. Spä­ter die Hit­ze und die Kämp­fe um al­les, was ge­gen die­se schütz­te.

      Oh­ne ihn fühl­te sie sich un­voll­stän­dig und schutz­los. Aber sie hat­te im­mer noch einen win­zi­gen Teil von ihm: Da­rio.

      Sie stol­per­te auf sei­ne Wie­ge zu, nahm ihn her­aus und brach ne­ben Fe­lix’ Bett zu­sam­men, den Säug­ling eng an sich ge­drückt. Ihr Kind war ihr ge­blie­ben, ihr ge­mein­sa­mes Kind. Ihr Sohn, der et­was von Ge­ro in sich trug, et­was von ih­rer Ver­gan­gen­heit. Sau­rer Re­gen auf Kin­der­haut. Ei­ne Ver­gan­gen­heit, die sich nie­mals wie­der­ho­len durf­te, so­lan­ge sie leb­te und dar­über hin­aus. Das war sie ihm schul­dig – und al­len an­de­ren Men­schen in ih­rem Ein­fluss­be­reich. Schluch­zer schüt­tel­ten ih­ren Kör­per und Ali­xe­na spür­te hei­ße Scham über ih­re Schwä­che. Sie war ei­ne War­la­dy. Sie muss­te die­se Emo­tio­nen im Zaum hal­ten. Ir­gend­wie. Aber sie konn­te nicht.

      War­me Hän­de leg­ten sich auf ih­re Obe­r­ar­me und sie spür­te, wie je­mand sie vor­sich­tig fest­hielt. Fe­lix. Er gab ihr Halt.

      Sie zog die Na­se hoch, leg­te Da­rio vor­sich­tig auf das Bett und wisch­te sich mit dem Arm über die Au­gen. »Es tut mir leid. Die­ser Aus­bruch … Ich hät­te nicht …«

      »Es ist gut, Myla­dy. Sie geht sich bes­ser er­fri­schen, ich ha­be be­reits die Zo­fen ru­fen las­sen. Die Ze­re­mo­nie des Ab­schieds ist nach dem Mit­tags­mahl. Ich hät­te ger­ne mehr Zeit ge­las­sen, aber die Hit­ze … Myla­dy ver­steht.«

      »Ja. Ich ver­ste­he.« Na­tür­lich. Sie hat­ten nur be­grenz­te Mög­lich­kei­ten, Ge­ros Kör­per zu küh­len. »Ich wer­de mich mei­nes Ran­ges ent­spre­chend ver­hal­ten.« Sie nahm ihr Kind wie­der an sich und ging hoch er­ho­be­nen Haup­tes in die an­gren­zen­den Räu­me – die, die sie mit Ge­ro ge­teilt hat­te. Die, in de­nen al­les sie an ihn er­in­nern wür­de, selbst die drei jun­gen Frau­en, die mit de­mü­tig ge­senk­ten Köp­fen dar­auf war­te­ten, sie nach der lan­gen Rei­se zu ver­sor­gen.

      Sie muss­te stark sein. Ge­ros Rei­se war ei­ne viel län­ge­re, und sie hat­te ihn an ih­rem Be­ginn zu be­glei­ten.

      So­bald die Son­ne end­gül­tig un­ter­ge­gan­gen war