Dietrich Novak

Das Verlangen und der Tod


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das erste Grün, und es sah ganz danach aus, als würde auch in diesem Jahr der Sommer bereits im April beginnen.

      Valerie Voss hatte keinen Blick für die ersten Frühlingsboten. Mit ihrer tiefschwarzen Kleidung sah sie noch strenger und trauriger aus, sofern das überhaupt möglich war. Sie kam beinahe täglich an diesen beschaulichen Ort. Noch immer war es für sie undenkbar, dass von ihrem geliebten Mann, Hinnerk, nichts als ein Häufchen Asche, die sich in einer Schmuckurne unter der Erde befand, übrig geblieben war. Aber es war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen, nicht in einer Holzkiste langsam zu zerfallen. Und Valerie, die ebenso darüber dachte, hatte diesen Wunsch nur allzu gerne erfüllt.

      Hinnerk Lange, ebenso wie Valerie Hauptkommissar beim LKA Berlin, war sozusagen für Volk und Vaterland gestorben. Wenn auch nicht zu Kriegszeiten, aber durchaus in übertragenem Sinne. Denn die Verbrechensbekämpfung war ihm genau wie Valerie ein Bedürfnis gewesen. Sicher, er hatte ständig mit dem Feuer gespielt, denn in ihrem Beruf musste man täglich mit dem Schlimmsten rechnen, aber dennoch hätte er in keinem anderen Beruf arbeiten wollen. Und es war immer gut gegangen, bis auf eine Schussverletzung in der Schulter und jenen verfluchten Tag, an dem er sozusagen ins offene Messer gelaufen war. Denn ein offensichtlich geistesgestörter Mörder, der bereits mehrere Menschenleben auf dem Gewissen hatte, eröffnete ohne Vorwarnung das Feuer, als Hinnerk seinen Unterschlupf – ein alter Bauwagen – betrat. (Siehe Band 16 „Das letzte Wort hat immer der Tod“) Seine mindestens ebenso skrupellose Freundin hatte nicht versucht, ihn davon abzuhalten. Wahrscheinlich hatte sie sein Handeln sogar gutgeheißen. Sie büßte jetzt ihre Verbrechen im Zuchthaus – lebenslang, und der Mann war auf der Flucht in einen Sattelschlepper gelaufen, was er nicht überlebt hatte. All das war kein Trost für Valerie, denn sie kannte keine rachsüchtigen Gefühle. Nur konnte sie sich ein Leben ohne den geliebten Mann kaum vorstellen.

      Routinemäßig entfernte sie ein paar lose Blätter von der Urnendoppelgrabanlage. Es war für sie beide außer Frage gewesen, dass sie auch im Tode nebeneinander ruhen wollten. Sie hatte diesen Mann so sehr geliebt, der schon Jahre ihr Kollege gewesen war, bevor sie sich näher gekommen waren. Und nach einem Intermezzo mit einer anderen Frau, das Valerie zur Scheidung bewegt hatte, waren sie nach deren tragischem Tod wieder näher zusammengerückt und hatten sogar ein zweites Mal geheiratet. Die Frucht ihrer Liebe war ihr reizender Sohn, Ben, der inzwischen volljährig war und eigene Wege ging.

      Unbemerkt hatte sich die alte Frau Valerie genähert.

      >>Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche<<, sagte sie vorsichtig. >>Aber Sie sind mir schon öfter aufgefallen. So oft, wie Sie hier sind.<<

      >>Ja, ohne meinen Mann ist das große Haus so leer. Und mir erscheint alles so sinnlos.<<

      >>Das kenne ich nur allzu gut. Mein Mann ist zwar schon seit einigen Jahren tot, aber ich komme immer noch oft hierher, weil ich mich hier ihm besonders nah fühle. Verrückt, nicht? Dabei weiß ich, dass hier nur seine verbrauchte Hülle liegt. Das was ihn ausgemacht hat, lässt sich hier nicht finden. Leider besucht er mich nur noch sehr selten in unserer Wohnung. Die erste Zeit war es häufiger. Damit fiel mir der Abschied etwas leichter. Aber Sie sind noch so jung, wer weiß, was das Leben noch bereit hält für Sie.<<

      >>So taufrisch bin ich auch nicht mehr. Schließlich haben wir bereits einen erwachsenen Sohn<<, sagte Valerie mit bitterem Unterton.

      >>War es ein Unfall oder eine schwere Krankheit? Verzeihen Sie, wenn ich frage. Aber er war doch in einem Alter ...<<

      >>Mein Mann ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Ein Risiko, das er einkalkuliert hat. Wir sind nämlich beide Hauptkommissare beim LKA. Sehen Sie schon wieder … Ich spreche, als wäre er noch da.<<

      >>Das ist doch ganz natürlich, so kurz nach … Hat man denn den Täter wenigstens gefasst?<<

      >>Schon, aber Sie verstehen, dass das kein Trost für mich ist. Ich wollte sogar meinen Beruf aufgeben, weil ich den Glauben an das Gute im Menschen verloren habe. Doch ...<<

      >>Doch jetzt haben Sie es sich anders überlegt?<<

      >>Nein, ja … Morgen trete ich wieder meinen Dienst an. Etwas, das ich vor wenigen Wochen noch für unmöglich gehalten habe. Aber Hinnerk hat an meine Pflicht und unser Lebensziel appelliert. Nicht dass Sie jetzt glauben, ich könne mit Toten kommunizieren … Es war mehr seine Stimme in meinem Kopf … Als wäre er noch bei mir.<<

      >>Das ist er bestimmt auch, meine Liebe. Manche Seelen brauchen etwas länger, um hinüberzugehen. Und bei Gewaltverbrechen … Ach, was rede ich denn. Ich will nur ausdrücken, dass ich Sie keinesfalls für überspannt halte. Im Gegenteil, ich danke für Ihr Vertrauen, das Sie mir schenken. Und falls Sie jemanden zum Reden brauchen – Ich bin gerne für Sie da. Martha, heiße ich übrigens.<<

      >>Angenehm, Valerie.<<

      Dr. Paul Zeisig, seines Zeichens Abteilungsleiter der Mordkommission – gefürchtet und obgleich seiner Strenge von einigen sogar gehasst – war an diesem Morgen früher als sonst im Büro. Marlies Schmidt, die gute Seele der Abteilung – von allen nur liebevoll Schmidtchen oder Lieschen genannt, machte große Augen, als Zeisig in der Tür stand. Sie war gerade im Begriff einen kleinen Blumenstrauß in einer Vase zu arrangieren.

      >>Musste das Gemüse unbedingt sein?<<, fragte Zeisig süffisant. >>Frau Voss soll nicht das Gefühl bekommen, dass es etwas Besonderes ist, wenn sie wieder ihrer Arbeit nachgeht.<<

      >>Warum eigentlich nicht?<<, begehrte Marlies auf. >>Nach längeren Reisen oder Krankheiten begrüßen wir uns immer mit Blumen. Und darf ich Sie erinnern, dass Valerie nur aufgrund Ihres hartnäckigen Überredens zurückkehrt?<<

      >>Das dürfte noch die Frage sein. Frau Voss tut grundsätzlich nur, was sie will. So gut kenne ich sie schon. Ihre Rückkehr haben wir wohl einer höheren Macht zu verdanken. Aber packen Sie Ihre Boxhandschuhe wieder ein. Ich habe ja nichts gegen einen Begrüßungsstrauß, aber es erinnert sie vielleicht zu sehr, was zu ihrer Auszeit geführt hat.<<

      >>Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wie dumm von mir. Soll ich lieber die Blumen ... ?<<

      >>Nein, lassen Sie es, wie es ist, Sie grundgutes Kind. Ich bitte nur darum, ein gewisses Thema zu meiden, soweit sich das bewerkstelligen lässt.<<

      >>Was denken Sie denn? Dass wir alle gefühllose Holzklötze sind?<<

      >>Natürlich nicht. Ich meine nur … Ach der Kollege Bremer … Guten Morgen! Sind Sie mit Ihrem neuen Arbeitsplatz einverstanden?<<

      >>Aber sicher doch. Ich kann ja froh sein, dass es mir nicht wie Kollegin Thiel ergangen ist.<<

      >> Seien Sie nicht albern. Gegenüber Kommissarin Julia Thiel habe ich von vornherein deutlich gemacht, dass sie nur vertretungsweise hier ist. Im Gegensatz zu Ihnen. Wir haben einen Hauptkommissar verloren, und da ist es nur rechtens, dass wir einen neuen bekommen. Aber ein anderes Thema, bitte, ich sehe gerade Frau Voss um die Ecke biegen.<<

      Valerie kam mit unergründlicher Miene den Gang entlang und blieb dann vor Dr. Zeisig stehen.

      >>Guten Morgen, Frau Voss. Ich freue mich außerordentlich, Sie wieder bei uns zu haben.<<

      >>Danke für die Blumen. Dabei haben Sie mich des Öfteren auf den Mond gewünscht.<<

      >>Wie ich sehe, sind Sie wieder fast die Alte. Darf ich Ihnen gleich Ihren neuen Kollegen, Hauptkommissar Bremer vorstellen?<<

      >>Hallo, ich bin Konstantin.<<

      >>Hallo, Valerie.<<

      >>Freut mich. Ich war schon ganz gespannt auf Sie. Soviel, wie ich über Sie gehört habe.<<

      >>Ja, genug der Nettigkeiten<<, sagte Zeisig. >>Wo ist eigentlich Kollege Wieland?<<

      >>Habe ich da gerade meinen Namen gehört?<< Heiko Wieland stürmte in