Michael Lindner

Der Fluch


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sie stinkt!“ erwiderte sie in harschem Ton, klappte die Schere zusammen und trat vom Balkon. Kurz glaubte er einen Verwesungsgeruch bemerkt zu haben, als sich die Frau schnaubend an ihm vorüber schob. Er warf noch einen schnellen Blick auf den in der Dunkelheit verschwindenden Ozean und folgte ihr dann nach drinnen, wo es bereits dämmrig war. Der weiße Schürzenzipfel verschwand gerade hinter dem Türstock und er hörte sie noch die Holztreppe hinab trampeln. Dann war alles still.

      Als er nach draußen in den Korridor kam, sah er, dass unter einer der Türen hindurch einen Spalt breit Licht fiel. Er ging daran vorbei, zum Geländer hin. Irgendjemand hatte die Kerzen angezündet. Ihr flackernder Schein warf riesenhafte Schatten an die getäfelten Holzwände. Langsam stieg er die knarrende Treppe hinab, schlich an den grimmigen Blicken der Männer auf den Bildern vorbei, zurück zum Durchgang, der in das Schlafzimmer führte. Der Vorratsraum war hell erleuchtet. Er trat darauf zu. Entsetzlicher Gestank stieg in seine Nase. Über den Regalen brannten zwei Wandfackeln und darunter stand, neben all den Kokosnüssen und dem gedörrten Fleisch, der schwarze Plastikkübel der Dienstbotin. Die große, rote Blüte hing über den Rand hinunter. Mit zugehaltener Nase besah er die borstigen schwarzen Härchen, die den dicken, gebogenen Stiel überzogen, die dunkelgrünen Blätter, die daraus entwuchsen und trompetenförmig weiterliefen bis zum Rand, wo sie dunkelrot gefleckt waren. Er ging in die Knie, und warf von unten einen Blick hinein in die Öffnung. Es schimmerte violett daraus hervor und an den Seiten verliefen drei wulstige Leisten bis zum Boden der Kanne, wo sich kleine Fangarme sternförmig rund um eine weiße Rosette rankten. Er senkte den schwer gewordenen Kopf, hob ihn abermals, da öffnete sich lautlos der helle Fleck, gab ein dahinterliegendes schwarzes Loch frei und schloss sich wieder.

      Erschrocken torkelte er zurück, sprang auf und drückte gegen die Türe. Sie gab nicht nach. Jemand stemmte sich von außen dagegen. Ein schwarzer Unterarm tauchte kurz auf, und er schrie und drückte, aber seine Kraft reichte nicht aus. Die Türe fiel ins Schloss und der eiserne Riegel schob sich geräuschvoll in die Verankerung. Er ließ sich zitternd zu Boden sinken, blickte nach oben und sah die Umrisse des Blütenkopfes größer werdend langsam auf ihn zukommen. Grauenhafter Gestank hüllte ihn ein, vernebelte seine Sinne. Schwindel befiel ihn. Dunkelrote Flecken verschwammen vor seinen Augen, alles wurde schwarz, der noppige Schlauch kratzte an beiden Wangen und stülpte sich schabend über ihn. Eine bittere, klebrige Flüssigkeit rann aus den Poren, füllte seine Nase und den Mund. Die Arme und Beine wurden steif und es sog ihn wie ein betäubtes Insekt in den Trichter hinein, bis der Kopf stecken blieb und die Luft immer weniger wurde. Er atmete nur noch ruckartig, das Herz flog kraftlos und er spürte einen dumpfen Schlag in der Brust.

      Da erwachte er schreiend, den offenen Mund auf den Unterarm gedrückt. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.

      *

      Der nächste Morgen brach an und Robin weckte das Vogelgeschrei, so wie jeden Tag. Er hatte ein eigen­tümliches Gefühl und alles, was geschehen war, machte ihm den Anschein, als wäre es ganz unwirklich. Mit Schaudern erinnerte er sich an den Traum, aber sofort fiel ihm Nuii ein. Müde schleppte er sich die Treppe hoch, den Gang entlang und trat auf den Balkon. Ein paar Meter weiter war er gesessen.

      „Vielleicht ist er gar nicht mehr da“, dämmerte es ihm. „Er konnte doch nicht hier geschlafen haben.“

      Er rief ihn, aber es kam keine Antwort und auch da, wo die Fackel eingezwängt war, zwischen den zwei Holzstreben am Balkon, war nichts von ihm zu sehen, nicht die geringste Spur.

      „Womöglich ist er ja draußen“, sagte er zu sich selbst. Er ging die paar Stufen hinunter auf den großen Platz, bis zurück zu den Palmen. Aber auch dort war er nicht. Robin war beunruhigt. Er fragte sich, wo er geblieben sein konnte. War er etwa davongelaufen ohne ihm ein Wort davon zu sagen? Er wollte es nicht glauben. Er hielt es einfach nicht für möglich. „Er hatte ihm schließlich das Leben gerettet“, dachte er. Er hatte ihn bei sich aufgenommen. So etwas tut man nicht, war er sich sicher.

      Er ergriff einen Stock, der am Boden lag, und schleuderte ihn missmutig ins Gebüsch, dass ein paar Vögel aufgeschreckt wegflogen. Dann marschierte er zum Haus, wartete eine Zeit lang und kam wieder zurück. Ein paar Mal lief er die Strecke bis zu den Palmen hin und her, ging um das Haus herum, suchte alles ab, schaute in jedem Winkel, doch er konnte ihn nicht finden. Schließlich gab er auf. Er war niedergeschlagen und mutlos und bald darauf wurde er wütend. „Wenn er gar glaubte, er könnte hier wieder hereinspazieren, dann hatte er sich getäuscht“, schwor er sich.

      Insgeheim aber hoffte er, er käme gleich irgendwo aus dem Wald spaziert. Doch nichts dergleichen geschah. Weder an diesem Tag, noch am nächsten. Robin war wieder alleine. In der darauffolgenden Nacht brach ein schreckliches Unwetter über die Insel herein. Ein solches, wie er es nur selten erlebt hatte.

      Sosehr er sich an das Alleinsein gewöhnt hatte, sosehr war er nach so langer Zeit wieder froh gewesen, mit jemandem sprechen zu können. Er hatte sich schon darauf eingestellt, in Nuii einen Gesprächspartner zu finden. Er war nicht im Geringsten so, wie er sich einen Wilden vorgestellt hatte, sondern ganz anders, mit menschlichen Zügen, wie er fand. Am nächsten Morgen, dem dritten Tag nach seinem Verschwinden, an dem die Sonne so freundlich vom Himmel schien und die Vögel zwitscherten wie eh und je, wollte er den Strand aufsuchen.

      Er ging zu der alten Dattelpalme, die sich sanft zum Wasser neigte. Es war die einzige Palme auf der ganzen Insel, die er kannte, die auf eine solche Weise gewachsen war. Er staunte jedes Mal wieder, dass der Stamm geradezu dafür geschaffen schien, darauf Platz zu nehmen. Er kam aus der Erde, dick und fest und wandte sich sogleich, wie man es kaum für möglich hielte, dem Boden in engem Bogen zu, wuchs ein gutes Stück in horizontaler Linie Richtung Meer hinaus, krümmte sich dann allmählich dem Himmel entgegen, ehe er sich weiter oben, wo die jüngeren Triebe waren, beinahe senkrecht aufrichtete. Von den grünen Palm­blättern, die sich wie ein riesiger Schirm auffächerten, fiel ein Schatten auf das türkisblaue, sanft plätschernde Meerwasser, das in leichten Wellen an das Ufer schlug. Robin baumelte mit den Beinen und sah hinab zum dunklen, nassen Sand und den feinen Bläschen, die gleich wieder verschwanden nach jedem Wellengang und dachte, dass sie wohl vom Salz stammen mussten und davon, dass das Salz das Wasser, bevor es versickerte, kurz aufschäumen ließ. Wie oft war er hier schon gesessen! Wie oft hatte er den Zikaden gelauscht, während ihm der Wind leicht über den Rücken strich! Viele einsame Stunden hatte er hier verbracht.

      Er sinnierte darüber nach, wie es wäre, wenn er das Haus verlassen würde, wie es wäre, würde er alles zurücklassen und zurückkehren in die alte Welt, das alte Leben. Er vermisste sein Boot, das auf der anderen Seite der Insel lag, im Ufergestrüpp verborgen, sodass man es nicht sehen konnte. Weder vom Wasser, noch vom Land war es sichtbar, denn die Stelle, wo er es versteckt hatte, war völlig unzugänglich. Es sei denn, man marschierte einen Kilometer weit im seichten Wasser der Lagune, schwamm dann noch eine Weile in eine bestimmte Richtung bis es tiefer wurde, dorthin, wo die großen Steine das Ufer säumten.

      Die Sonne stand jetzt höher am Himmel, es wurde wärmer und er erinnerte sich an Australien und wie er auf der Suche war.

      Ein Verkäufer fragte ihn damals, wozu er ein so großes Boot brauchte und ob es ein kleineres nicht täte. Robin meinte, es wäre eine alte Sehnsucht von ihm, er wollte schon immer einen Segeltörn machen, alleine, von allem befreit, zwei Wochen lang auf hoher See. Und er wollte Papua ansteuern.

      „Was wollen sie dort tun?“ fragte der Mann.

      „Ich besuche einen Freund. Er lebt dort. Ein Aussteiger.“

      „Kennen sie das Meer?“ fragte der Verkäufer weiter.

      „Ja, ich kenne Spanien und die Küste, ich kenne das Mittelmeer.“

      Der Mann ließ nicht locker. Als wollte er ihn von seiner Idee abbringen, drang er auf ihn ein. „Und den Pazifik?“

      „Den Pazifik? Nein, den Pazifik kenne ich nicht.“

      „Sie müssen wissen“, sagte der Mann, „der Pazifik ist etwas anderes als das Mittelmeer. Es gibt hier höhere Wellen und Stürme.“

      „Ich weiß es“, sagte er, als müsste er ihn überzeugen.