bzw. Westberlin) aufwuchsen, von dem sie es gewohnt waren, dass er sich mehr um Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit bemühte als das heute der Fall ist, und die bis heute zumeist in Lohn und Brot geblieben sind. Der über weite Strecken schleichende, seit über dreißig Jahren andauernde Abbau dieses Wohlfahrtsstaates (vgl. Kap. 2.2.2), rückt daher so manchem nur ebenso schleichend ins Bewusstsein. Und der Autor selbst fragt sich zuweilen, wie er die Dinge heute wohl sehen würde, hätte er einst seine Arbeit behalten und weiter Karriere machen können. Offenbar führt in vielen Fällen nur eigenes Erleben zu anderen Einsichten bzw. zur Schärfung der Wahrnehmung. Aber selbst dann erscheinen sogar dem Autor noch viele der tief greifenden Veränderungen (z. B. auch in der Staatlichen Rentenversicherung, vgl. Kap. 5.4ff) als wahrhaft unglaublich, angesichts der gehörigen Portionen an Kaltschnäuzigkeit, Menschenverachtung und Gleichgültigkeit oder auch nur an blanker Dummheit die dahinter stehen müssen. Also ist es von daher nicht so sehr verwunderlich wenn breite Bevölkerungsschichten, die weniger prekären Lebensbedingungen ausgeliefert sind bzw. diesen noch nicht ausgeliefert sind und zudem einer recht subtilen und ausgefeilten Propaganda ausgesetzt sind, Probleme mit o. g. harscher Kritik haben können. Die über viele Generationen gewachsene und verfestigte Autoritätshörigkeit vieler Deutscher, welche nicht gerade Hinterfragungen und Aufbegehren fördern, trägt mit Sicherheit seinen Teil, wenn nicht den ausschlaggebenden dazu bei (vgl. Kap. 2.4.1). Jedoch zeigt das eingangs angeführte Zitat von Prof. Werner, einem erfolgreichen Unternehmer, dass es wohl nicht unbedingt der eigenen Erfahrung braucht um das Wesen bestimmter Dinge klar erfassen zu können.
„Leben“ unter den Hartz-Gesetzen, das ist alles andere als ein freies, selbstbestimmtes Leben im eigentlichen und besten Sinn, weshalb dieser Begriff hier in Anführungszeichen geschrieben wurde, sondern es gleicht infolge seiner allumfassenden Be- und Einschränkungen (offener Strafvollzug) i. d. R. eher einem Dahinvegetieren und im schlimmsten Fall – wurde ein Mensch bis zu seiner seelischen Erschöpfung vollends gebrochen – einem Dahinsiechen. Die willkürliche Bevormundung, Überwachung und Erpressbarkeit der Menschen unter dem Joch der Hartz-Gesetze führt zu Unsicherheit und Angst, macht das Dasein für diese Menschen nicht mehr, oder nur noch sehr eingeschränkt plan- und steuerbar; es ist ein Dasein unter ständiger, mehr oder weniger latenter (An)Spannung in einer permanenten Krise, die man als „Alarmstufe Gelb“ bezeichnen könnte. Bezeichnend für diesen Zustand mag die Angst von ALG II-Beziehenden vor dem unberechenbaren, permanent drohenden Unheil aus dem Briefkasten stehen, dem sie sich jeden Tag aufs Neue, oft mit flauem Gefühl im Magen und erhöhter Herzfrequenz, nähern müssen; vielleicht ein wenig vergleichbar mit der Anspannung von Gazellen und Gnus in der Savanne, die in großer Dürre aus einem Wasserloch trinken müssen, in dem möglicherweise bereits die Krokodile lauern. Irgendwelche Pläne, die Sie geschmiedet haben, berufliche Veränderungen, Weiterbildung, Wohnung, Selbständigkeit etc. können von einem Tag auf den anderen durch einen einzigen Federstrich zunichte gemacht werden, und das potenziell jeden Tag, denn Sie haben verfügbar zu sein und wenn es für den größten Unsinn (in Ihrem und der Gesellschaft Sinne) ist, worüber Sie jedoch nicht mehr zu befinden haben. Jeden Tag kann ein Schreiben vom Jobcenter im Briefkasten sein, das Sie dazu auffordert in den nächsten Tagen zu einem Termin im Jobcenter zu erscheinen oder zum dritten oder vierten Mal irgendein Dokument beizubringen, weil Sie es angeblich bisher nicht abgegeben haben und Sie Ihrer sog. Mitwirkungspflicht nachkommen sollen usw. So ist es auch gefährlich (Kürzungen des ALG), sich ohne Erlaubnis vom Wohnort zu entfernen, womit faktisch Ihre Bewegungs- bzw. Reisefreiheit eingeschränkt wird.
Kummer, Frust und Sorgen über ungelöste oder unlösbare Konflikte, über verpasste Gelegenheiten im Gespräch mit Angestellten im Jobcenter, über die linkische und herabwürdigende Behandlung von diesen Mitarbeitern, über die eigene Ohnmacht, über ständige Enttäuschungen und Perspektivlosigkeit lassen einen nicht zur Ruhe kommen, nicht einschlafen, zu früh aufwachen und dann nicht mehr einschlafen, ständig im Stand-by-Modus, ständig unter Strom bzw. auf Alarmstufe Gelb. Dass hier die „Fieberkurve“ bei akuter existenzieller Bedrohung (Kürzung oder gar kompletter Wegfall des ALG, drohende Wohnungslosigkeit, nicht zahlen können von Eigenanteilen für eine dringende medizinische Versorgung etc.) noch um einiges nach oben gehen kann (Alarmstufe Rot), ist sicher nachvollziehbar. Entgegen der z. T. noch verbreiteten Annahme, ALG II-Beziehende seien wie früher Arbeitslosenhilfeempfänger von der Zuzahlung zu medizinischen Leistungen befreit, müssen diese wie alle anderen Zuzahlungen bis zu zwei Prozent ihres Jahreseinkommens leisten bzw. ein Prozent bei chronischen Erkrankungen, die jedoch immer restriktiver anerkannt werden.
Ein Dasein unter den Hartz-Gesetzen kann sehr häufig ein ziemlich freu(n)dloses und trostloses Dasein sein. Hier kommt dem Geld als limitierenden Faktor eine sehr zentrale Bedeutung zu, und dies umso mehr je weiter unsere Gesellschaft durch ökonomisiert wird. Was für andere i. d. R. eine Selbstverständlichkeit ist, über die sie nicht nachdenken müssen, wie z. B. sich unbeschränkt von A nach B befördern lassen zu können, ist für viele ALG II-Beziehende in Ermangelung von Fahrgeld für ein öffentliches Verkehrsmittel schon lange nicht mehr selbstverständlich. Allerdings beschränken sich diese Probleme nicht nur auf diesen Personenkreis, sondern sie erfassen eine wachsende Zahl von prekär Beschäftigten, Rentnern, Jugendlichen, Sozialhilfeempfängern und Kranken, worauf in den folgenden Kapiteln noch näher eingegangen wird. Bereits hier werden nicht selten viele Aktivitäten, wie der Besuch von Freunden und Verwandten, der Ausflug ins Grüne oder zu irgendwelchen Veranstaltungen im Keim erstickt – sie sind nicht mehr erreichbar. Der Besuch irgendeines Volkshochschulkurses, eines Tanzkurses oder das Entrichten eines Mitgliedsbeitrages für einen Sportverein gerät zum unerfüllbaren Luxus. Zwar sind z. B. in Berlin die Kursgebühren für Volkshochschulkurse deutlich für Bedürftige ermäßigt, jedoch sind die Kursgebühren in den letzten Jahrzehnten so drastisch angehoben worden, wie für viele andere öffentliche Dienstleistungen, wie z. B. für die Benutzung von Schwimmbädern (Politik des schlanken Staates, s. u.), dass die genannten Ermäßigungen diese Kursgebührerhöhungen längst nicht mehr ausgleichen. Und wenn das Geld ohnehin weder vorne noch hinten reicht bleibt eben auch kein einziger Euro für o. g. Ausgaben übrig. Früher erwarb der Autor regelmäßig eine ganze Reihe von Zeitschriften und Nachrichtenmagazinen. Dies, wie der regelmäßige und ganzwöchentliche Erwerb einer seriösen Tageszeitung, ist unerschwinglich geworden. Das Internet bietet dafür nur bedingt einen Ersatz, den es aber ebenfalls nicht umsonst gibt, zumal nun immer häufiger Nutzungsgebühren ins Gespräch kommen.
Abgesehen von der Wohnungsmiete müssen von einem monatlichen Regelsatz im SGB II von 382 Euro (2013) für einen Erwachsenen alle anderen Bedarfe abgedeckt werden. Legt man für einen durchschnittlichen Monat 30,5 Tage zugrunde, hat man also durchschnittlich rund 12,52 Euro pro Tag zur Verfügung, von denen wie gesagt das ganze Leben bestritten werden muss. Anschaffungen wie Waschmaschinen, PC, Möbel, Kleidung usw., die früher von der Sozialhilfe separat und voll erstattet wurden, müssen heute allein von den 382 Euro ALG II finanziert werden. Dieses Geld reicht also gerade zu einem nackten Dasein („Existenzsicherung“) bzw. zu einem langsamen, allmählichen Absterben, einem Dahinsiechen, nicht aber für o. g. „Luxus“, es sei vielleicht denn, man verlegt sich auf das enthaltsame und geistige Leben eines Mönches, wozu man sich jedoch ernsthaft berufen fühlen sollte. Besagter Regelsatz setzt sich aus verschiedenen Bedarfskategorien zusammen. So sind z. B. für die Mobilität, also den Bedarf „Verkehr“ 6,3 Prozent des Regelsatzes vorgesehen, was 24,07 Euro entspricht. Z. B. eine ermäßigte, sog. Sozialmonatskarte, mit der man sich ausschließlich im Berliner Stadtgebiet bewegen kann, ohne Beförderung eines Fahrrades, die extra bezahlt werden muss, kostet aber Anfang 2013 bereits allein 36 Euro. Für den Bedarf „Wohnen, Energie, Wohninstandhaltung“ werden 31,94 Euro veranschlagt. Der allein wohnende Autor zahlt allein für Strom monatliche Abschläge von 35 Euro bei einem Jahresstromverbrauch von 1.177 kWh (2012). Der durchschnittliche Jahresstromverbrauch eines 1-Personenhaushaltes betrug im Jahr 2012 nach Angaben des Versorgers Vattenfall Europe Sales GmbH 2.050 kWh. Für den Bedarf „Bildung“, die doch immer wieder als so überaus relevant hervorgehoben wird (Zitat v. Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wir müssen es schaffen, dass lebenslanges Lernen wirklich Alltag wird“) werden im Regelsatz 0,38 Prozent (!) ausgewiesen, was stolzen 1,46 Euro entspricht. Das, was hier über die Regelsatzbedarfe hinaus ausgegeben wird, muss also woanders eingespart, oder irgendwie anders beschafft werden, fragt sich nur wie.
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