Udo Schenck

Der große Reformbetrug


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mehr mithalten und nach und nach wird man abgehängt. Dann kommen von diesen Freunden und Bekannten häufig noch gut(?) gemeinte Ratschläge – mach doch was anderes (beruflich). Nur was, das wissen sie zumeist nicht – die aber häufig aus Unkenntnis nicht praxistauglich sind oder einfach nur so dahingesagte und von jeder Herzenswärme und Gewissenhaftigkeit verlassene „Ratschläge“ aus einer Laune heraus, womit sich dann allmählich die Spreu vom Weizen trennt, also nur noch wenige oder gar keine Freunde mehr übrig bleiben, die diesen Namen verdienen. Und so kann es kommen, dass man da am einsamsten ist, wo man am dringendsten eine/n Freund/in bräuchte. Unangenehm, peinlich bis demütigend können Einladungen von Freunden und Bekannten u. a. zu Geburtstagen werden, weil man kein Geld für Geschenke hat, wenngleich man doch so gern etwas verschenken möchte. Aus Scham meiden die Betroffenen dann nicht selten solche Einladungen, womit soziale Beziehungen Risse bekommen und sich allmählich auflösen können. Und erst recht tut es besonders dann weh, kann man seinen eigenen Kindern nichts, oder nicht das schenken was sie sich wünschen, was aber für andere, besser situierte Menschen überhaupt kein sichtbares Problem ist, mit dem sie sich beschäftigen müssen. So „frohe“ (Konsum)Feste wie Weihnachten können sich dann schon mal zu einem wahren Alptraum auswachsen, dem man mit Grausen entgegenblickt.

      Vor ähnlichen Problemen stehen verschieden- und gleichgeschlechtliche Partnerschaften, wobei Männer, die ökonomisch nichts mehr zu bieten haben, scheinbar noch betroffener sind. Es scheint so, dass in diesen wirtschaftlich schlechten Zeiten viele Frauen ihr Augenmerk wieder mehr auf besser situierte Männer ausrichten, als das in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten der Fall war. So erscheinen Männer, die keine Familie ernähren können als unattraktiver. Aber auch die Tatsache, dass nach den Hartz-Gesetzen der/die unverheirateten Lebenspartner/in in Notsituationen (Arbeitslosigkeit) füreinander einstehen sollen, führt zu Trennungen und häufig auch dazu, dass Partnerschaften mit ALG II-Beziehenden erst gar nicht mehr eingegangen werden. Übrigens mögen auch diese Umstände, neben den häufigen wirtschaftlichen und beruflichen Problemen gerade junger Menschen, ihren Teil zu der geringen Geburtenrate in unserem Lande beitragen, werden doch die demographischen Veränderungen so gern zur Rechtfertigung für weitere einschneidende „Reformen“ genommen (vgl. Kap. 3.1). So ist ab und an zu vernehmen, dass man sich lieber nicht mit Arbeitslosen einlassen möchte, denn da gäbe es nur Probleme und man könne dann auch nichts unternehmen, sich nichts leisten und nicht in den Urlaub fahren, einmal von der allgemeinen Ächtung Arbeitsloser abgesehen, die sie bald in den Rang von Aussätzigen überführt. Hat man als Erwerbslose/r in seinem sozialen Umfeld doch eine/n Partner/in gefunden, kann es zu einer Zerreisprobe werden, muss man doch der Forderung folgen, sich Deutschlandweit zu bewerben und ggf. woanders hinzuziehen. Auch darauf sind unzählige Trennungen zurückzuführen.

      Ein zentrales Problem, das bewältigt werden will ist, feststellen bzw. akzeptieren zu müssen, dass einem u. a. infolge zu geringer Berufserfahrung oder/und weil man zu lange aus dem Erwerbsleben raus ist und man bereits als zu alt für den Arbeitsmarkt gehalten wird, die Felle davon schwimmen, dass beim besten Willen nichts mehr geht, dass es unter den gegebenen Umständen eigentlich nur noch abwärts geht bzw. gehen kann. Gerade schwer vermittelbaren älteren Erwerbslosen werden dann zumeist prekäre Arbeitsverhältnisse inklusive sog. Arbeitsgelegenheiten des zweiten Arbeitsmarktes (vgl. Kap. 5.2.1) aufgezwungen, die zudem nicht die Lebenssituation Älterer berücksichtigen und mit denen es erst recht nicht mehr möglich ist für eine auskömmliche Altersvorsorge aufzukommen, weder über die staatliche Rentenversicherung noch privat (vgl. Kap. 5.4ff). Ferner nagt der Eindruck, scheinbar nicht mehr gebraucht zu werden, bei sehr vielen Erwerbslosen nachhaltig an ihrem Selbstbewusstsein. Und so kommt eins zum anderen, womit die Stimmung der Betroffenen nicht gerade gehoben wird, was ebenso von der Umwelt wahrgenommen wird, die sich nicht so gern mit schlecht gelaunten, frustrierten oder gar depressiven Menschen abgeben möchte – ein Teufelskreis. Es gehört sicher nicht viel Phantasie dazu, sich vorstellen zu können, dass in solch einem Schattendasein das lichthungrige Wesen der Kreativität Gefahr läuft zu verkümmern, ebenso wie alle anderen Lebenskräfte. Und ist man dann endgültig auf den Hund gekommen, so kann man sich noch nicht einmal mehr den halten, womit dann nur noch in die „Röhre zu gucken“ übrig bleibt. Denn wenn ein Hund oder eine Katze zum Arzt müssen kann es richtig teuer werden.

      Ein süßes Schmarotzerleben, wie es propagandistisch und scheinheilig viele Politiker bzw. gewissenlose Brandstifter Erwerblosen unterstellen, sieht dann wohl doch „etwas“ anders aus. So mancher provokant angeblich so glückliche Arbeitslose, der da so gern von bestimmten, nicht nur privaten TV-Sendern und Boulevardblättern präsentiert bzw. kolportiert wird, erweist sich dann bei genauerem Hinschauen doch nur als ein Fake, eine fingierte Phantasiefigur, mit der man die Menschen aufzuwiegeln versucht.

      Die Wissenschaftler Daniel Oesch und Oliver Lipps, von der Universität Lausanne, sind mit einer Untersuchung der Befindlichkeit von Arbeitslosen auf den Grund gegangen (vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftswissenschaften DIW Berlin (2011): „Does unemployment hurt more if there is less of it around?“). Die Ergebnisse dieser Untersuchung beruhen auf der Auswertung des deutschen Sozio-ökonomischen-Panels (SOEP) aus den Jahren 1984 bis 2009 und dem schweizer Haushalts-Panel (SHP) der Jahre 2000 bis 2009. Die Wissenschaftler konnten die häufig vertretene, wie ideologisch verbrämte These widerlegen, nach der bei Arbeitslosen ein Gewöhnungseffekt (sog. Hysterese-Effekt) an ihre Arbeitslosigkeit eintreten würde. Nach dieser These wird behauptet, dass der Leidensdruck durch die Arbeitslosigkeit mit zunehmender Dauer oder bei häufigen Verlusten der Arbeitsstelle abnehmen würde. Demnach würden sich Arbeitslose an ihre Situation gewöhnen, sich scheinbar bequem im Sozialleistungsbezug einrichten und nicht mehr nach Arbeit suchen.

      Nach der o. g. Untersuchung von Oesch und Lipps mindern jedoch weder Dauer noch Häufigkeit der Arbeitslosigkeit den Leidensdruck der Arbeitslosen. Vielmehr verschlechtere sich das Wohlbefinden, je länger die Arbeitslosigkeit andauere. Langzeitarbeitslose hätten danach eine deutlich geringere Lebenszufriedenheit als Kurzzeitarbeitslose und Personen mit einer länger als ein Jahr andauernden Arbeitslosigkeit wiesen die geringste Lebenszufriedenheit auf. Darüber hinaus mache es keinen Unterschied, ob die Arbeitslosen in einer Region mit hoher oder niedriger Arbeitslosigkeit leben würden oder ob sie in einer wirtschaftlichen Rezessions- oder Aufschwungphase arbeitslos wären. Arbeitslosigkeit belaste also nicht weniger, wenn viele Menschen davon betroffen sind. Von einem komfortablen Einrichten oder einer gewollten Arbeitslosigkeit könne also nicht gesprochen werden, so die Wissenschaftler. So gelangen die Forscher aus Lausanne zu dem Schluss, dass Kürzungen von Arbeitslosengeld und Hartz IV-Leistungen kaum in Arbeit bringen würden, sie würden „ein schwieriges Leben nur elender“ machen. Den sog. Hysterese-Effekt erklären die Forscher daher nicht mit einer sinkenden Arbeitsbereitschaft der (Langzeit-)Arbeitslosen. An Stelle dessen seien ein verringertes Selbstbewusstsein und die länger zurück liegende Erfahrung mit Arbeit in Verbindung mit Vorbehalten von Arbeitgebern Hintergrund für Probleme bei der Suche nach einer Stelle. Daher solle sich eine sinnvolle Arbeitsmarktpolitik weniger auf Sanktionen und mehr auf eine Erhöhung der Arbeitskräftenachfrage und effektive Qualifizierung und Unterstützung von (Langzeit-)Arbeitslosen bei der Arbeitssuche konzentrieren.

      2 Warum diese Reformen

      Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst

      Immanuel Kant (kategorischer Imperativ)

      Die jüngsten, Arbeitsmarktreformen oder sog. Hartz-Reformen, die gemeinhin unter der Bezeichnung „Hartz-IV“ – „Viertes Gesetz über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ – einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden, sind nur einige neben anderen, wie z. B. den sog. Gesundheits- oder Rentenreformen, welche im Rahmen der sog. Agenda 2010 in den letzten Jahren auf den Weg gebracht wurden. Die Regelungen dieser Arbeitsmarktreform gliedern sich indessen in die Gesetze Hartz-I bis Hartz-IV, welche zwischen 2003 und 2005 in Kraft traten. Die Hartz-Reformen bzw. ihre entsprechenden Gesetze wurden nach dem Namen des damaligen VW-Personalvorstandsmitglieds Dr. Peter Hartz benannt, der federführend in der Kommission – auch Hartz-Kommission – zur Erarbeitung dieser Gesetze tätig war und mittlerweile wegen Korruption rechtskräftig verurteilt wurde.