Ulf Imwiehe

Gut Nass


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sie sich warm.

      »Weißt du, Felix, wenn es eines gibt, dass ich in all meinen Dienstjahren gelernt habe, und ich habe einiges erlebt und gesehen, kann ich dir sagen, also, wenn ich eines gelernt habe, dann das: Manchmal wird ein Kapitel im Buch des Lebens aufgeschlagen, das man nicht sofort versteht. Weil man es nicht lesen kann, weil einem die Vokabeln fehlen oder was weiß ich, ist ja auch egal. Also, Rätsel. Kann man ruhig davor stehen wie der, wie geht denn noch diese Sprichwort da, das mit dem Ochsen...? Jedenfalls darf man auch mal sagen, ich verstehe das nicht. Ist doch keine Schande! Wer weiß schon alles? Eben, keiner! Aber man muss den Mut haben, zu fragen. Oder aber wissen, wo das Wörterbuch steht. Das Lexikon. Oder ihr jungen Leute heute mit eurem Wiki-Dings und Google und wie das alles heißt. Ist doch alles da! Alles, was einem mitgegeben wird, zum Beispiel in der Berufsausbildung, das muss man als Rüstzeug begreifen, als Fundus, vor allem für die Momente, wenn es eng wird, kniffelig...«

      »Um es kurz zu machen, Herr Freiwaldt«, fällt Bürgermeister Marther ihr ins Wort und vergisst wie jedes Mal, wenn er ungeduldig wird, das R zu rollen. Vielleicht fragt er sich gerade, wie ich auch, ob Tante Heidi langsam senil wird. »Also, um es sozusagen auf den Punkt zu bringen, es ist so, dass Frau Sarge-Albenbrecht und ich beschlossen haben, sie mit sofortiger Wirkung zum Betriebsleiter des Forstbades zu ernennen. Als Nachfolger von Herrn Klamm.«

      Ich starre ihn an. Starre über seine Schulter in den Schweigener Himmel. Starre in Tante Heidis Milde. Brennt da was in meinem Bauch?

      »Ja, aber, dienstältester Schwimmmeister ist doch Herr Teller. Ich meine, ist das nicht ein bisschen überstürzt?«

      Tante Heidi nimmt die Brille ab und sieht mich ich an, als wäre ich irgendsoein misshandeltes Wesen aus einer dieser schlechten Reality-Shows. So ein ruiniertes Ding, das sie liebend gern aus seinem Elend heraus adoptieren würde, aber, ach, die Umstände, die Finanzen, die Vernunft.

      »Felix«, sagt sie und mir fällt auf, dass Tante Heidi, abgesehen von Maike und dem Mann, aber an den will ich jetzt besser nicht denken (zu spät!), die einzige Person in ganz Schweigen ist, die mich bei meinem richtigen Vornamen nennt. »Hör mal, Felix. Jetzt hör mal zu. Ich kann gut verstehen, dass dich Hans-Herrmanns Tod belastet. Sieh uns doch an! Uns geht’s doch nicht anders. Schrecklich, ganz furchtbar. Und seine arme Frau erst.«

      »Witwe«, sagt Bürgermeister Marther. Tante Heidi blinzelt, nuckelt, Bürgermeister Marther beugt sich vor, fixiert mich und faltet die Hände auf seinem Schreibtisch. Komisch, mir ist noch nie aufgefallen, dass er einen Ehering trägt.

      »Witwe«, seufzt Tante Heidi. »Natürlich. Wie auch immer. Also, Felix, ich finde es, wie gesagt, ganz, ganz toll von dir, dass du selbst in dieser traurigen Stunde als erstes an deine Kollegen denkst. Und ja, sicher, Walter ist dienstältester Schwimmmeister, stimmt, stimmt. Aber mach dir da bitte überhaupt gar keine Sorgen, Felix. Das ist alles geklärt. Walter ist ein ganz, ganz lieber Kerl und hat Fachwissen. Alte Schule, unser Walter. Aber Betriebsleiter? Nee, nee, Felix, das sehe ich nicht. Für den ist ja der Badegast noch immer der Feind, ums mal so zu sagen. Also, Bürgermeister Marther und ich haben uns das gründlich überlegt und Walter wird das hundertprozentig verstehen und der Betriebsrat kann da gar nichts machen. Und wozu auch?«

      Klingt ernst. Na ja, war einen Versuch wert.

      »Außerdem fungieren Sie ja nun auch schon bald vier Jahre als Stellvertreter für Herrn Klamm«, gibt sich Bürgermeister Marther sonor. Das R rollt wieder. In einer anderen Situation würde mich das direkt beruhigen. »Und ganz unerfahren sind sie ja nun beileibe nicht, kennen das Bad in- und auswendig seit ihrer Ausbildung bei uns, haben immer Einsatz gezeigt, auch, wenn es mal eng wurde.«

      Gibt es in diesem Saftladen denn Zeiten, in denen es mal nicht eng ist? Tante Heidi, frisch bebrillt und beruhigt, lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander. Das Kunstlederpolster ihres Stuhls faucht.

      »Mein Motto war ja seit jeher, in all meinen Jahren hier, dass man dem Nachwuchs eine Chance geben muss. Ausbilden zur Verantwortung, sage ich immer. Dass es dann mal so über Nacht so weit kommt und noch dazu unter so fürchterlichen Umständen, konnte natürlich keiner ahnen. Aber, Felix, ich kenne dich seit Anfang an, das sind jetzt, acht, neun Jahre? Also, ich kenne dich doch und glaub mir, ich spreche jetzt nicht als Personalchefin... also natürlich tue ich das, aber eben nicht nur, sondern als Mensch und Bürgerin der Gemeinde Schweigen und, ja, auch als eine Art Freundin: Du bist der Richtige. Das Bad braucht dich. Die Gemeinde braucht dich.«

      Beide beugen sich in mich rein, Bürgermeister Marther und Tante Heidi. Warten. Gucken. Diese beiden Überbringer großer Gaben, wie sie sich quälen in den schrecklichsten Sekunden nach der Bescherung.

      »Und?« fragt Bürgermeister Marther.

      »Was meinst du?« fragt Tante Heidi.

      Ich atme vor mich hin. Tja, Tante Heidi, was meine ich? Dass ihr euch euer Gerede von Verantwortung und Zusammenhalt mal schön in die Tasche stecken könnt, weil ich eigentlich nur Schwimmmeister aus Gewohnheit bin und auf so einen Badleitungsquatsch pfeife? Dass ich hängen geblieben bin, was weiß ich denn, aus Protest vielleicht, mich aber dran gewöhnt habe und es mitunter sogar genieße, in der Aufsicht zu hocken und zu lesen, wenn nichts los ist? Dass ich sonst nicht ganz viel habe und nur deswegen solchen, wie ihr es nennt, Einsatz zeige, weil wir mal wieder völlig unterbesetzt sind und ich die Kollegen nicht hängen lassen will und kann? Weil ich dem Mann, obwohl er schon lange weg ist, meistens jedenfalls, auch nach all den Jahren immer noch beweisen muss, dass er keine Macht über mich hat? Oder vielleicht, dass er mir einfach leicht fällt, dieser Job, egal, wie ich es eigentlich hasse, ständig müde zu sein, wegen der bescheuerten Arbeitszeiten und der andauernden Selbstüberwindung, die von allem noch am meisten Kraft kostet. Dabeizubleiben. Sicher, sicher, manchmal ist es ja auch ganz lustig, Tante Heidi, manchmal ist man sogar ein wenig stolz. Wenn man etwa jemanden das Schwimmen beigebracht hat, der bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr panische Angst vor Wasser hatte und jetzt zu einem der treusten Frühschwimmer zählt (was allerdings auch wieder nervt...!)? Wenn man an einem Sonntagnachmittag im August, wenn die Schwimmhalle geschlossen ist, über den total überfüllten Freidbadteil blickt und weiß, man hat es im Griff, das Team ist wach und stark und man unaufhörlich rennt und Köpfe zählt und der Geruch der in der Hitze backenden Kiefern und Eichen sich mit Fritteusenfett und ausgetragenem, am Beckenrand nie ganz trocknendem Wasser zu diesem typischen Forstbadaroma vermischt. Dieser Duft, der dich daran erinnert, wo du hingehörst und wo du morgen wieder sein wirst, denn wer soll es denn sonst machen? Und man steht in der triefenden Menge neben dem Aufgangsturm zur Speedrutsche, wie ein in geheimen Ritualen gesalbter Hohepriester der Sonnengottheit am Fuße eines bonbonfarbenen ägyptischen Obelisken, und sorgt für Ruhe und Ordnung, weist Plätze und Reihenfolgen zu, tröstet und straft, ist hilflos, wenn man aus sich heraus steigt und auf sein Leben blickt, in diesem Moment und doch auch ruhig und sicher, denn das hier, so absurd es einem dann auch scheinen mag, ist jetzt gerade einmal wichtig und unersetzlich und alles so zerbrechlich. Soll ich dir sagen, Tante Heidi, dass ich gar nicht weiß, ob ich das Zeug zum Badleiter habe und das Leben in der zweiten Reihe bevorzuge, wenn ich schon wählen muss? Dass ich genau in diesem Moment, ach, eigentlich immer, fast überall lieber wäre als hier und jetzt? Und wieso bietet einem hier eigentlich keiner einen Kaffe an oder sonst was zu trinken?

      »Kriegen wir hin«, sage ich. Es muss die Gefallsucht sein. Flex, du Idiot!

      Bei Schlüters geht irgendein Signal. Nochmal, feierlich. Vielleicht Schichtwechsel. Vielleicht wird gerade eine besonders edle Rezeptur durch die Rohrleitungen gepresst oder wie immer auch das da funktioniert.

      Bürgermeister Marther lehnt sich glücklich schimmernd zurück und legt die Handflächen aneinander, wie zum Gebet. Obwohl, grüßen sich so nicht auch die Kampfsportler bevor sie einander zerkloppen?

      »Sehen Sie, Frau Sarge-Albenbrecht?« sagt er. »Sehen Sie? Ich habe doch gesagt, dass unser Herr Freiwaldt genau der richtige Mann ist.«

      »Daran habe ich keinen Moment gezweifelt. Keinen! Einzigen! Moment!«

      Tante Heidi neigt sich zu mir herüber und krallt sich sanft in meinen Unterarm. Ihr Atem riecht nach Erdbeeren und kaltem Zigarettenrauch. Ich blinzele auf ihre Hand. In ihr Gesicht. Blinzele