Nikolaj Efendi

Die Stadt, die uns das Feuer nahm


Скачать книгу

So geht das nicht! Ein stummer Hauptdarsteller kann die Geschichte nicht verkaufen. (beruhigt) Vielleicht solltest du heute nach Hause gehen und mal eine Nacht durchschlafen. Oder deine Mähne stutzen. Oder sehr tief ins Glas - noch besser - ins Fass schauen.

      Ilja schweigt.

      DASCHA: Vor allem solltest du dringend versuchen, mit Menschen zu reden. Du könntest mir zur Abwechslung auch mal antworten! Wir proben seit Wochen, doch abseits der Bühne hast du noch kein einziges Wort gesagt.

      Ilja breitet seine Arme aus, schaut Dascha an. Er ist verschwitzt, kämmt sich mit beiden Händen die Haare nach hinten und bindet sich einen Zopf.

      ILJA: Ist es schon zu spät, um jemand anderen für die Rolle zu suchen?

      DASCHA: Ach, hör schon auf! Wir sind noch ganz am Anfang, Anlaufschwierigkeiten sind normal, das weißt du doch. Du könntest ja mal damit anfangen, deinen schweren Kopf auszuräumen. Nicht, dass er dir noch von den Schultern bricht.

      Ilja schweigt.

      DASCHA: (einfühlsam) Knabe, ich habe keinen Bock, jemand anderen zu suchen. Schauspieler sind das Schlimmste! Nicht wahr? Sie verändern so oft ihren Charakter, irgendwann vergessen sie, wer sie wirklich sind. Ich bin alt genug, dass ich mir - gerade in Tagen wie diesen - aussuchen kann, mit wem ich arbeiten möchte … Falls du den Subtext nicht schnallst: Mit dir! Denn du verstehst auch die Worte, die nicht im Skript stehen.

      Ilja schweigt.

      DASCHA: (flüsternd) Ich weiß, wer du bist. Vlad? Lasarew? Wie würde ich mich wohl nennen, wenn ich mir einen Namen ausdenken könnte? Ilja. Ilja! Wie das schon klingt! Ach, wie das auf meiner Zunge singt!

      ILJA: (hastig) Nein …

      DASCHA: Keine Sorge, ich behalte es für mich. Mein Freund Boris lebte auch im Centar. Ich besuchte ihn oft. Als du zum Casting gekommen bist, habe ich dich sofort erkannt.

      Ilja schweigt. Dascha schaut durch den Raum und vergewissert sich, dass sie alleine sind. Sie bittet ihn zum Bühnenrand, sie setzen sich auf die Kante. Beide starren stumm in den leeren Saal.

      DASCHA: (flüsternd) Glaub mir, auch ich kenne diese Gedanken. Bylat! Kennst du sie auch? Die Tage, an denen du dir die Zigarette am Feuer der brennenden Stadt anzünden möchtest. Ich hasse all das! Die Stiefel! Die gelben Flaggen! Und diese beschissenen Augen, diese verfluchten …

      ILJA: (überrascht) Wer hätte das gedacht? Die große Darja Gilman, eine Systemverräterin? (lacht) Wahrscheinlich jeder. Schon vor 30 Jahren haben deine Stücke angeeckt …

      DASCHA: (zynisch) Dafür werden sie heute nur in den schimmligsten Ecken gespielt.

      ILJA: Welch gottverdammte Ruine von einem Theater!

      DASCHA:(zynisch) Tja, die Bretter, die die …

      ILJA: (wütend) Die Bretter, die uns die Welt bedeuten, sind morsch! Und jetzt? Wir spielen Stücke vom Index, übersetzt in die Sprache der Gelbhemden!

      DASCHA: Das ist das erste Stück, das ich wieder in Angriff nehme. Keines der großen Theater wollte wieder was mit mir zu tun haben. Deshalb sind wir in dieser … Wir sind hier gelandet. In dieser halbverbrannten Tetanusfabrik. Aber soll ich dir ein Geheimnis verraten?

      ILJA: (zynisch) Haben wir schon alle Tetanus?

      DASCHA: (amüsiert) Das Stück ist mir scheißegal!

      ILJA: (zögernd) Okay … Das ist nicht ganz so optimal.

      DASCHA: (flüsternd) Das Stück ist eine Farce, eine Fassade. Verstehst du? Ich wollte unsere Leute finden. All die Verstummten von damals sammeln und organisieren. Menschen wie dich und mich.

      ILJA: (flüsternd) Auf wen von den anderen kannst du zählen?

      DASCHA: Nur auf dich. Ich fürchte, die Gruppe ist nicht homogen. Keine Ahnung. Vielleicht verstecken sich dazwischen ein paar Sympathisanten, aber die verstecken sich gut. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob nicht auch verdeckte Milizias oder Blockwarte darunter sind. Schwer zu sagen …

      Dascha sucht vergeblich nach einem Feuer. Ilja zündet ihre Zigarette an. Dascha springt auf und eilt hinter die Bühne. Sie kommt mit einem übergroßen Karton Weißwein zurück, hebt ihn über den Kopf und trinkt direkt aus dem Zapfhahn. Ilja lehnt dankend ab. Wortlos teilen sie sich ihre Zigarette.

      DASCHA: Weißt du, was mich überhaupt aus dem Bett bringt? Der Glaube daran, dass es da draußen noch mehr Leute wie dich und mich gibt. Ich kenne sie nicht, aber ich weiß, dass sie irgendwo sein müssen. (zögernd) Du bist der Erste, den ich fand.

      Beide schweigen.

      DASCHA: (wütend) Und jetzt? Was ist jetzt?! Ein Jahr später sitzen wir noch immer im Wartezimmer der Gerechtigkeit! Dieses beschissene Warten! Wie lange kann das denn noch dauern?

      ILJA: Über die Wahlen reden sie schon lange. Irgendwann müssten die doch stattfinden.

      DASCHA: (zynisch) Die Qual haben wir schon, jetzt fehlt nur noch die Wahl. Aber wer darf sich beklagen? Alle scheinen glücklich zu sein, außer dir und mir. Und wie heißt es so schön: „Die Stadt ist sicher, sicher ist unsere Zukunft!“

      Beide lachen.

      2. STRASSE

      Spätnachts, die Stadt scheint zu schlafen. Ilja spaziert alleine durch die schmalen Gassen, ganz in Schwarz, seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Mit stillen, langsamen Schritten. Keinem Ziel versprochen versucht er, ungesehen zu bleiben. Die Straßen sind sauber und leer, keine Menschenseele ist anzutreffen. Von den großen Straßen hallen synchrone Schritte wider, an jeder Kreuzung surren die Kameras der Stadt, folgen jeder auch noch so kleinen Bewegung.

      Ilja sucht die Schatten. In seiner rechten Hand ein Stück Kreide. Er schraubt alle Glühbirnen aus den Straßenlaternen und Hauseingängen und zieht einen Schleier der Dunkelheit hinter sich her. Die schmalen Gassen verschwinden in der Dunkelheit. Ilja atmet erleichtert aus. Jetzt schläft die Stadt wirklich.

      3. TAVERNE

      Die Seitengasse führt zu einem kleinen, ruhigen Innenhof. Es ist nach 3 Uhr und alle Gasthäuser haben geschlossen. Nur wenige Personen torkeln durch die Gassen nach Hause. Die meisten meiden die großen Straßenadern, die sporadisch von lautem Gleichschritt beschallt werden.

      Entschlossen klettert Ilja durch ein angelehntes Klofenster in eine Taverne. Seine Bewegungen sind routiniert, seine Beine finden trotz Dunkelheit ihren Weg durch das Lokal. Erst nachdem alle Vorhänge zugezogen sind, zündet er Kerzen an und geht zielstrebig zum Billardtisch. Auf dem Tisch stehend hebt er eine Styroporplatte aus der Zimmerdecke und holt einen Schlafsack, ein Handtuch und eine Zahnbürste samt Zahnpasta heraus. Ilja geht ins Klo. Nachdem er sich am Waschbecken gewaschen, sich die Schuhe ausgezogen und es sich am Billardtisch gemütlich gemacht hat, kramt er ein noch druckfrisches Exemplar der Stadtzeitung „New Times“ aus seiner Jacke hervor.

      NEW TIMES:

      Zonenbegrenzung im Endspurt: Mehr Sicherheit für die Stadt. Die Bürger atmen auf! Schon in zwei Wochen werden die Grenzen der einzelnen Zonen fertiggestellt, wodurch größere Sicherheit gewährleistet wird. Für alle Zonen sind jeweils zwei Kontrolltore geplant, die nur mit gültigem Identitätspapier (IP) passierbar sein werden. Damit soll bestmögliche Transparenz sichergestellt und die Kriminalität in allen problematischen Zonen gesenkt werden. Wichtige Information: Jeder Bürger ist gesetzlich dazu verpflichtet Identitätspapiere (IP) zu beantragen. Nur mit diesen kann die Mobilität und Bewegungsfreiheit innerhalb und außerhalb der Stadt weiterhin garantiert werden. Zur positiven Bearbeitung muss Aufschluss über Name, Adresse, Geburtsdatum, Beruf, Familienstand und Einkommensverhältnisse eingebracht werden. Die Stadt ist sicher, sicher ist unsere Zukunft!

      Wütend schmeißt Ilja die Zeitung in die Ecke und sucht am Boden nach Zigaretten.