Nikolaj Efendi

Die Stadt, die uns das Feuer nahm


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Hand.

      Von draußen sind Stimmen zu hören. Schlagartig richtet sich Iljas Aufmerksamkeit auf die Eingangstür. Sofort bläst er die Kerzen aus und hält den Atem an. Drei oder vier Männerstimmen sind zu hören. Ilja beobachtet durch den Vorhangschlitz, wie sie die Straße entlanggehen.

      Durch den Schlitz strahlt das Mondlicht. Im Schutz der Dunkelheit blättert Ilja durch die „New Times“ und bleibt gebannt bei einem Artikel hängen.

      NEW TIMES

      Warnung: Seit Tagen werden in den Zonen 4, 6 und 7 Sabotageakte gemeldet. Geschäfts- und Hausbesitzer beklagen sich über destruierte Straßenbeleuchtungen und mit Kreide beschmierte Hausfassaden. Die Exekutive hat angekündigt, ihre Präsenz in den betroffenen Zonen zu verstärken, um weiteren Eskalationen rigoros entgegenzuwirken.

      Schmunzelnd legt er die Zeitung beiseite und sich selbst auf den Billardtisch schlafen.

      4. ZORAS WOHNUNG

      ZORA: Ja? Hallo? Wer ist da?

      ILJA: Ich bin’s. Ilja.

      ZORA: (überrascht) Ilja?

      ILJA: Ja, wirklich.

      ZORA: (erfreut) Hallo! Guten Morgen! Was machst du hier? Was hat dich hierher verschlagen? Wie geht es dir?

      ILJA: Kann ich …

      ZORA: Ja, komm rauf! 3. Stock.

      Das Haustor surrt, Ilja tritt ein. Es ist ein prachtvolles Gebäude in Zone 1. In der Lobby empfangen ihn bewaffnete Sicherheitskräfte und winken ihn auf Zoras Befehl zum Treppenhaus durch. Prunkvoller Marmorstein, das Treppenhaus hallt. Sie erwartet ihn in der Tür, sie umarmen sich wortlos.

      Zora führt ihn durch die Wohnung, kommentarlos setzt er sich in einen der Ohrensessel im Salon. Sie nimmt vis-à-vis Platz und bietet ihm Tee an.

      ZORA: (aufgeregt) Viel zu lange ist es her. Schön, dich zu sehen. Du siehst so … Deine Haare! Wann haben wir uns das letzte Mal …

      Beide schweigen. Zora trinkt ihren Tee aus, schenkt sich nach. Ilja hat seine Tasse nicht angerührt, sein Blick kreist nervös durch den Raum. Unbehagen. Stille.

      ZORA: (überschwänglich) Ich habe jetzt meine eigene Ordination! Unten im ersten Stock. Es läuft ganz gut, ich kriege laufend neue Patienten... Ich meine, für die Praxis läuft es gut. Die Patienten tragen schweres Leid mit sich … Versteht sich.

      Ilja schweigt.

      ZORA: Unlängst musste ich an dich denken, ein Satz eines Patienten hat mich an dich erinnert. Interessiert dich das überhaupt? (zögert) Tut mir leid. Wenn ich unsicher bin, dann rede ich wie ein Wasserfall.

      Beide schweigen.

      ZORA: Vielleicht kaufe ich mir eine Katze. Anastassi arbeitet rund um die Uhr, Kinder will er keine. Er meint, dafür sei er schon zu alt. Eigentlich ist seine Zeitung wie sein Kind. Katzen sind toll. Sie sind eigenständig, brauchen aber auch Nähe. Sie sind edel, aber eigentlich wild. Hast du deinen Hund noch?

      Ilja schweigt. Zora wird ungeduldig, steht auf und schiebt ihren Sessel näher an Ilja heran. Sie sieht ihn direkt an, er weicht ihrem Blick aus. Zora greift nach seiner Hand, umschließt sie und fängt seinen Blick.

      ZORA: Ilja, länger als ein Jahr lang höre ich nichts von dir. (zögert) Sprich mit mir. Warum bist du hier? Wie kann ich dir helfen?

      ILJA: (zögernd) Wie schön es ist, jemanden von damals… Dich zu sehen … Ich freue mich für dich … und dein Leben. Du hast hart dafür gearbeitet und es dir schon damals so ausgemalt. Oder so ähnlich.

      ZORA: Oder so ähnlich. (hält inne) Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir große Sorgen um dich gemacht, nachdem das Centar… Ich bin wochenlang immer mittags zum Brunnen gegangen, in der Hoffnung, dich zu sehen. Niemand wusste, wo du warst, niemand wusste irgendetwas. Marija hat mir später anvertraut, dass du bei der Front warst.

      Ilja lässt die Zuckerdose fallen. Zora hilft ihm, die großen Scherben zu beseitigen. Sie holt eine Schale, sortiert die Splitter aus und füllt den Zucker ein.

      ILJA: Du kannst dir sicher vorstellen, dass ich nicht des Tees wegen gekommen bin. Zora, ich bitte um deine Hilfe. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte… (zögert) Ich sage es geradeheraus: Die Zonenbegrenzung kommt und ich brauche eine Meldebestätigung. Mir ist bewusst… Mir ist die Schwere der Bitte bewusst! Vielleicht erkennst du die Ausweglosigkeit meiner Situation.

      ZORA: (verwundert) Eine Meldebestätigung? Demnach hast du weder Arbeit noch Wohnung. Wäre das eine vorübergehende Lösung?

      ILJA: Eine permanente.

      ZORA: (verwundert) Verstehe ich das richtig? Du würdest gerne meine Wohnung als deinen Wohnsitz anmelden? Glaubst du nicht, dass es merkwürdig ist, dass ein fremder, alleinstehender Mann mit einem Ehepaar zusammenlebt?

      ILJA: Kein fremder Mann…

      ZORA: (defensiv) Nein, nein, nein… Das ist doch lebensmüde!

      ILJA: (sanft) Niemand würde es kontrollieren. Mit seinem Pass und der Meldebestätigung wäre ich frei.

      ZORA: Ich will dir ja helfen, aber das ist ein großer Haken, mit dem du mich mit reinziehst!

      ILJA: Er hätte das sicher so gewollt.

      Zora weicht zurück. Beide halten inne.

      ILJA: Wir vermissen ihn beide, die Erinnerung alleine bringt uns nicht weiter. Sein Pass aber schon. Und niemand… Zumindest wissen die es nicht.

      ZORA: Wie schlägst du dich derweil durch?

      ILJA: Ich bin wieder am Theater. Niemand kennt mich dort. Es ist nicht leicht, aber ich komme schon durch.

      ILJA: Allerdings komme ich ohne Meldebestätigung und ohne IP nirgends mehr hin, und notfalls komme ich auch nicht mehr raus! Yobannoe dno! Diese verfluchte Zonenbegrenzung!

      ZORA: (verwundert) Die Zonenbegrenzung ist doch nicht schlecht!

      ILJA: (irritiert) Was?

      ZORA: Sie sorgt für Sicherheit und kontrolliert die Bewegung innerhalb der Zonen, reguliert, wer in die Stadt kommt und wer sie wieder verlässt. Außerdem …

      ILJA: (aufgebracht) Die Begrenzung ist das Ende! Sie macht uns alle zu Gefangenen, zu Angestellten der Stadt! Wir werden sortiert. Geprüft. Überwacht! Die Stadt weiß, wo und wie wir leben, ob wir unser Geld angemessen verdienen, und sie sorgt dafür, dass wir es am richtigen Platz wieder ausgeben. Wir werden durchsichtig, Zora. Ich traue dem nicht! Von wegen sie kontrolliert die Bewegung. Sie macht uns bewegungsunfähig!

      Zora weicht zurück.

      ILJA: (wütend) Ummauerte Zonen! Zum Schutz?! Und wie sollen uns diese Mauern vor der Stadt schützen? Vor der verfickten Milizia? Eines garantiere ich dir: Bald sind wir Gefangene, die Identitätspapiere sind unser Urteil.

      Durch das wilde Gestikulieren hat Ilja den halben Tee verschüttet. Er realisiert es erst nach seinem Einwand, zieht ein Stofftaschentuch aus der Jackentasche und tupft den Teppich trocken. Zora greift nach seiner Hand.

      ZORA: (ruhig) Nicht jede Veränderung führt zur Verschlechterung. Vielleicht bringt sie sogar Verbesserung. Ähnlich wie die Kameras.

      ILJA: (entsetzt) Die Kameras?!

      ZORA: Ja! Sie geben mir ein Gefühl der Sicherheit, als ob jemand über mich wachen würde. Wie Gott, nur echt.

      ILJA: (entsetzt) Unsere Freiheit stirbt mit Sicherheit! Das wenige, das noch übrig ist an Freiheit.

      ZORA: (vorsichtig) Kann es sein …

      ILJA: (wütend) Das Leben in Zone 1 ist anders, Zora. Diese Augen schauen anders auf dich als auf mich. Was du als Sicherheit verstehst, verstehe ich als Schutzlosigkeit… Dein Leben ist