Nikolaj Efendi

Die Stadt, die uns das Feuer nahm


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die Identitätspapiere ein Anstoß sein, dein Leben zu verändern, eine echte Arbeit zu finden, dir eine Wohnung zu suchen. Stabilität. Ein sorgenfreies Leben.

      ILJA: (gereizt) Ich danke dir, dass du dir die Zeit nimmst, mir zuzuhören. Allerdings bitte ich dich nicht, meine Situation zu verstehen, sondern mir zu helfen, aus dieser zu entkommen.

      ZORA: (sanft) Ich möchte dir gerne helfen.

      ILJA: (bestimmt) Ich wünsche mir kein anständiges Leben. Nicht ihre Version von Freiheit, sondern meine.

      ZORA: Wie gesagt: Ich möchte dir gerne helfen. Lass mich bitte eine Nacht darüber schlafen.

      ILJA: Danke.

      ZORA: Das könnte mich in große Schwierigkeiten bringen. Hmmm… Ich mache mich auf die Suche nach seinem Pass… Bitte dränge mich nicht.

      ILJA: (defensiv) Nein, nein, nein…

      ZORA: Ich möchte in Ruhe darüber nachdenken.

      5. ZORAS WOHNUNG

      Nachdem sich Ilja verabschiedet hat, bleibt Zora noch gedankenverloren im Salon sitzen. Anastassi Kosmin betritt die Wohnung, legt Mantel und Hut ab. Das Telefon im Vorzimmer klingelt, er hebt ab.

      KOSMIN: Kosmin? (hört zu) Guten Tag, Herr Bakatin. Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein, ich bin soeben nach Hause gekommen. Wie gefällt Ihnen die neue Ausgabe? (hört zu) Verstanden… Verstanden… Ist notiert. Wird geklärt. Was sind Ihre Anweisungen für die nächste Ausgabe?

      Er nimmt einen kleinen Notizblock aus der Hosentasche, befeuchtet den Bleistift mit seiner Zunge und notiert in Stichworten.

      KOSMIN: Verstanden, Herr Bakatin. Ich fasse zusammen:

      1. Die Aufforderung zu Identitätspapieren kommt auf die Titelseite.

      2. Eine detaillierte Auflistung der Vorteile der Begrenzung und des Zonenausbaus auf Seite 4.

      3. Aufruf zur Bestrafung der Banditen samt Belohnung für Hinweise.

      Ist es Ihnen so recht? (hört zu) Verstanden… Notiert… Ich leite es weiter, Herr Bakatin, ich kümmere mich höchstpersönlich darum. Auf Wiederhören.

      Kosmin geht in den Salon zum Barschrank, schenkt sich Likör ein, trinkt ihn in einem Zug aus und füllt ein weiteres Glas auf. Zora bleibt unbemerkt sitzen und sieht ihm still zu.

      ZORA: Anastassi, hast du Durst oder schlechte Neuigkeiten?

      KOSMIN: (ertappt) Zora, du hast mich zu Tode erschreckt! (sammelt sich) Weder noch, ich stoße auf meinen Erfolg an. Möchtest du auch ein Glas trinken, Liebste?

      Kosmin überhört Zoras Ablehnung, schenkt ihr einen Doppelten ein, reicht ihr das Glas und prostet ihr sitzend vom

      Sessel aus zu.

      KOSMIN: Wie war dein Tag? Meiner war glorreich! Hab ich dir nicht immer schon prophezeit: Es gewinnt der Harte, nicht der Zarte! Die intensive Arbeit hat sich gelohnt, das sage ich dir. All die Stunden. All die Jahre! (trinkt sein Glas leer)

      Das Ministerium hat soeben angerufen. Es ist äußerst zufrieden mit meiner Arbeit! Bakatin sagt, die Artikel seien brillant und entsprechen der Linie des Ministeriums. Er lobt mich als politisch zuverlässig! Stell dir das vor, Bakatin höchstpersönlich!

      Er springt euphorisch auf, schenkt sich sein drittes Glas ein und hält inne.

      KOSMIN: Bei aller Bescheidenheit, die Arbeit mit den Angestellten wurde im letzten Jahr um etliches erleichtert. Die Fristen werden eingehalten, niemand enerviert mich mehr wegen Gehaltserhöhungen, meine Autorität wird nicht untergraben. Sie arbeiten effektiver… Sie arbeiten jetzt lieber für mich.

      ZORA: Vielleicht fürchten sie dich?

      KOSMIN: (lacht) Das haben sie hoffentlich schon früher!

      ZORA: Immerhin arbeiten sie bei der einzigen Zeitung der Stadt. Deine Position hat sich verändert. Wer das Wort hat, hat die Macht.

      KOSMIN: Papperlapapp! Macht allein macht nichts. Nur viel Macht macht etwas!

      ZORA: (ernst) Deine Position hat sich verändert, Anastassi, achte darauf, dass sich nicht auch deine Person verändert.

      KOSMIN: (amüsiert) Das Fräulein wirkt heute aber ein bisschen angriffslustig!

      Zora antwortet nicht, stellt das volle Glas weg. Ihre Gedanken schweifen ab. Kosmin scheint die Stille nicht zu stören, er holt eine Ausgabe der „New Times“ aus seinem Aktenkoffer und blättert sie schnell durch.

      ZORA: Mein Tag war gut.

      KOSMIN: (unaufmerksam) Was? Ach so, ja. Nichts Aufregendes?

      ZORA: Seit einigen Monaten habe ich einen sehr interessanten Patienten. Anfangs konnte ich ihn überhaupt nicht einschätzen, doch jetzt… Interessiert es dich überhaupt?

      KOSMIN: (legt die Zeitung weg) Doch, doch. Bitte fahre fort.

      ZORA: Selbstverständlich verlässt das nicht diesen Raum, okay?

      KOSMIN: Als ob es irgendjemanden interessieren würde.

      ZORA: Er ist ein hochintelligenter Mann. Jung. Ist vor einem Jahr vom Land hergezogen und leidet seitdem an Depressionen.

      KOSMIN: (unterbricht sie) Dann soll er einfach wieder wegziehen! Problem gelöst.

      ZORA: (augenrollend) Willst du die Geschichte hören?

      KOSMIN: Ja, ja. Warum emigriert er überhaupt hierher?

      ZORA: Er ist heimatberechtigt und suchte nach Arbeit.

      KOSMIN: Man muss der Stadt schon gewachsen sein, um sie zu meistern. Nur wer wahrhaftig …

      ZORA: (unterbricht ihn) Anfangs war er sehr motiviert, doch später stellte sich heraus, dass er dem Druck nicht mehr standhalten konnte. Er konnte weder schlafen noch essen. Ich musste ihm Antidepressiva und Schlafmittel verschreiben. Seitdem sieht er Verschwörungen in den städtischen Anstellungsverhältnissen.

      KOSMIN: Was?

      ZORA: Die Stadt ist ja der größte Arbeitgeber, und genau darin sieht er eine Verschwörung. Laut ihm werden dabei die Angestellten in eine Abhängigkeit gezwungen.

      KOSMIN: Der ist doch nicht ganz bei Trost! Angestellt zu werden ist das Optimum. Krisensicherer Arbeitsplatz. Klare Hierarchien. Direkte Karriereleiter nach oben. Wo findet er da die Verschwörung?

      ZORA: Das habe ich ihn auch gefragt. Seiner Meinung nach ist die angestellte Lohnarbeit eine Disziplinierungsmethode der Stadt. Sie kreiert sich damit unmündige Schafe, die von ihrer Gunst abhängig sind.

      KOSMIN: (belächelnd) Die Stadt ist also der Hirte?

      ZORA: Die Stadt ist der Wolf.

      KOSMIN: Schwachsinn!

      ZORA: Er ist von seiner Wahrheit überzeugt und hat sehr interessante Ansichten. Faszinierend dabei ist, dass er aufgrund seiner Verschwörungstheorie eine zügellose Feindseligkeit gegenüber der Stadt entwickelte.

      KOSMIN: Der Narr kann froh sein, dass du ihn nicht in die Irrenanstalt einweist oder er für seine Äußerungen inhaftiert wird!

      ZORA: Gefangenschaft wird ihm wohl kaum die Liebe zur Stadt einimpfen! Reden wir über was anderes.

      Zora steht auf, holt die Gießkanne und bewässert die zwei großen Zimmerpflanzen. Kosmin starrt auf seine Finger, befeuchtet seine Nägel mit seinem Mund und feilt sie gründlich.

      ZORA: Ilja hat mich besucht.

      KOSMIN: (irritiert) Ilja? Ist er nicht tot?! Oder zumindest…Was will er?

      ZORA: Reden. Er ist wohl erst seit Kurzem wieder an der Oberfläche, du weißt …

      KOSMIN: Ich weiß.

      ZORA: