Maxi Hill

Die kalten Spuren im heißen Wüstensand


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hell genug, doch Ashanti spürt genau, wie sie mit merkwürdigen Blicken beäugt werden, wie die Frauen ihre Gesänge unterbrechen und wie das rhythmische Beugen ihrer Körper nach dem Takt einer Klagefrau mit einem Mal weniger tief und weniger elegisch ausfällt.

      Zwei Steine an Mutters Seite sind für die beiden Kinder gedacht. Seit Tagen ersetzen Steine die nötigen Dinge des Lebens. Sie dienen als Möbel. Die größeren Brocken dienen als Schutz vor den Blicken Fremder, wenn sie ihre Notdurft verrichten. Zwei mittelgroße Steine dienten sogar als Bremse, als der LKW auf einer sandigen Anhöhe an Kraft verlor und bald völlig versagte. Aber jetzt…?

      Die anderen Kinder und ein paar der jungen Männer treiben sich in Sichtweite zwischen den Felsen herum und sammeln noch mehr Steine. Größere, kleinere…

      Als eine der Frauen ein unmerkliches Kommando gibt, durchfährt Ashanti ein Stich. Die Frauen singen mehrstimmig, wie es ein geübter Gospelchor nicht erbaulicher könnte. Ihre Körper beugen und strecken sich jammern und zeternd, wie es Ashanti nur von einer komba kennt – einer Totenfeier.

      Unterhalb der Felsengruppe wühlen Männer mit bloßen Händen im Sand. Einer hantiert mit einem ausgedorrten Ast, ein anderer mit einem flachen Stein.

      Ashanti weiß nicht, was mit ihr ist. Etwas drückt sie gemein zu Boden, etwas anderes lässt sie sofort an Kanzi denken. Der Albtraum, der sie seit Tagen ängstigt, hat etwas Reales bekommen, etwas unvermeidlich Direktes. Kanzi streichelt den kühlen Arm seiner reglosen Mutter, er zupft an ihrer Haut und spreizt ihre kalten Finger. Ashanti stockt längst der Atem. Sie möchte sich flehend über den Körper der reglosen Mutter werfen und sie bitten, nicht von ihnen zu gehen. Sie hatte es fest versprochen, seit der Vater nicht mehr nachhause kam. Keine Angst, hatte sie gesagt, ich werde immer für euch da sein.

      Ein gleiches Versprechen hat nun ein anderer gebrochen. Einer da oben, der nicht auf Dzemila geachtet hat, der nicht für sie da ist, der sie in ihrer schlimmsten Not im Stich lässt.

      Ashanti gerät in Panik. Die Frauen halten sie fest, weshalb sich Kanzi schreiend an ihre Hosenbeine klammert, die unter dem verblichenen Kente herausschauen, der von Sand knirscht und der einst der Mutter gehörte. Mutter hatte ihr immer gestattet, Hosen zu tragen, weil es die Mädchen in aller Welt dürfen. Zwar trug Mutter selbst mit Vorliebe ihre bunten Stoffe, aber sie hatte dafür eine ebenso logische Erklärung. Stoffe sind universell. Sie sind farbenfroher als jede Hose, sie krönen die Schönheit der Frauen und man kann sie in allen Varianten tragen. Als gebundenes Kleid, das die Schultern bedeckt. Als Rock zu einem modernen Oberteil, wie es die Europäerinnen tragen. Oder als Tragetuch für die Babys. Sogar als Kopfschutz oder Plaid für die Nacht eignet sich der Stoff, ob grob gewebt oder aus schönem Wachsprint. Einmal konnte Mutter sogar den grün-braun bedruckten Kente über sie werfen, als sie sich in den Büschen vor jenen Männern verstecken mussten, die Vater suchten und die auch prompt nach ihren Kindern fragten. Wer weiß, wo sie ohne dieses Stück rettenden Stoff heute wären…

      Bilder des Schreckens werden in Ashanti lebendig. Bilder aus den Tagen und Wochen, an denen sie um Vater gebangt haben und später, als sie um ihn trauerten, heimlich… Jetzt sind diese Bilder wieder lebendig, wenn auch überlagert vom Sichtbaren: vom bleichen Gesicht der Mutter, vom Steinhaufen im Hintergrund und von der Grube, die langsam an Tiefe gewinnt…

      Mit Schrecken denkt sie an die schwarzen afrikanischen Nächte zurück, in denen kein Wort gesprochen wurde, kein Klagelied gesungen, keine Totengabe erbracht wurde, wie es bei Nachbarn üblich war. Sie mussten den Tod ihres Vaters verschweigen. Sie mussten alle glauben machen, sie rüsteten sich, um den Vater zu besuchen. Von ihrer Flucht durfte keiner erfahren…

      Diese Bilder waren seit der Zeit ihres endgültigen Aufbruchs durch die Strapazen der Flucht verblasst. Jeder von ihnen trug sie nur im tiefen Inneren mit sich herum. Jeder hatte eine andere Nuance gespeichert, die in den Wirren des langen Weges dem neuen Schrecken weichen mussten. Dem Schrecken, fremden Helfern ausgeliefert zu sein. Aber mit der Hoffnung, bald in Sicherheit zu sein, wichen die Schrecken langsam.

      Mit einem Mal zerschlägt sich alles, was sie den entbehrungsreichen Weg bis hierher ertragen ließ.

      Zwar waren sie dem gewaltsamen Tod entkommen, dem Feuer und den wütenden Macheten. Dieser Wahnsinn lag hinter ihnen. Ein neuer Wahnsinn mutete ihnen jetzt mehr zu, als ein Mensch von kaum sechzehn Jahren ertragen kann, und was ein Kind von weniger als acht Jahren zu erfassen in der Lage ist.

      Dieses Bild vor ihren Augen entspringt nicht der schützenden Angst, es entspringt nicht der traumatischen Phantasie eines ängstlichen Kindes, das die Welt und die Erwachsenen nicht versteht. Dieses Bild ist Teil des gefürchteten Schicksals von zwei Kindern, Teil ihres künftigen Lebens auf einem unbekannten Weg.

      Noch ahnt niemand, dass alles noch schlimmer wird.

      Je weiter die Nacht voranschreitet, desto ekstatischer bewegen sich die Frauen in ihrem Zusammenspiel von inbrünstiger Trauer und spiritueller Zeremonien. Dieser afrikanische Ritus ist das Letzte, was Ashanti und Kanzi aus ihrer alten Heimat noch erleben dürfen, auch wenn sie darauf gerne verzichtet hätten.

      Am Morgen sitzen die Kinder alleine vor dem Sandhügel in der Wüste, auf den man all die Steine geschichtet hat, die mühsam zusammengetragen das letzte Achtungszeichen für die geliebte Mutter sind, Dzemila, die Schönheit. Ihre Schönheit war längst vergangen. Sie hatte sich in Trauer und Sorge aufgelöst. Trauer um den geliebten Mann, Sorge um die geliebten Kinder, die sie aus Elend und Verderben zu führen angetreten war. Ihr Schöngeist hatte bis zuletzt gewirkt, ihr schöner Körper war den Strapazen dieser Flucht nicht gewachsen.

      Kanzi hat die ganze Nacht geweint. Ashanti ebenso, nur eher heimlich, um den kleinen Bruder die Aussichtslosigkeit ihrer Lage nicht allzu deutlich zu machen. Mit viel Ausdauer und noch mehr Tränen vor dem Blick hatte sie den Namen ihrer Mama auf einen flachen Stein geritzt und ihn ganz oben zwischen zwei besonders haltbare Steine gestellt. Aufrecht, so wie Mama war und wie Mama ging. Stolz und unbeugsam.

      Als die Sonne über die Sandhügel steigt, küssen sie jeden der Steine und tränken dabei den Sand mit ihren Tränen. Erst dann nimmt Ashanti den Beutel der Mutter an sich. Er enthält auch das mit Perlen bestickte Täschchen, in dem das Märchenbuch steckt. Vermutlich hat Dzemila das Buch als hohes Gut gesehen, das vor Schaden zu schützen ist. Ashanti wird es der Mutter gleichtun, auch wenn ihr so manches Märchen über die Völker aus Mutters Heimat einen Schauer über den Rücken jagt. Jetzt muss sie Mutters Rolle für Kanzi ersetzen. Ihr kleiner Bruder ist das Letzte, was ihr geblieben ist…

      Die Flucht geht weiter

      Am Morgen sind aus der Gruppe Schreie zu hören. Ashanti schaut sich nicht um. Weit hinter ihnen am schwindenden Horizont liegen die Felsenklippen, an deren Fuß das Grab ihrer Mutter der Ewigkeit harrt. Irgendwann in ihrem Leben wird sie Kanzi noch einmal hierher führen. Irgendwann, wenn das Leben ihnen all das beschert hat, was es den Weißen seit Jahrhunderten beschert. Dann werden sie mit einem Jeep in diese erbarmungslose Wüste fahren und den Hügel aus aufgesammelten Steinen finden. Steine sind Zeugen der Ewigkeit. Mit ihrer Hilfe werden sie das Grab der Mutter finden – auch ohne einen der Götter, für die sich ihre Eltern nie entscheiden konnten. Kalunga oder Nzambi.

      Mama war für Kalunga, Papa für Nzambi. Das lag wohl daran, dass auch der Himmel die Welt unter sich aufteilt. Also mussten im Himmel weiße Götter sitzen…

      Jetzt hört sie es deutlicher. Einer der Männer – es ist Nsenga, der Führer der Gruppe, der die Fäden zu den Helfern geknüpft hatte (oder die Helfer zu ihm, wer weiß das schon), brüllt die anderen an, die sich wütend um ihn scharen: »Ich habe euch diese Flucht ermöglicht, habe mich geopfert und nun…!«

      Auf seinem kohlrabenschwarzen Körper steckt ein kugelrunder Kopf mit hellem Geist. Nsenga ist einer, der zu feilschen gewohnt und zu gewinnen ausgezogen ist in die unbekannte Welt. Das jetzt, das ist kein souveräner Auftritt eines Führers, das ist purer, vermutlich sogar feiger Selbstschutz.

      »Ein Lügner bist du!«, schallt es von Mbalu zurück. Mbalu ist ein bulliger Typ mit einem ungepflegten Stoppelbart. Das sehr