Maxi Hill

Die kalten Spuren im heißen Wüstensand


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      Wie kann es sein, dass die Wiege der Menschheit vor Gott kein Gewicht bekommt…

      »Geh da weg«, hört sie eine der Frauen keifen. Ihr Gesicht ist wütend, ihr Fuß stapft in den losen Sand. Dann hört Ashanti noch das Wort «Puta», das schon ihre Mutter zu hören bekam und das auch sie erbost hatte.

      Ashanti braucht einen Moment, um die Situation zu verstehen, einen Moment, der ihr unter den strafenden Augen der Frauen, die älter und somit automatisch die Respektpersonen sind, wie eine Ewigkeit vorkommt.

      Trotzig gibt sie sich einen Ruck und lässt sich auf das Gespräch der jungen Männer ein, weil sie Kanzi in ihre Mitte aufgenommen haben. Sie ist so froh darüber, noch mehr, weil es niemanden stört. Kanzi am wenigsten. Am meisten freut es sie, dass der Bruder heute nicht weint und dass ihn die Männer nicht verjagen, wie noch Tage zuvor. Ihre Verlorenheit wird davon nicht kleiner, ihr Herz nicht leichter. Sie hat vergessen, dass sie schutzlos ist und leicht zum Freiwild werden kann, ohne die Obhut ihrer Mama. Sie will nur ein paar Dinge abfragen, die sie interessieren: Wer will von euch nach Deutschland? Wer weiß, wie die Dinge des Lebens dort laufen?

      Das muss sie jetzt alles herausbekommen, weil die Mutter darüber noch nicht gesprochen hat. Gewiss hätte sie noch. Irgendwann kurz vor dem Ziel…

      Einer der Männer redet davon – mehr zu sich als zu Ashanti -, dass der Staat einem Geld schenkt, damit man nicht verhungert. Ob das sein Wunschtraum ist, weiß Ashanti nicht. In Afrika testet man vorsichtig, wer sein Gegenüber ist und ob man ihm trauen kann. Keiner will sich vor einem möglichen Konkurrenten in die Nesseln setzen.

      Auch andere Frauen sehen nicht gerne, wie Ashanti bei den Männern steht und mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hält. So hat sie es von ihren Eltern gelernt und so bringt sie es fortan auch Kanzi bei. So muss sie es ihm beibringen, das ist jetzt ihre verdammte Pflicht.

      Hilfe naht

      Im Morgengrauen kreuzen zwei Reiter den festgefahrenen Weg. Ihre Gewänder wehen im Wind, ihre Gesichter sind mit Tüchern verhüllt, wie die der Frauen fremder Kulturen. Nur die Augen blitzen dunkel und unruhig aus dunklem Tuch. Der eine trägt ein tiefes Blau, der andere ist in Braun gehüllt. Sie stoppen die Kamele und nähern sich der Gruppe, die erschöpft vom nächtlichen Fußmarsch noch in geordneten Gruppen in der Sonne sitzt, um die Kälte der Nacht von der Haut zu treiben. Frauen und Kinder unter sich, Männer wie stets bei Mbalu, junge Männer abseits, aber mit gierigen Blicken auf die beiden halbwüchsigen Mädchen Ashanti und Fayola. Später werden sie alle in gleichen Gruppen den spärlichen Schatten aufsuchen, dem sie den Stopp verdanken. Sie stoppen immer dort, wo es Schatten gibt. So hielten sie es an jedem der letzten beiden Tage.

      Einer der Reiter – ein stolzer Mann in braunen Gewändern - fragt nach dem Anführer der Gruppe. Man zeigt widerwillig auf Mbalu. Der andere, nicht weniger erhaben wirkende, schaut sich alle Menschen in ihrem unsäglichen Zustand genau an. Dann spricht er ausgerechnet mit Ashanti. Er ist freundlich und blinzelt ihr zu. Sie lächelt zurück, nimmt aber ihren Bruder sofort fest in die schützenden Arme.

      Eifersüchtig verfolgt Kanzi das werbende Lächeln des Fremden. Einer Frau in der Nähe entgeht offenbar gänzlich, wie wenig Ashanti bereit ist, auf die Worte des Fremden einzugehen, obwohl sie die einzige in der Gruppe ist, die seine Sprache ein bisschen versteht.

      Das von Mühsal gezeichnetes Gesicht der empörten Frau erinnert Kanzi an seine Mutter, auch wenn Mama Dzemila schöner war, viel schöner. Diese Frau spricht weder seine Sprache noch ein bisschen Englisch, wie die meisten jungen Männer, die sich erst nach und nach der Gruppe angeschlossen hatten und mit denen Kanzi hin und wieder ein Steinspiel macht. Die einfachen Leute sprechen nur die Sprache ihres Volkes, was jedes Verstehen erschwert. Kanzi wendet seinen Kopf noch einmal zu dieser griesgrämigen Frau. Zu spät. Leichten Fußes sieht er sie auf Mbalu zuschreiten und schon bald ist sie in der Menge der Leiber untergetaucht, die einen der fremden Reiter umringen.

      Die beiden Beduinen steigen nicht von ihren Kamelen, aber sie scheinen es gut mit der Gruppe zu meinen. Sie wissen genau, wie es Menschen geht, die seit Tagen nur Wüste sehen, die seit kurzem zu Fuß durch die Einöde stapfen, schwerfällig und enttäuscht, weil ihre Helfer keinen neuen LKW organisieren konnten. Oder wollten…?

      Der im blauen Bidhan kommt zu dem zurück, der mit Mbalu gesprochen hat. Sie reden etwas und der Blaue deutet mit den Augen zurück zu Frauen und Kindern. Der andere hebt seinen Kopf und stimmt irgendetwas zu, was niemand versteht. Dann fordern sie Mbalu auf, die Menschen zu formieren und ihnen zu folgen. Sie führen die Gruppe aus ungefähr dreißig durstigen Leuten sehr zielstrebig über die nahen Hügel, die die Gruppe meiden wollte, aus Vorsicht. Man könne ihnen vertrauen, sagen die Männer. Hinter den Hügeln gebe es eine verborgene Stelle, die bestens geeignet sei für das Warten auf Hilfe. Keiner folgt den Fremden mit Lust und Glauben, aber sie haben keine Wahl, wenn sie nicht elendig in der unendlichen Öde verdorren wollen. Nach zwei Stunden Fußmarsch gibt es tatsächlich Wasser und einen guten Platz zum Lagern…

      Bevor die Männer wieder davonreiten, warnen sie Mbalu, auf keinen Fall bei Dunkelheit durch die Wüste zu irren. Man sei hier im gefährlichen Terrain, wo es vor Banditen nur so wimmele. Hier gebe es unheimlich viele vagabundierende Gruppen, die es auf alles abgesehen hätten, was sich zu Geld machen lasse.

      Mbalu winkt ab. Es gebe bei ihnen nichts mehr zu holen. All ihr Geld habe die Flucht verschlungen und dennoch habe man sie «verraten und verkauft», wie man es nicht mit seinesgleichen zu tun habe. Und das da – er zeigt in die Runde – das sind auch nur Menschen, die leben wollen, die sich nicht länger abfinden möchten mit den Brosamen dieser Welt…

      Die Männer sind sehr verständnisvoll. Sie bereden sich noch einmal und versprechen danach, am Morgen wiederzukommen und vielleicht sogar einen LKW zu organisieren. Dazu müsse die Gruppe jedoch unbedingt an diesem Platz bleiben, zu dem man sie genau aus diesem Grund geführt habe.

      Dieser Platz, der ihnen Schutz und Ruhe bietet, war mit ihren ungeübten Augen in der gelben Silhouette der steinigen Wüste nicht zu erkennen gewesen. Auch hatten sie den Anschein, sie seien zwei Stunden lang zurückgelaufen, weg vom rettenden Meer. Mbalu lässt kein Hadern gelten. Jetzt ist Hoffnung in ihm.

      In dieser felsigen Dünenoase unter ein paar spärlichen, hohen Kameldornenbäumen und ausladend niederen Schirmakazien schlagen sie ihr Nachtlager auf. Endlich können sie einmal trinken, bis sie keinen Durst mehr haben. Am bröckelnden Steinbrunnen, der abgedeckt mit einer Steinplatte kaum als Brunnen erkennbar ist, können sie ihre Flaschen füllen für die letzte Strecke bis zum Meer. Ebenso viel wert sind die Kaktusbüsche mit den süßen Früchten, die allen munden. Auf deren gerechte Verteilung achtet Mbalu mit Argusaugen.

      Das Gesetz der Wüste

      Ein klappriger LKW kämpft sich über die unbefestigte Piste den Hügeln entgegen, wo Daleel, der Fahrer, vor zwei Tagen die Gruppe und den anderen LKW zurücklassen musste. Wenn sie klug waren, haben sie den LKW nicht verlassen. Wenn sie klug waren…

      An den Türen dieses Gefährtes klebt ein rotes Kreuz. Niemand wird vermuten, welche Fracht er bald wieder aufnehmen wird. Fluchthilfe ist verboten, aber von etwas muss er ja leben, er, Abu Bakr und seine Frau und seine vier Kinder. Es war nicht leicht, das klapprige Gefährt abzuzwacken. Wer bringt schon eine Leistung zweimal, die nur einmal bezahlt wird.

      Die Räder graben sich tiefer in den ausgefahrenen Sand. Langsam kommt er voran. Die Fahrt hinauf über die Dünen ist ebenso gefährlich wie wieder herunter. Und seine ganze Mission ist gefährlich. Er ist allein.

      Daleel hatte sich abgeseilt, aus Angst, sie würden noch einmal in der Aussichtslosigkeit stecken bleiben.

      Bevor er das Wagnis eingeht, will er sich noch einen Schluck aus der Flasche genehmigen. Man kann nie wissen, ob man stecken bleibt und ob man, wenn der Wagen umstürzt, überhaupt noch an sein Wasser kommt. Abu Bakr greift hinter sich und zieht den bestickten Ziegenlederbeutel hervor. Das Wasser ist lauwarm und stinkt, aber es benetzt seine aufgesprungenen Lippen