Maxi Hill

Die kalten Spuren im heißen Wüstensand


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das gemeinsame Schicksal, das sie zu Flüchtlingen gemacht hat. Der letzte Ausweg schmiedet Wildfremde zusammen, die auch jetzt kaum wichtige Worte wechseln.

      Diese Flucht sollte viel schneller gehen. Das war versprochen. Keiner wollte zu Fuß durch die Wüste laufen, manch einer in Schuhen aus Autoreifen. Niemand wollte über Dornensteppen mäandern oder barfüßig in ausgedorrte Flussbetten geführt werden und doch nicht trinken können. Niemand von ihnen wollte sich klammheimlich über steinige Bergrücken stehlen müssen, geduckt, um nicht gesehen zu werden. Per LKW und Boot, das hatte man ihnen versprochen. Die meisten flohen vor der Armut, dem Hunger und dem Müßiggang, der sie nicht nährte. Kein einziger Mensch aus diesem Treck Junger und Älterer, Kinder und Frauen, weiß, warum Dzemila mit ihren Kindern unter ihnen war. Ashanti weiß es selbst nicht. Aus Sicherheit, wie Mutter sagte.

      Obwohl sie nicht vor den anderen weinen will, kommen die Tränen und mischen sich mit dem Schweiß. Verstohlen schaut sie nach Mbalu, der hin und wieder ein Kommando gibt, das sie nicht versteht. Er hat dieselbe Haut, aber seine Sprache ist ihr fremd. Zum Glück spricht er auch portugiesisch wie sie und englisch im Kauderwelsch durcheinander. Daraus kann sie ein paar Brocken schöpfen…

      Ashanti ist minutenlang abwesend. Wenn sie sich intensiv mit einer Sache beschäftigt, bekommt sie von den Dingen um sie herum nichts mit. Ihr Zuhause beschäftigt sie so stark, ihre geliebte Mama, ihr sauberes Haus mit dem gefegten Hof, der Toilette und dem Gärtchen mit Papaya-Bäumen und Kohlpflanzen und Zwiebeln. Noch immer abwesend, streichelt sie über Kanzis Kopf. Er verharrt reglos, nur die verschwitzten Wangen zucken und sein Haar glänzt von winzigen Schweißperlen.

      Wie stets in der heißen Zeit sitzt sie ebenso still, ebenso seltsam apathisch da, wie die Leute um sie herum. Die Menschen verhalten sich, als begingen sie noch immer ein Trauerritual, gespenstisch, und doch kraftschonend, wenn sie es richtig bedenkt.

      Kurz darauf kriecht die noch kürzlich von ihrem Mann geschlagene Frau dichter zu Ashanti heran. Sie sagt, dass es die Männer nicht so meinen, wenn sie mal zuschlagen. Und weil Ashanti nicht spricht, fragt sie ganz leise nach deren Vater und warum er nicht dabei sei. Ashanti weint still. Zu antworten fällt ihr nichts ein. Sie waren seit Monaten gezwungen, die Wahrheit zu verschweigen. Ob das noch immer vonnöten ist, weiß sie nicht. Vielleicht hätte sie unter all den Menschen in dieser Frau eine Fürsprecherin, wenn es brenzlig wird. Vielleicht. Dazu müsste sie mit der Frau reden, was sie nicht für nötig hält, weil die Frau sich selbst nicht schützen kann. Wenn sie doch bloß nicht so viel Angst vor dem Manne hätte…

      Ihr Vater, Dikembe, war nicht gewalttätig. Nicht gegen Mutter Dzemila und nicht gegen seine Kinder. Er war ein Zugereister, der aus Liebe seine Heimat verlassen hatte, aber in Mutters Heimat nie anerkannt war. Zu schön war seine Frau und zu begehrt von den Einheimischen, die ein Vorrecht zu haben glaubten.

      Vater Dikembes Heimat lag nördlich des Kongos. Er hatte im südlichen Nachbarland nach Arbeit gesucht, aber auch hier keine gefunden. Später war er noch einmal aus selbigem Grund wieder nördlich über Grenzen gegangen. Egal, wo er etwas finden würde, sie alle wären ihm überallhin gefolgt.

      Zwischen Vaters und Mutters Heimat wollten sie schließlich leben, gemeinsam. Aber auch hier wüteten Rebellen …

      Im geduldigen Nichtstun harren enttäuschte Menschen aus Ländern verschiedener Herren und Götter gegen die sengende Hitze, bis ihre Schatten länger werden. Nur die Frau im grünbraunen Anzug – sie heißt Victoria, wie Ashanti jetzt weiß - knüpft etwas zwischen flinken Fingern. Ausgerechnet Victoria, der man nicht einmal ansieht, dass sie eine Frau ist, wäre nicht der vorgewölbte Oberkörper…

      Das Märchen-Büchlein, aus dem jetzt die Schwester dem Bruder vorliest, steckte noch immer in Mutters Täschchen, das Dzemila eigenhändig mit Perlen bestickt hatte, die der Vater von einer Reise mitgebracht hatte.

      Die Kinder wussten nicht, welche Reise er angetreten hatte und die Kinder wissen jetzt nicht, in welchem Land sie gerade sind. Die Flucht bis hierher in diese unwirtliche Welt war lang und kräftezehrend. Die Erwachsenen sagen, mit dem LKW hätten sie es längst geschafft. Wären sie nicht betrogen worden, ginge es jetzt mit dem Boot weiter.

      Der nächste Aufbruch steht bevor. Wie vom heiteren Himmel kommen zwei junge Männer und bieten Ashanti an, Mutters Beutel zu tragen. Sie reden mit ihr, wie noch keiner von denen mit ihr geredet hat. Und Ashanti kann sehr freundlich sein, zu jedermann. Gegen Freundlichkeit hat auch ihre Trauer nichts. Nur Kanzi blinzelt eifersüchtig zur Schwester empor.

      Einer der beiden Männer, dessen Gesicht ein paar mehr Höhen und Tiefen hat, dessen Haar steif nach oben ragt, dessen Haut fast schwarz und die Hände umso weißer sind - redet davon, dass es gut wäre, wenn zwei Flüchtlinge verschiedener Länder im Aufnahmeland heiraten würden. Da käme keiner auf die Idee, einen von ihnen zurückzuschicken. Sein Onkel habe erzählt, die egoistischen Europäer nähmen keine Leute mehr auf, die aus reiner Not über das Meer kommen. Und dann fragt er mit seltsam lauerndem Blick aus gelblichen Augen, warum Ashanti noch nicht verheiratet sei. Seine Schwester sei erst vierzehn und lebe längst bei ihrem Mann.

      Ashanti lächelt nur. Sie kennt ein paar Mädchen, die jung versprochen wurden und die totunglücklich den vorbestimmten Weg in die Ehe gingen. Das gefällt ihr nicht. Sie will einen Mann, der sie liebt, so wie Vater Dikembe Mutter Dzemila geliebt hat.

      Victoria, die mit ihren Kindern unweit läuft und nebenbei mit ihnen ein paar Fingerspiele macht, mischt sich ein.

      »Du Grünschnabel. Was weißt du schon von uns Frauen. Nichts weißt du.«

      Und zu Ashanti sagt sie später: »Recht tust du daran, dein Leben zu leben, wie es dir gefällt.«

      Inzwischen sagt der andere, der mit dem reinen Blick und der schmalen Nase, dass er das auch nicht verstehe – das, warum Ashanti noch nicht vergeben sei – weil sie doch ein so wunderschönes Mädchen sei. Victoria stimmt dem Schmalnasigen zu.

      Auf einmal geht es sich ganz leicht durch den Sand. Auch der strafende Blick der Leute in ihrer Nähe kann ihre Zuversicht nicht trüben. Seit sie gemeinsam so gehen, ist Ashanti einfach nur dankbar, noch am Leben zu sein.

      Die Schuhe sind längst durchgelaufen, in den Kleidern reibt der Sand. Die Augen brennen und der Kopf schmerzt bei jedem Lichtstrahl, der sie noch schwach vom Horizont her trifft. Seit Tagen steht ihnen die Sonne im Rücken. Ashanti meint, weil das so ist, hätten sie die rote Linie überschritten. Kanzi schüttelt seinen Kopf. Er weiß, dass seine Schwester sich irrt. Er hat auf alles geachtet, was unter seinen Füßen dahinzog. Vater hatte es ihm beigebracht, aus Respekt vor den Schlangen, in deren Lebensraum der Mensch eindringt, wenn er durch die Savanne wandert. Eine rote Linie habe er nicht gesehen. Die beiden jungen Männer an ihrer Seite lachen amüsiert. Bis zum nächsten Stopp tragen sie brav den Beutel von Ashantis Mutter, dann beugen sie sich den Blicken einiger Frauen und trollen sich in die Gruppe der jungen Männer zurück, wohin sie gehören, was auch Mbalu für richtig erachtet.

      Nicht nur die Gespräche der Gruppe junger Männer, die nach dem Marsch in ihrer Nähe sitzen, interessieren Ashanti auf einmal. Es sind die Bilder, die einer auf seinem Handy gespeichert hat. Bilder von Hamburg. Pompöse Stadtansichten, die Elbphilharmonie, das Rathaus mit dem Jungfernstieg. Das alles weckt Begehrlichkeiten. Man lässt Asanti und alle anderen teilhaben an der offensichtlichen Euphorie. Die Männer benutzen einen der Akkus, den Mbalu aus einem einzigen Grund locker gemacht hat: Alle zum Durchhalten zu motivieren. Das Schlaraffenland ist nah…

      Ohne diesen Akku hätten sie nicht einmal diese gespeicherten Bilder gesehen.

      In den jungen Männern liegt eine Sehnsucht nach der Ferne, die theatralisch anmutet und doch dem puren Leben dient. Keiner bekennt, dass er reich werden oder nur die Welt erkunden möchte, die sein Horizont ihm bisher vorenthalten hat. In Wahrheit folgen sie dem Ruf der Familie, den kleinen Wohlstrand aus dem Land der Weißen auf die rote Erde zu tragen. Der Sohn habe die Pflicht, die Familie zu ernähren oder ein Häuschen zu bauen, wie es der Nachbar konnte, weil sein Sohn Geld von Europa schickt.

      Ashanti lehnt an einem knorrigen Kameldornbaum und schaut verträumt ins Nichts. Europa? Wie kann es sein, dass die Welt so ungerecht mit ihren