A.B. Exner

Kollateraldesaster


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nicht sonderlich attraktiven, immerhin fast dreißigjährigen Schwester. Und dieser Gummihund nimmt sich den Wagen seiner Schwester, um ihn nach Haus zu fahren und legt den ollen Opel aufs Dach. Dass er jetzt einen fulminanten Hüftschaden mit Omas Hunden gemeinsam auskurieren durfte, war also so nicht geplant.

      Aber wo zum Teufel war die Kamera? Eines dieser „Sammeln Sie doch bitte Punkte und wir werfen Ihnen High Tech hinterher – Tankstellen Produkte“. Angeblich hatte seine Freundin nicht einmal fünfzig Euro dazu bezahlt. Trotzdem war dieses Mistding jetzt verschwunden. Er war nur diesen Weg runtergefahren und hatte immer auf dieses Schiff gehalten. Dazu etwas moderiert. Er näherte sich dem Fluss, der Warnow, und filmte weiter. Immer die „Santa Barbara Anna“, so hieß das Schiff, nach der Mutter der Kelly Familie, im Visier.

      Und dann folgte dieser Schuss. Er hatte keine Angst. Er hatte keine Illusionen. Er wusste genau was er tat. Er sah, dass der Mann, trotz seiner Maske, irritiert war. Das war eine neue, unbekannte Situation für ihn. Er überbewertete den anscheinenden Krüppel. Er war in Panik. Obwohl er wirklich gut vorbereitet war. Er hatte eine Plane, eine Maske, eine Halterung für das Gewehr, so eines hatte er noch nie gesehen, und er hatte einen Schuss abgefeuert. Er selbst hatte keine Erfahrung mit Waffen.

       Aber jetzt hatte er eine Waffe. Das war das Entscheidende.

       Und er wusste, dass er lernen würde, damit umzugehen.

       Und er wusste, dass er ein Leben beenden würde.

       Er, Marc Hüter, würde vielleicht im Knast landen.

       Aber der Andere wäre endlich tot.

      Saarbrücken, sechs Tage später

      Internet ist doch was Fantastisches.

       „www.waffenhq.de“ - und du findest alles, was du über ein Gewehr wissen musst. Und bei „YouTube“ stellen diese waffenverrückten Amis sogar Videos rein, in denen das Gewehr genau beschrieben wird. Sogar, wie man damit schießt und es auseinander zu nehmen hat.

       Am wahnsinnigsten war der Gedanke, dass er seit Rostock, im Zug, auf dem Bahnsteig, im Bus und wo er sich überall rumgetrieben hatte, die Waffe nicht einmal gesichert hatte. Er transportierte das schwere Teil einfach so, wie er es eine Woche vorher gefunden hatte. Wie leicht hätte sich ein Schuss lösen können. Aber gut, er hatte eben keine Erfahrung mit Waffen. Doch im Internet fand man alles, was man brauchte. Auch die entsprechenden Angaben zum Visier, zur Munition, zur Reinigung. Er hatte sich etwas Waffenöl gekauft. Nicht das er sich wirklich zugetraut hätte, die Waffe auseinander zu nehmen. Aber den Gehäusedeckel hatte er abgemacht und mit einem Zerstäuber etwas Öl hinein gesprüht. Der Zerstäuber war von seiner Mutter. Eigentlich sollte in diesen, wie nannte seine Mutter das Ding, Öldosierer, genau, das war das Wort, Öldosierer, also da sollte so ein Öl rein, was sie sich immer auf ihren Mozzarella machte. Er mochte den doofen Käse nicht und seine Mutter besuchte ihn schon seit Jahren nicht mehr.

       Er war jetzt 33, an den Rollstuhl gefesselt und hatte endlich seinen alten Peiniger wieder gefunden. Nichts war ihm so verhasst, wie das Internat, in das seine Eltern ihn gesteckt hatten.

       In der Eifel, Junge, da ist es schön. Wunderbare Lehrer. Ein ganz neues Gebäude. Da kannst du sogar reiten. Und lernst neue Leute kennen. Da bist du so ein bisschen auch dein eigener Herr.

       Seinen Vater interessierte nur, wie er das Geld für das Internat auftreiben sollte. Grundsätzlich war er schon für eine höhere Schulform. Aber weshalb in die Eifel? Der Vater wünschte es eigentlich anders. Frankreich war gleich um die Ecke von Baden-Baden. In Strasbourg würde der Junge nicht nur zweisprachig aufwachsen, sondern auch noch an einem sportorientierten, internationalen Gymnasium lernen können. Freitagabends in den Bus - und keine fünfzig Minuten später zu Haus in Baden-Baden.

       Das wäre nicht nur näher dran, sondern auch billiger.

       Letztlich setzte sich Mutter durch. Also Privatschule in der Eifel. Drei Jahre später starb sein Vater von einem Tag auf den anderen. Gehirnschlag. Einfach so.

       Und Mutter hatte kein Geld mehr für das Internat. Sie ging ja nie arbeiten. Das Geld hatte Vater ran geschafft. Und nicht wenig. Als die Lehrer mitbekamen, dass er am Ende des Schuljahres gehen würde, beantragten sie sogar eine Art Stipendium für ihn. Es sollte nichts helfen. Antrag abgelehnt.

       Keinem war die Situation angenehm.

       Nur einer war sehr traurig, als Marc die Schule verließ.

       Holger Baum. Der mieseste, unberechenbarste Mensch, der Marc in seinem jungen Leben begegnet ist. Intrigant und Wohltäter. Schaf und Wolf.

       Holger Baum, dieses miese Schwein, wollte immer Lehrer werden und hatte ganz konkrete Vorstellungen von großdeutscher Erziehung im Stile der Schulen der 30-er Jahre des vorigen Jahrhunderts. So würde er lehren wollen. Aber vorher musste er noch seine Experimente beenden. Experimente an Mitschülern. Marc Hüter war eines seiner Lieblingsopfer. Bittere vier Jahre lang glaubte ihm kein Mensch, ob Eltern oder Lehrer, dass Holger ein sadistisches Schwein war, welches die ausgeklügeltesten Methoden entwickelte, um Andere zu quälen ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.

       Es fing damit an, dass eines Morgens Marcs Bett nass war. Nicht nur Wasser. Nein, alle mussten denken er sei ein Bettnässer. Unmissverständlich sagte Holger ihm, nachdem praktisch jeder in der Schule von der Bettnässerei wusste, dass er selbst es gewesen war und dass er noch ganz andere Sachen anstellen würde, wenn Holger nicht an Marcs Taschengeld beteiligt würde.

       So ging es immer weiter. Prügel, Verbrennungen, eiskalte Duschen, Drogen in seinem Bettzeug, Kot in seinen Schuhen. Einmal war Marcs ganzer Schrank leer. Holger half scheinheilig beim Suchen.

       Später kassierte er nicht mehr, er wollte „Erfahrungen mit Jungs sammeln“. Genau so drückte er sich aus. Marc, drei Jahre jünger, damals gerade elf Jahre alt, wurde gezwungen, sich einen Pornofilm anzuschauen. Dabei sollte er sich selbst befriedigen. Holger war stärker, größer, gemeiner, fieser und heimtückischer. Er hatte die Macht. Und, er hatte ein Video davon, wie Marc sich im Bibliotheksraum der Schule einen runterholte.

       Damit war Marc völlig in Holgers Händen. Er wollte nur noch raus. Seine Leistungen gingen den Bach runter. Er schlief oft nicht in seinem Bett, sondern im Gewächshaus. Verdrückte sich, wo er konnte. Ein gebrochener junger Mensch von zwölf Jahren. Alle Gespräche mit Eltern und Lehrern gingen ins Leere.

       Er durfte doch nichts sagen. Holger würde das Video irgendeinem Lehrer vor das Büro legen. Holger war auf dem Video nicht zu sehen. Nur Marc und ein Porno und seine Selbstbefriedigung.

      Niemand könnte Holger damit belasten, niemand könnte helfen. Marc wurde dreizehn und sein Vater starb. So traurig er war, so dankbar war er. Jetzt endlich konnte er dieser Schule den Rücken kehren.

      Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hatte er in Baden-Baden Ruhe. Dann kam der Tag als plötzlich die Hölle auf Erden an seiner Tür klingelte. Er stand vor ihm, nicht nüchtern, und sagte nur: „Ich brauche Geld!“

      Marc brach sofort zusammen. Er hatte gehofft, gefleht, ja sogar gebetet, dass dieses Monster längst tot sei oder wenigstens ausgewandert. Er war sofort jeglicher Ansätze seines gerade erst gewachsenen Selbstbewusstseins beraubt. Holger Baum sehen und augenblicklich zusammenknicken, war die einzige Reaktion.

       War er wirklich dazu verurteilt diesem Vieh ausgeliefert zu sein?

      „Gib mir Geld!“

       Schon hatte er Marc am Kragen und drang in die Wohnung ein. Seine Schwester müsste gleich kommen er müsste nur durchhalten.

       „Ich bin von der Schule gegangen, weil wir kein Geld hatten. Ich hab jetzt auch kein Geld.“ Marcs Antwort kam zögerlicher, als er selbst erwartet hatte. Würde er ihm glauben oder ihn schlagen?

       Nichts tat Holger. Er schritt durch die Wohnung und sah sich um. Er schmiedete Pläne, dass kannte Marc. Er konnte es spüren. Gleich würde wieder etwas aus seinem kranken Hirn erwachsen.

       Da lag die Vase schon kaputt auf dem Boden. „Oh, das tut mir leid. Ich bin sicher, deine Supermutter wird das verstehen. Aber dieser Fernseher, ob sie das auch verstehen wird?“ Marc war wieder allein, er