Jan-Hillern Taaks

Die Wolf


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ich einen Vaterschaftstest habe machen lassen - nicht aus Respektlosigkeit deiner Mutter gegenüber, sondern um zu gegebener Zeit eine Rechtsposition für dich zu haben."

      Helene verstand das sehr gut. Otto sagte weiter: "Ich bin ja nicht allein in dieser Welt. Ich habe zwei ältere Schwestern, die haben Kinder und Kindeskinder. Sollte ich mal nicht mehr sein, so bist du als mein leibliches Kind die Erbin. Dennoch brauchen wir nicht herumzuposaunen, dass du meine Tochter bist. Das behalten wir für uns." Otto nickte Ralf kurz zu, dann sagte er weiter: "Ich habe sehr spät angefangen, mir etwas aufzubauen, wobei mir Ralf immer zur Seite stand. Inzwischen geht es mir finanziell recht gut, und es sieht so aus, als würde ich - wie sage ich es am besten - als würde ich weiterwachsen. Ich baue auf, für mich, für dich, für deine Kinder. Und das war nur möglich, weil Ralf da war."

      Onkel Otto stand auf und ging hinaus. Er wollte seine Tränen nicht zeigen.

      13. Kapitel

      Ralf starb am 2. Januar 1988. Beide, Otto und Helene waren bei ihm. Helene war tief getroffen. Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass ihr Ralf so viel bedeutet hatte, allein schon durch sein Dasein. Und jetzt war er nicht mehr da. Otto regelte praktisch alles: die Traueranzeige im Abendblatt, die bescheidene Trauerfeier, an der viele ehemalige Kollegen von Ralf teilnahmen. Helenes Tante Adelheid, die Schwester von Helenes Mutter, war nicht gekommen, aber diese Tante war bisher kaum in Erscheinung getreten, sie war für Helene nicht wichtig. Es gab eine Einäscherung und die stille Beisetzung der Urne ohne Pastor, denn Ralf war aus der Kirche ausgetreten. Die Kinder waren nicht dabei.

      Zunächst von kaum einem Menschen bemerkt war Bernd Wolf zur Urnenbeisetzung gekommen. Er war einfach gekommen, und stand abseits von den wenigen Menschen, die anwesend waren. Er war in Jeans und einem dicken Pullover, die Hände waren in Fäustlingen versteckt. Die braunen Haare waren schulterlang und ein wenig unordentlich. Als die Urne nun verschwunden war, als letzte Worte gefallen waren, da erst bemerkten Otto und Helene den Mann. Helene war zunächst starr, dann ging sie sehr langsam auf ihn zu. Er umarmte sie, sagte aber nichts. Sie legte ihren Kopf an seine Brust und schloss die Augen. Für Augenblicke verschwand die Trauer und machte einem Glücksgefühl platz. Bernd, ihr Mann, war gekommen.

      Otto sah die Umarmung und glaubte zu erkennen, dass sie für Helene wichtig war. Er nickte. Er ging auf die Beiden zu und sagte:

      "Ich gehe nach Hause - ich warte auf Euch."

      Otto war kaum zu Hause, da kam Helene bereits, aber allein. Nein, sagte sie, Bernd habe nicht kommen wollen. Otto fragte nicht. Manchmal sagte er sich, dass er einen Fehler gemacht habe, damals, als er Bernd zur Ehe genötigt hatte. Nun, es war passiert, Bernd war Helenes Ehemann, und mehr gab es dazu nicht zu sagen. Otto blieb nur wenige Stunden. Noch vor dem Abendessen verabschiedete er sich. Er sagte sich, dass Helene ihre Zeit für sich brauche, denn mit der Urnenbeisetzung war ein ganzer Lebensabschnitt zu Ende gegangen. So etwas musste verdaut werden.

      Die ersten Tage nach der Urnenbeisetzung waren für Helene sehr schwierig. Es war gut, dass die Kinder da waren, dass die Putzfrau und dass Gerlinde da waren. Es war auch gut, dass sie sowohl in der Kanzlei als auch für ihr Studium sehr viel zu tun hatte. So langsam verblasste das Verlustgefühl. Der eher stille Heinrich und die sehr lebhafte Charlotte entwickelten sich mehr und mehr zu eigenen Persönlichkeiten, die ihre Aufmerksamkeit und die von Gerlinde voll in Anspruch nahmen.

      Für Heinrich fand Gerlinde einen Platz im nahegelegenen Kindergarten. Die kleine Charlotte war gar nicht damit einverstanden, dass Heinrich in den Kindergarten kam, während sie noch mindestens ein Jahr zu warten hatte. Während der ersten Wochen machte sie ein großes Geschrei, wenn Gerlinde den Jungen ablieferte und mit ihr allein wieder nach Hause ging. Charlotte, das zeigte sich mehr und mehr, wollte Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sein. Sie ertrug es nur sehr schwer, zurückstecken zu müssen, und das ließ sich nicht immer vermeiden. Heinrich hingegen war ruhig, freundlich und auch anderen Kindern gegenüber zutraulich. Er hatte keine Berührungsängste, aber er drängte sich nicht vor. Er weinte nicht viel, auch wenn er mal hinfiel und sich ein blutiges Knie zuzog, weinte er nicht. Er verzog allenfalls das Gesicht, aber mehr auch nicht.

      14. Kapitel

      Helene hatte ihr Studium Ende 1988 praktisch abgeschlossen, lediglich die Promotion fehlte noch. Sie arbeitete an der Dissertation und bereitete sich gründlich auf eine Diskussion vor. Sie fand in der Kanzlei eine gute Hilfe durch Dr. Abelt Junior, der gern mit ihr arbeitete. Zu seinem Vater, der sich aus Altersgründen inzwischen zurückgezogen hatte, sagte er, dass Frau Wolf ein selten gutes Talent habe, sich auszudrücken, und sie würde sich mehr und mehr zu einer sehr guten Strafverteidigerin entwickeln. Vor allem hatte sie die Eigenschaft, gut zuzuhören. Dr. Abelt bemühte sich um sie nicht nur, weil er von ihren sich entwickelnden Fähigkeiten beeindruckt war, sondern auch, um sie für die Kanzlei zu gewinnen und zu halten. "Die Wolf", so sagte er seinem Vater, "ist mehr als gut."

      Helene begleitete Dr. Abelt auch bei Gerichtsverfahren, und der ältere Anwalt ermunterte seine junge Kollegin mehr und mehr, auch Fragen zu stellen, mit dem Staatsanwalt zu diskutieren, oder Zeugen zu befragen und Aussagen zu hinterfragen. Helene lernte dabei viel - und es machte ihr auch Freude. Das Studium und die Arbeit bei und für Abelt waren natürlich nur möglich, weil sich Gerlinde um die Kinder kümmerte, und weil sie keine finanziellen Sorgen hatte. Ralf hatte ihr alles, was er besaß, hinterlassen. Ja, es war nicht besonders viel gewesen, denn Ralf hatte nicht allzu viel verdient. Aber immerhin waren es Guthaben im Wert von fast DM 100.000,00 gewesen. Und dann war Otto da, der die Miete und die Mietnebenkosten, der Gerlinde und die Putzfrau zahlte.

      Otto kam jeden zweiten Freitag, das war weniger als sonst. Als Ralf noch gelebt hatte, war er öfter gekommen. Nun aber waren es alle 14 Tage. Er kam zum Abendessen, und er brachte auch immer etwas mit - mal war es geräucherter Lachs, mal Wein. Den Kindern brachte gelegentlich ein Kinderbuch, aber niemals Süßigkeiten, Helene hatte darum gebeten. Diese Zusammenkünfte waren für Helene so etwas wie eine Erholung, denn er konnte gut zuhören. Otto hatte auch immer etwas zu erzählen, und er beschäftige sich ein wenig mit den Kindern, für die er Onkel Otto war. Helene redete ihn mit "Otto" an, darum hatte er ausdrücklich gebeten.

      Otto hatte sehr klein angefangen. Als er auf der Haft kam, hatte er mithilfe eines günstigen Kredites, für den Ralf gebürgt hatte, eine Eigentumswohnung gekauft, sie renoviert und sehr günstig wieder verkauft. Er hatte damit gut verdient, sehr gut sogar. Das wiederholte er, dieses Mal war der Nettoerlös etwas geringer. Beim dritten Mal behielt er die gekaufte Wohnung, die er nach Renovierung sehr gut vermieten konnte. Es blieb nicht bei Wohnungen. Bereits nach drei Jahren kaufte er nicht nur Wohnungen, sondern auch Häuser. Das alles war möglich, weil Ralf in der ersten Zeit bürgte, und weil sich Otto selbst die Hände schmutzig machte.

      Otto war von Haus aus handwerklich nicht geübt. Aber während der Haft hatte er Hand angelegt, er hatte Zeitungen studiert, vor allem den Wohnungsmarkt, und so nach und nach war die Idee gereift, in diesen sehr unordentlichen Markt einzusteigen. Nach der Haftentlassung brauchte er fünf Jahre, dann öffnete er sein Immobilien-Maklerbüro, die er zwei weitere Jahre später in eine GmbH umwandelte. Parallel dazu kaufte er Anteile eines Immobilienfonds, den er dann übernahm, als der Fonds in eine Schieflage geriet. Innerhalb von 15 Jahren legte er den Grundstein für eine Holding gelegt, die ein Maklerbüro, zwei Fonds und eine Reihe von Anteilen an Industriebetrieben vereinigte.

      Otto selbst lebte bescheiden. Glamour, Luxus und der Jet-Set bedeuteten ihm gar nichts. Jetzt wohnte er zur Miete in einem Mietshaus in Harvestehude. Er hatte den gesamten ersten Stock gemietet, in dem sich eine mittelgroße und eine sehr große Wohnung befanden. Er wohnte allein in der kleineren Wohnung, in der größeren Wohnung befand sich sein Büro mit gegenwärtig drei Mitarbeitern, mit denen er seine einzelnen Unternehmen in der Holding überwachte - und die Holding wuchs weiter, denn er fing an, nun auch Einzelhandelshäuser zu kaufen. Die Mietwohnung übrigens gehörte einem seiner Immobilienfonds. Otto hatte auch kein Auto. Gewiss, es gab einen Firmenwagen, aber privat brauchte er keinen Wagen, sagte er. Er hatte keine Probleme, zu Fuß zu laufen oder sich mit den öffentlichen Mitteln zu bewegen.