Jan-Hillern Taaks

Die Wolf


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und diskutierten. Andere Verwandte schien es nicht zu geben, jedenfalls spielten sie im Leben der heranwachsenden Helene keine Rolle.

      2. Kapitel

      Wegen ihrer guten Leistungen auf der Grundschule war es für Ralf und Onkel Otto eine Selbstverständlichkeit, das Mädchen aufs Gymnasium zu schicken. Helene war auch auf dem Gymnasium eine recht gute Schülerin, vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern. Der Klassenlehrer hatte mal zu Ralf gesagt, dass Helene ein fabelhaftes Gedächtnis habe, und dass sie analytisch denken könne. Sie war vielleicht nicht die Klassenbeste - das wollte sie auch nicht sein - aber in ihren Zeugnissen fanden sich keine "ausreichend" oder gar "mangelhaft". Im Sport zeichnete sie sich beim Wassersport und im Turnen aus, während sie den Mannschaftssport wie Handball oder dergleichen mied.

      In diesen Jahren hatte sie seit der Volksschule eine Freundin namens Lilly. Lilly, ein Jahr älter als Helene, war ebenfalls ein Einzelkind, ihre Mutter, geschieden, war Altenpflegerin. Helene, obgleich jünger als Lilly, war sehr groß, und in der Schule hatte sie den Spitznamen "Bohnenstange", was sie aber nicht störte. Auch Lilly störte das nicht weiter. Helene besuchte ihre Freundin recht oft oder umgekehrt, Lilly besuchte sie, und Ralf fand die beiden Mädchen oft zusammen im sogenannten Mädchenzimmer, wo sie sich endlose Geschichten erzählten oder auch gemeinsam Schularbeiten machten.

      Gemeinsam besuchten die Mädchen die Tanzschule, Lilly war 16 Jahre alt, Helene 15. Lilly entdeckte sich in dieser Zeit selbst, ihren Körper, und sie entdeckte ihre erste Liebe. Damit endete nicht die Freundschaft der beiden Mädchen, aber sie kamen nicht mehr so oft zusammen. Lilly verabredete sich recht oft mit ihrem jungen Freund, und mit einigem Erstaunen stellte Helene fest, dass Lilly eines Tages einen anderen Freund hatte. Freunde wechselten. Helene merkte, dass es Lilly auch um die körperliche Liebe ging, und dass Lilly von einer rein platonischen Freundschaft mit einem Mann nichts hielt. Lillys Mutter hatte nichts gegen die körperliche Beziehung zwischen Frauen und Männern - oder zwischen Mädchen und Jungen. Sie hielt es für sehr vernünftig, wenn junge Menschen auch diese Seite des Lebens kennenlernen würden. Sie hatte Lilly gründlich über die körperliche Liebe und deren Gefahren aufgeklärt. Lilly gab das Wissen natürlich ihrer besten Freundin weiter, denn Lilly wusste, dass Helene keinen anderen Menschen hatte, mit dem sie darüber reden könnte, oder der sie in die Geheimnisse des "schönen" Lebens der Erwachsenen einweisen könnte.

      Helene war neugierig - nein: wissbegierig, und sie verfolgte mit Interesse dem, was Lilly zu erzählen und zu zeigen hatte. Aber sie hatte keinen Freund, zumindest keinen Mann, mit dem sie mal den Versuch machen könnte, ins Bett zu steigen. So wissbegierig sie war, sie wollte mit keinem Menschen ins Bett steigen, der ihr nicht sympathisch war. Der Mann musste nett sein, gut aussehen, und kein dummes Zeug reden. Und so einen Mann hatte Helene auch noch nicht gefunden.

      Es war Onkel Otto, der bei einem seiner Besuche Ralf fragte, ob das Mädchen inzwischen einen "festen Freund" habe, denn seines Wissens hätten junge Mädchen in dem Alter einen Freund.

      "Was? Nein, Helene hat keinen festen Freund", entgegnete Ralf, aber so sicher war er sich nicht. Immerhin hatte er nie einen Freund gesehen, und Helene hatte darüber auch nie gesprochen.

      3. Kapitel

      Helene stand kurz vor dem Abitur. Lilly hatte die Schule verlassen, sie wollte kein Abitur, sie wollte keine Schule mehr, sondern sie wollte eine Schneiderlehre machen - ihre Mutter hatte zugestimmt, wie Lilly erklärte. Das war auch so etwas wie eine Trennung, denn Lilly mit wechselnden Freunden und einem Berufs- und Lebensweg, der ganz anders war, war einfach nicht mehr da. Man traf sich nicht mehr so oft, was Helene leidtat, wenngleich sie sehen konnte, dass Lilly einfach keine Zeit hatte.

      Helene jedoch wollte ihr Abitur machen, obwohl sie nach Lillys Ausscheiden aus der Schule nicht gerne dorthin ging. Sie fühlte sich allein. Nun kam ihre schlanke Größe hinzu, die ihr den Spitznahmen "die Bohnenstange" eingebracht hatte. Das hatte ihr bisher nichts ausgemacht, aber nun, wo es keine Lilly mehr gab, ärgerte sie sich darüber. Die Schule wurde ihr noch unsympathischer. Aber sie wollte weitermachen, denn sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, Jura zu studieren. Warum Jura, hatten sowohl Ralf als auch Onkel Otto gefragt. Helene hatte keine sehr klare Antwort darauf, sie sagte aber, dass sie in der Tageszeitung - es war das "Hamburger Abendblatt" - die Nachrichten über Verbrechensbekämpfung und Gerichtsverfahren mit kritischem Interesse gelesen habe.

      "Ich finde, dass Jura sehr interessant ist", behauptete sie, "und das möchte ich lernen."

      Onkel Otto machte ihr klar, dass man zwischen dem Strafgesetzbuch, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, dem Handelsgesetzbuch und anderen gut zu unterscheiden habe.

      "Woher weißt du das?", fragte Helene, als Otto mehr in Einzelheiten ging und meinte, dass es nicht nur auf die vielen Gesetze ankomme, sondern auch auf die Rechtssprechung. Auf Helenes Frage hatte Onkel Otto keine Antwort, er meinte nur, dass er im Laufe der Zeit recht oft mit Gesetzen zu tun gehabt hatte.

      Und nur wenig später besorgte er einige Gesetzestexte und gab sie ihr. Ja, sagte sie, sie werde die Texte lesen, und das tat sie auch. Sehr zum Erstaunten von Ralf und Onkel Otto. Onkel Otto, der eigentlich nicht viel Zeit hatte, gab ihr 200,00 Mark und sagte, sie solle doch in die Buchhandlung gehen, um sich in der Literatur umzuschauen. Das tat sie auch. Das Abitur schien auf einmal Nebensache zu sein, so sehr befasste sie sich mit juristischen Texten, die sie hoch spannend fand. Ralf schüttelte staunend den Kopf. Er selbst hatte kein Abitur. Er hatte eine kaufmännische Lehre durchgemacht, und damit war er sehr zufrieden gewesen, denn als Filialleiter hatte er einen guten Posten.

      Die mündlichen und schriftlichen Prüfungen zum Abitur bestand sie mit sehr guten Noten. Sie hatte, wie ihr Klassenlehrer ihr zum Abschluss bestätigte, eine klare Art, sich auszudrücken. Nein, sie war nicht die beste Schülerin, aber sie rangierte unter den ersten fünf Abiturienten, und das war ihr genug, wie sie sagte. Waren die Prüfungen schwer gewesen? Als Onkel Otto sie das fragte, winkte sie ab, und sie bestätigte, dass sie sich jetzt um einen Studienplatz kümmern werde.

      "Tue das", sagte Onkel Otto, dem es gefiel, dass Helene ein Ziel vor Augen hatte, und offensichtlich dabei war, das Ziel auch zu erreichen.

      4. Kapitel

      Helene Marquart bekam einen Studienplatz, sehr zur Freude von Ralf und Onkel Otto. Und dann passierte etwas, womit Helene am wenigsten gerechnet hatte: Sie verliebte sich in Bernd Wolf, einen Gärtner. Helene war mit der S-Bahn zur Gärtnerei gefahren, so wollte ganz einfach ein paar Blumen für die Wohnung kaufen. Ohne Blumen sah die Wohnung traurig aus, fand sie, und weder Ralf noch Onkel Otto fanden die Zeit und Muße, Blumen zu besorgen.

      Sie sah Bernd, und sie glaubte, auf einmal in einer anderen Welt zu sein. Bernd Wolf war groß, sicher fast zwei Meter groß, breit in den Schultern und schmal in den Hüften, er hatte ein längliches, fast kantiges Gesicht und strahlte eine spürbare animalische Wärme aus. Seine starken Muskeln zeugten von Sport und körperlicher Arbeit. Bernd hatte braune Haare, tief liegende hellbraune Augen, eine gerade Nase und einen breiten Mund, der immer zu lächeln schien. Als Helene ihm gegenüberstand, vergaß sie, was sie eigentlich wollte. Sie wollte den Mann berühren, und sie glaubte, ihr ganzer Körper verlangte ihn, einen Mann, den sie noch nicht einmal kannte, von dem sie nichts wusste.

      "Kann ich etwas für sie tun", fragte er. Er hatte eine einschmeichelnde Stimme, die für Helene wie Musik klang. Sie nahm sich zusammen, sie errötete, und schließlich sagte sie:

      "Eigentlich wollte ich ein paar Blumen." Wie dumm, sie schalt sich, denn was heißt "eigentlich"?

      Bernd schien zu verstehen, was in ihr vorging. Sein Lächeln vertiefte sich, als er sie zu einer Tasse Kaffee einlud - wo? Ja, hinten, im kleinen Büro. Bernd bat eine Mitarbeiterin, den Laden zu übernehmen, dann führte er Helene ins Büro. Das, was sich Büro nannte, war ein kleiner Raum, in dem sich ein Schreibtisch, drei Stühle und viele Regale befanden, und Papier gab es überall.

      Bernd nahm Helene