Simone Lilly

Fall eines Engels


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der Leitung sprechen. Ich werde mich darum kümmern. Aber was dachte er da. Niemals würde sein Vater mit der Leitung sprechen, was er ihm andererseits nicht verübeln konnte, denn es war ein offenes Geheimnis, dass keiner auf ihn hören würde, allein schon deswegen, da er das Gebäude mit schwarzen Flügeln betrat und auch wieder verließ. Ebenso wie sein Sohn.

       Niemand sagte mehr etwas. Am Vortag war Adral schwer verletzt gewesen, von den Schlägen der Wächter. Gekümmert hatte das keinen, es war normal. Beschloss aber Raphal warum auch immer morgens durch die Luft zu fliegen, waren alle krank vor Sorge.

      Seine Mutter hatte sich an den Tisch gesetzt, sich einen Teil der Zeitung geschnappt und ihn demonstrativ aufgeschlagen, so als wolle sie ihm damit mitteilen: ich spreche nicht mit dir. „Also“, sagte Adral, machte eine Pause, sprach dann als niemand etwas sagte aber ungehindert weiter. „Ich geh dann mal raus.“

       „Wohin?“

      Ach, hört mir also doch einer zu. „Ich weiß es nicht.“

       „Du könntest für mich etwas einkaufen gehen.“

       „Muss das sein?“

      „Du weißt doch nicht was du machst. Dann kannst du genauso gut neue Weizen kaufen.“

       „Aber Mama …“

      Sie wurde ernst.

       „Das war keine Bitte, Adral.“

      Gereitzt schlug er auf die Tischplatte und rückte mit dem Stuhl. „Na schön. Mache ich, bis dann.“

       „Bleib nicht zu lange, und wenn du Raphal siehst …“

      Erbost knallte er mit der Tür, blieb vor ihr stehen und brüllte zurück. Ob sie ihn durch die dicke Haustür hören konnte, war ihm egal. „… dann sag ich ihm, dass er zu euch kommen soll, ja! Verdammt nochmal!"

       In Rage verzichtete er sogar darauf, den kurzen Weg zum Laden zu fliegen.

       Er befand sich mitten in ihrer Stadt, es war also nicht weit, auch wenn man lief.

      Seine Mutter hasste es einkaufen zu gehen. Deshalb schickte sie grundsätzlich immer nur Raphal. Er wurde wenigstens von anderen bedient, sobald er etwas suchte. Da Raphal nicht hier war, musste jetzt er herhalten

      Er kam nur langsam voran. Aber Fliegen würde nur bedeuten, dass er glücklich war, sich frei wie ein Vogel fühlte, leicht wie eine Feder. Dabei war ihm alles andere als das zumute. Das wollte er auch allen zeigen. Trübsinnig setzte er einen Fuß vor den anderen. Dass man zu Fuß viel langsamer vorankam, doch das war ihm egal, zurück wollte er ja doch nicht. Jedenfalls nicht allzu schnell.

      Hunderte Menschen zischten hoch über ihm an ihm vorüber, manche tauchten über die dünne Wolkenschicht nach oben und waren nicht mehr zu erkennen. Eine Mutter landete mit ihrem Kind nicht weit vom gut besuchten Park, setzte es dort vorsichtig auf den Boden und animierte es zu spielen. Adral musste schmunzeln. Er hatte gar nicht erst dort spielen dürfen. Die anderen Kinder hatten kein Interesse und wurden von ihren Eltern auch keines Besseren belehrt. Im Gegenteil, sie stichelten ihre kleinen Engel auch noch dazu an, ihn auszuschließen, denn er verkörperte ja das Böse. Das allgemeine Lachen und Schreien der Kinder lies ihn kalt. Traurig ging er weiter. Die Häuser wurden größer, höher und breiter. Eine Glasfront nach der anderen stach aus den Wolken unter seinen Füßen und schlängelte sich malerisch nach oben zur Sonne hin. Der Markt. Dort kauften alle. Es gab nichts anderes.

      Die Türen schwangen zur Seite, augenblicklich wurde er von noch kälterer, stickiger Luft umhüllt. Um in den Einkaufsbereich zu gelangen, hatte man erst einen schier endlos langen Gang hinter sich zu bringen, dort konnte man seine schweren Taschen zurücklassen, oder sogar manchmal kleine Kinder, die dort zu warten hatten. An diesem Tag hatte niemand etwas dort hinterlassen. Adrals Schritte hallten schwer und tragend zur hohen Decke hinauf, denn der Boden war glatt, in den Fließen konnte man sich spiegeln, so sauber waren sie. Fast begann er auf ihnen zu rutschen. Er war da. Eine lange Schlange tat sich vor ihm auf, eine Schlange bestehend aus vielen Tischen. Auf ihnen lagen alle möglichen Nahrungsmittel. Obst, Fleisch, Gemüse. Alles was das Herz begehrte.

      Ihre Wächter waren dafür zuständig, die Nahrung von der Erde zu "stehlen". Hier oben würden alle allein verhungern.

      Weizen, er brauchte Weizen. Lustlos wandte er sich nach rechts. Der Weizen lag immer auf den hinteren beiden Tischen, fast niemand wollte ihn essen. Mal wieder wurde ihm schmerzlich bewusst, dass seine Familie anders war. Sie gehörten zu den wenigen Himmelsbewohnern, welche ihn aßen.

       Ein Schatten huschte an ihm vorüber, gerade als er seine Hand ausstrecken wollte, und nach einer schön verpackten Tüte Weizen greifen wollte. Sofort wurde er aufmerksam. Es verhieß nie etwas Gutes, sobald etwas an ihm „vorüberhuschte“.

      Alarmiert entschied er sich, sich zu beeilen. Riss die Packung an sich und wollte zur Kasse, als er abrupt an der Schulter gepackt wurde. „Na sieh mal einer an.“

      Er schloss die Augen. Er wollte ihn nicht ansehen, noch nicht. Sein Gesicht war genau wie das Raphals, wie jedes Engels. Doch er war gemein. Den Namen kannte er nicht. Doch er gehörte zu ihnen. Das genügte.

      „Ich rede mit dir.“, ruhig drehte die Hand ihm zum dazugehörenden Gesicht um. Als würde er seinem Bruder in die Augen sehen, fixierte er ihn widerwillig. „Ich hör dich doch!“

      „Was machst du hier?“

      Drei Engel hatten sich um ihn geschart, als wäre er eine Attraktion und die anderen hier um ihn zu bestaunen. Der Frontmann, der ihn umklammert hatte, begann zu grinsen. Es war ein fieses und berechnendes Grinsen. Sie wollten ihn provozieren. „Hat dir unsere Drohung letztens nicht gereicht?“ Gelassen hob er die Hände, eines war ihm schon längst klar geworden. Egal was er jetzt noch sagte, er würde so oder so verprügelt oder verspottet werden. Obwohl er innerlich vor Wut kochte und sie allesamt in der Luft zerreißen könnte, blieb er ruhig. Es lohnte sich doch gar nicht mehr sich darüber aufzuregen.

       „Erstens kaufe ich hier ein und zweitens, nein, sie hat mir nicht gereicht.“

       Ein heftiger Stoß erreichte seine Schulter. Von ihm wenig beeindruckt taumelte Adral kurz nach hinten, stieß leicht gegen die Tischkante, blieb dann aber stehen. „Du bist wohl ganz mutig, was?“

      Er nickte. Natürlich war er das.

       „Du … Teufel!“

       Er seufzte, doch weiter kam er nicht, denn der Junge rannte förmlich auf ihn zu und stieß ihn mit voller Kraft auf und gegen den Tisch. Adral konnte nicht schnell genug reagieren, er überschlug sich über den Weizen, kullerte nach unten und landete samt dem Tisch auf dem Boden. Hunderte Körner und Halme landeten auf ihm.

      „Was ist hier los?“

       Die Stimme kannte er. Sie gehörte dem Geschäftsleiter. Er war schon etwas älter, hatte grau durchwachsenes Haar und kleine Lachfalten. Doch es wunderte Adral, denn er hatte den mürrischen Mann noch nie lachen sehen.

      „N … nichts“, murmelte einer der Jungen plötzlich ganz kleinlaut und klopfte sich einige Körner aus der Zottelmähne. „So, nichts?“, barsch wandte sich der Mann direkt an ihn, riss ihn nach oben und hielt ihn abschätzend von sich fort. Um sie herum hatten sich umstehende Himmelsmenschen versammelt, alle beäugten ihn als wäre er ein giftiges Insekt. „Nichts, Sir“, stammelte auch Adral, der zwar vor Zorn platzte, aber wusste, dass er es sich nicht mit dem Mann verscherzen durfte.

       „Dein Nichts kenne ich schon!“

      Beleidigt wies Adral von sich. „Aber die Jungen haben mich doch gestoßen!“, sein zitternder Zeigefinger deutete genau auf die drei Engel, die erschrocken dabei waren das Weite zu suchen.

      Der Mann rüttelte ihn. „Lüg nicht! Aber das sieht euch ähnlich, einfach andere zu beschuldigen!“

       Das Wort „Euch“ war gefallen. Damit war natürlich wieder ihre gesamte Rasse gemeint. Ein jeder hatte beobachten können, dass Adral hier das Opfer war, doch keiner hielt es für nötig für ihn einzustehen. „Aber bitte, ich war es doch