Simone Lilly

Fall eines Engels


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„Nein bitte!“, flehend wollte er sich losreißen, doch er hatte ihn fest an den empfindlichen Federn gepackt. „Man kann den Wachen doch nichts erklären!“

       „Exakt.“

       „Bitte.“

      „Nein.“

      Sie näherten sich einer Tür, dort würde man ihn mit Sicherheit einschließen bis die strengen Wachen eintrafen. Er schluckte. Mit ihnen konnte man nicht reden, ihrer Willkür war man einfach ausgeliefert, ob man wollte oder nicht.

       „Die Jungen haben wirklich angefangen.“

      Alle hielten inne. Ein kleines Raunen ging durch den holen Raum, Adral sowie der Mann, der ihn mit sich zerrte, hielten erschrocken an und drehten sich um. Die zarte Stimme war nicht mehr zu hören, doch hallte sie noch lange in seinen Ohren nach.

       „Wer?“

       Langsam, aber so, dass sie jeder sehen konnte, trat eine junge Frau aus der Reihe von Menschen, senkte den Blick und schlug fast demütig die Hände auf den Oberschenkeln zusammen. „Ich … habe es gesehen, sie gingen ohne Grund auf ihn los, stießen ihn, sodass er fiel.“

      Ohne Grund, er war ein Teufel, das war Grund genug und rechtfertigte jede Tat. Adral befürchtete beinahe, der Geschäftsführer würde ebendiese Entschuldigung aussprechen, doch er tat es nicht. Abwechselnd sah er von dem Mädchen zu Adral und wieder zurück.

      „Wollen Sie etwa sagen, dass ich lüge? Ich ein Engel?“, ihre Frage klang herausfordernd, und das war sie auch, denn niemals würde ein Engel gegenüber eines Teufels zugeben, dass ihre Rasse log. Seine Äuglein verengten sich zu kleinen Schlitzen. „Na gut“, schlagartig ließ er ihn fallen. Zum zweiten Mal an diesem Tag landete Adral hart auf seinem Hintern. „Du kannst gehen, aber wehe ich erwische dich noch einmal.“

      Er nickte. Mehr wollte er nicht tun. Unter Schmerzen hechtete er nach oben, stieg in die Luft und wirbelte nach draußen an die frische Luft.

      „Danke“, sagte er ohne sich umzudrehen, als er merkte, dass ihm jemand folgte.

      Das Mädchen kam auf ihn zu, lächelte und veranlasste ihn dazu, zu landen und stehenzubleiben. „Das war selbstverständlich.“

      „Nein war es nicht.“

      „Du warst im Unrecht.“

      „Das ist denen egal, ich bin ein Teufel.“

      „Hm“, sie schwieg. Adarls Blick schweifte unwillkürlich über ihre vollen Lippen, die sie überlegend gekräuselt hatte, auf der Suche nach einer geeigneten Antwort. Sie hatte wundervolle, leuchtende Augen, ein rosiges Gesicht und blonde Locken. Er lächelte. „Trotzdem, ich danke dir.“

       Sie schwiegen, eine Weile gingen sie nebeneinander her, ohne zu wissen, warum sie eigentlich gingen. „Was hast du heute vor?“, fragte er und hielt den Atem an. Bestimmt würde sie ablehnen, andererseits hatte sie ihm geholfen.

       Ihre Mimik verhärtete sich. „Oh, das tut mir leid, aber ich muss meine Mutter unterstützen, sie braucht heute meine Hilfe.“

       Sein Lächeln erstarb.

      Tröstend legte sie ihren Arm auf seine Schulter und drückte sie kurz, seine Haut kribbelte, die Berührung tat ihm gut, erfüllte ihn mit einem Gefühl, das er so noch nie gekannt hatte. „Aber wir können uns an einem anderen Tag treffen, wenn du es möchtest.“

      Sie sagt doch nicht Nein. Innerlich jubelnd musste er sich zusammenreißen, um vor Glück nicht lauthals loszuschreien. „Verrätst du mir wenigstens deinen Namen?“

       Sie lächelte. „Zuerst du, wer bist du?“

       „Adral.“

      „Ich bin Merlina.“ Sie stieg wieder in die Höhe. „Ich muss jetzt wirklich los, bis dann, Adral.“

      Auch er winkte zum Abschied. „Bis dann, Merlina.“

      Obwohl er in ihren Augen ein rechter Feigling sein musste, wollte Raphal Merlina nicht so leicht aufgeben. Wollte noch einmal mit ihr sprechen und sich (falls nötig) bei ihr entschuldigen. Schon seit mehreren Stunden war er auf der Suche nach ihr. Schwer, denn wie sollte er sie erkennen? Wahllos, sobald ein Engel ihrem Alter ensprach, sprach er ihn einfach an. "Entschuldigung, Merlina?"

      Leider schüttelte jedes Mädchen den Kopf. Sie war es nicht.

      Gerade wollte Raphal seine Suche beenden, als sie plötzlich gegen ihn stieß. Mitten am Himmel.

      "Raphal?"

      Daran erkannte er sofort, dass sie es sein musste. Wer sonst kannte ihn? Und noch mehr: Wer sonst freute sich so ihn zu sehen?

      "Merlina! Du bist hier?"

      "Ja auf dem Heimweg. Und du?"

      Jetzt bloß nicht lügen. "Ich suche dich."

      "Was?"

      "Ja wirklich. Ich wollte seid gestern mit dir sprechen, und mich bei dir entschuldigen."

      "Du ich habe keine Zeit. Und das ist auch nicht nötig."

      Enttäuschung machte sich breit. "Wann hast du denn Zeit für mich?"

      "Morgen." In Eile flog sie um ihn herum. "Morgen um die gleiche Zeit am Tor."

       Morgen um die gleiche Zeit. Mit klopfendem Herzen landete Raphal viel zu früh auf dem dünnen Weg, der zum heiligen Tor führte. Die ganze Nacht hindurch hatte er wachgelegen, sich Gedanken über ihr Treffen gemacht, sich herumgewälzt, die Augen geschlossen nur um sie Minuten später wieder zu öffnen.

      Das Mädchen gefiel ihm mit jeder Minute in der er über sie nachdachte. Wie gütig sie doch war, nachtragend schien sie nicht zu sein.

      Sie hatte wunderschöne lange Haare, die so leicht wie Seide im Wind wehten, feurige Augen, welche einen jeden, sobald er einen Blick hineinwarf, um den Verstand brachten, sie war höflich, nett und zurückhaltend. Kurz gesagt: sie war perfekt. Perfekt für Raphal. In jeder Hinsicht.

      Nervös knetete er seine Hände, während er auf und abschritt. Sie war noch nicht hier, nicht weiter vorne bei ihm und auch nicht vor den Türen des Tores. Was wenn sie ihre Verabredung vergessen hatte, was wenn sie niemals vorgehabt hatte, zu kommen? Vielleicht hatte sie einfach fliegen wollen und ihn damit vertröstet?

      Nein. Fast wütend auf seine eigenen Überlegungen schwang er sich wie immer auf einen Teil der Mauer, ließ die Beine über deren Ende baumeln und legte seine Finger auf den kalten Stein.

       Wieso nur musste alles hier oben so kalt sein, konnten die Wolken nicht mal etwas Wärme von sich geben? Fröstelnd biss er die Zähne zusammen und hielt weiter Ausschau nach Merlina. Jetzt war es sechs Uhr. Er wurde hibbelig. Immer noch keine Spur von ihr, noch nicht einmal das leise Rauschen ihrer Flügel. Konnte es sein, dass etwas passiert war? Hatte sie einen Unfall gehabt, oder wurde es ihr von ihrer Mutter verboten zu kommen?

      Hoffentlich war es so, denn das würde wenigstens ausschließen, dass sie ihn nicht sehen wollte.

       Nichts geschah.

       Zu gerne wäre er zu ihrem Haus geflogen, hätte sie von dort aus abgeholt, doch er wusste nicht wo sie wohnte.

       Die Minuten verstrichen. Seine Finger begannen zu kribbeln. „Tut mir leid“, hörte er direkt neben seinem Ohr und erkannte gerade als er aufblickte, dass Merlina dabei war zu landen. Graziös stellte sie zuerst einen, dann den anderen Fuß auf die Mauer, ging dann in die Knie und schlang ihre Arme überschwänglich um seinen Hals. Überrascht aber auch froh darüber, dass sie nun doch endlich gekommen war, traute Raphal sich und drückte sie herzhaft an sich.

      „Das macht doch nichts. Ich habe mir nur schon Sorgen gemacht.“

       Merlina setzte sich, wie am Vortag saßen sie auf dem harten Gestein, so als hätten sie sich niemals fortbewegt. „Das ist lieb von dir.“

      „Wo warst du so lange?“

      „Ich musste