Simone Lilly

Fall eines Engels


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ihn klammerten, an seinen starken Arm, ihn nicht mehr losließen und sich in sein Fleisch bohrten. Sein Magen wollte fliegen, zappelig konnte Raphal kaum Ruhe bewahren. Er wollte schreien, wollte herumwirbeln, wollte lauthals loslachen und seine Freude in die Welt hinausbrüllen.

      „Wird deine Mutter sich nicht Sorgen machen?“

       „Warum sollte sie das?“

      Sie erreichten die Stadt. Alle Lichter waren schon erloschen, nichts war mehr zu erkennen, nur schwerlich fanden sie den Weg und schafften es nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern. „… wenn sie sieht, dass ich dich zurückbringe?“

       Ob seine Angst begründet war wusste er nicht recht. Er kannte ihre Mutter nicht. Merlina stockte.

      Du Trottel! Jetzt hatte er diesen wundervollen Spaziergang zerstört. Den Moment vereint unter den Sternen zu stehen, die Stille um sich herum zu genießen, sich anzusehen, ihre Hände zu fühlen und seinen Gedanken und Träumen nachzuhängen, unterbrochen. Das alles konnte er nun nicht mehr. Warum hatte er überhaupt etwas gesagt? Etwas anderes, außer: ich glaube ich liebe dich. Nein: Ich WEISS ich liebe dich.

      „Woran denkst du?“ Ihre Frage war begründet, für einen Augenblick war er tatsächlich weggetreten.

       „An dich“, gab er unverblümt zu und biss sich auf die Lippen. „Nur an dich.“

       Sie schwieg. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Warum sagte sie nichts mehr? Überlegte sie schon, wie sie ihn am besten loswerden konnte?

      Urplötzlich packte sie ihn fester und setzte sich wieder in Bewegung. „Bitte, denk nicht falsch von mir.“ Instinktiv schüttelte er den Kopf. Das würde er niemals. „… kann ich dich begleiten?“

       „Ja!“ Der Schrei war ihm so rasch über die Lippen gekommen, dass er ihn nicht mehr hatte hinunterschlucken können. „Entschuldigung“, sagte er deshalb schnell, doch ihr war es egal.

       „Wo wohnst du?“

       „Komm mit.“ Mit dem Wissen, Merlina bald ganz für sich allein zu haben, in seinem Zimmer, kam er viel schneller voran. Beeilte sich sogar. Hatte er den langsamen Gang zuerst genossen, so konnte er es nun kaum abwarten bei sich anzukommen. Er hoffte nur inständig, seine Eltern wären nicht mehr wach, oder Adral. Wie würde er reagieren? Bestimmt mit Wut und Enttäuschung, würde alles wieder auf die verdammten Engel schieben und mit den Türen knallen. Wie immer.

       „Warte!“ Kurz bevor sie sein Haus erreichten, hielt er sie zurück. „Darf ich?“

       Ohne zu wissen was er überhaupt wollte, nickte sie. Leichtfüßig hob er sie auf seine Arme, sie war herrlich leicht. Mit Anlauf schwang er sich nach oben und stieg auf die gleiche Höhe mit seinem Fenster. Ein kurzer Tritt und es war offen. Leise setzte er sie auf dem Boden ab und schloss es wieder. Der Verschluss war leicht verzerrt, doch man konnte es noch notdürftig anlehnen.

       Unsicher blickte sie sich um. Gefiel es ihr nicht? Ebenfalls verunsichert hob er die Arme. „Nun ja, hier sind wir.“

      „Was sollte das eben?“, in ihrer Stimme schwang etwas mit, was er nicht recht deuten konnte. Es schien ihm als wollte sie ihm damit provozieren.

       „Ich wollte nicht, dass sie uns hören“, antwortete Raphal, bückte sich und hob herumliegende Bücher an sich, legte sie auf den Tisch und warf ein Handtuch darüber. Als ob allein das etwas an der Unordnung geändert hätte.

       „Also, was möchtest du nun tun?“ Es klang eher wie eine Anspielung auf etwas, als eine Frage. Kommentarlos setzte sie sich aufs Bett, tupfte mit ihren Fingern prüfend auf die Matraze und machte es sich dann dort bequem. „Schlafen.“, sie lächelte. „Keine Angst, ich möchte wirklich nur schlafen.“ Keine Angst. Wenn sie wüsste, Angst hätte er gewiss nicht gehabt, auch nicht, wenn sie ihm ein anderes Angebot gemacht hätte. „Na gut. Brauchst du eine zweite Decke?“ „Komm her.“, er ergriff ihre ausgestreckten Hände und ließ sich von ihnen zu ihr ziehen. Sie brauchte nichts zu sagen, er begriff auch ohne Worte, was er tun sollte. Leise quetschte er sich zwischen Wand und ihrem Körper, versuchte seine rießigen Flügel so eng wie möglich an seinen Körper zu pressen und bettete seinen Kopf auf seine Armbeuge. Sofort als er platzgenommen hatte, hatte Merlina ihren Kopf auf seine Schulter gelegt, die Knie angezogen und sie über seine Hüften gehangen. „Gute Nacht“, sagte sie leise, rutschte noch ein zweimal hin und her, und schloss dann die Augen. Wie schnell sie eingeschlafen war, konnte Raphal nicht sagen, denn er hatte alle Hände voll damit zu tun, sich eines Satzes bewusst zu werden: ein Mädchen liegt in meinem Bett, ein wundervolles Mädchen liegt dicht an mir. Angetan hob er die Hand und fuhr ihr kurz über die verhedderten Haare. Sie rochen herrlich, sie roch herrlich, sie war herrlich, sie war alles. Ohne Aufforderung drückte er sie enger an sich, sie war wohlig warm, ihr Herzschlag gleichmäßig. Er würde stundenlang bei ihr liegen können, nächtelang, eine Ewigkeit. Sie schmiegte sich an seine Brust und atmete langsam ein und aus. Als hätte sie sich in der Nacht kaum bewegt. Raphals Rücken schmerzte, doch er hatte sich nicht eingestehen wollen, dass er sehr ungemütlich auf seinem Bett lag. Aber es war so schön bei ihr zu sein, dass er es bisher nicht bemerkt hatte.

      In der Küche begann es zu Scheppern. Seine Mutter war bereits aufgestanden. Als wäre das für seinen Magen ein Stichwort gewesen sich zu melden, begann er laut zu knurren. Peinlich berührt wartete er, ob Merlina etwas gehört hatte. Nein sie schlief tief und fest. Fürs Allererste wäre es gut wenn er seine Eltern vorwarnen würde und ihnen von seinem unerwarteten Besuch erzählen würde, bevor sie Merlina entdeckten. Verbissen schlängelte er seinen Arm unter ihrem Kopf hervor, stand auf und schloss das offene Fenster. Kalter Wind stob zu ihm hinein und trieb ihm eine eisige Gänsehaut auf den Körper. Die Sonne war schon aufgegangen, an diesem Tag waren die Wolken dichter, es würde bestimmt ein Unwetter geben.

       „Guten Morgen“, brüllte er nach unten in die Küche. „Morgen Raphal“, kam es fröhlich zurück, das Klirren wurde stärker, seine Mutter stellte Schüsseln und Tassen auf den Esstisch. Noch stand er an der Spitze der Treppe, haderte mit sich, als auch Adrals Zimmertür langsam geöffnet wurde. „Guten Morgen.“; grüßte er auch seinen Bruder freundlich, erhielt aber nur ein müdes Brummen. Hinter Adral konnte man einen ungehinderten Blick auf seine Unordnung werfen. Seine Bücher und Hefte lagen quer auf seinem Boden verstreut, seine Hosen hingen über dem Bett und über dem Stuhl. Ohne zu fragen ging Adral an ihm vorüber. „Halt, wo willst du hin?“

       „Mir von dir etwas zum Anziehen holen.“

       „Wozu?“

       Mürrisch wies er nach hinten auf seine Unordnung. „Ich habe momentan keine frischen Sachen.“

       „W … wieso dann bei mir?“

      Adral wurde wütend. „Tu mir doch den Gefallen!“

       Er sagte nichts mehr. Ihm fiel keine passende Ausrede ein, aus welchem Grund Adral an diesem Morgen nicht zu ihm durfte. „Mach was du willst.“, sagte er deshalb und lies ihn eintreten.

       „Kommt ihr essen?“

       „Ja. Gleich.“

      Die Sekunden vergingen langsam. Was auch immer Adral dort drinnen tat, es dauerte viel zu lange. Nägel kauend blieb ihm nichts anderes übrig, als auf ihn zu warten. Lautlos ging er an ihm vorüber. Ohne etwas zu sagen blieb er plötzlich stehen. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Nicht einmal die weißesten Wolken konnten mit seiner Blässe mithalten.

       „Was ist los?“

       Seine Lippen bewegten sich, zögernd ging er weiter.

      „Du Bastard.“

       „Wieso?“

      „Sag, dass ich allein sein möchte.“

       „Warum?“

      Doch seine Frage wurde nicht mehr gehört. Wankend ging Adral in sein Zimmer zurück und warf die Tür ins Schloss.

       Adrals Verrat

      Die Stille war unerträglich. Gekränkt war er in sein Zimmer gelaufen,