Michael Beilharz

Selfie


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Schuhe auf. Jantina Alfering litt an der – wie sie sich immer dafür entschuldigte – ›typischen Frauenkrankheit‹: dem Schuhfetischismus. Sie schaute ihrem Gegenüber immer zuerst auf die Schuhe und bescheinigte sich dabei selbst eine gewisse Kompetenz zum Thema Schuhe, aber Maltes Schuhe hatte sie noch nie gesehen. Sie hätte ihn so gerne nach diesen Schuhen gefragt, nur um ihre persönliche Enzyklopädie zu vervollständigen, aber sie fand es, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, unpassend. Sie konnte das Material der Schuhe einfach nicht definieren.

      »Es sind Schuhe aus Hanf!«, hörte sie Malte Lichtermann ziemlich fassungslos sagen. »Anscheinend interessieren Sie sich mehr für meine Schuhe als für mein Anliegen. Oder wie soll ich Ihr ›Gestarre‹ auf meine Schuhe deuten?«

      Die Staatsanwältin fuhr erschrocken hoch: »Bitte entschuldigen Sie vielmals, ich war … na ja … kurz abwesend, Entschuldigung! Zurück zu Ihnen: Sie haben mich warum ausgesucht? Und … wie haben Sie es geschafft, anonym E-Mails an mich zu schicken?«

      »Nicht schon wieder! Wir verlieren Zeit! Wichtige Zeit!« Maltes Nerven lagen blank. Die momentane Situation war alles andere als angenehm oder einfach für ihn. Er war der festen Überzeugung, dass er seine Schuld­gefühle nur dadurch loswerden konnte, dass er dabei half, Schlimmeres zu verhindern und die Täter so schnell wie möglich dingfest zu machen.

      Jantina Alfering blieb gelassen: »Bevor ich mir aber nicht sicher bin, dass Sie kein Spinner sind, werde ich rein gar nichts unternehmen oder veranlassen. Überzeugen Sie mich!«

      Verzweifelt antwortete Malte: »Das versuche ich bereits seit zwei Stunden! Was soll ich denn noch machen?«

      Jantina schaute Malte lange an – sie hätte so gerne diesen bestimmten durchdringenden, kühlen Blick gehabt, der ihrem Gegenüber die Knie weich werden ließ. Doch der entsetzte Blick Maltes mit einem fragenden »Was? Was ist?« holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück … an dem Blick musste sie noch arbeiten.

      »Am besten von vorne.«

      »Bitte? Noch mal? Spreche ich Kisuaheli? Herrgott noch mal, das darf doch alles nicht wahr sein!«

      Sie spürte, dass Malte – sollte sie zu weit gehen oder es übertreiben – zerbrechen könnte. Malte war sensibel und hatte eine filigrane Psyche, die gerade dabei war, zu zerbrechen.

      »O. K., Jantina«, überlegte sie, »verlier ihn nicht! Vielleicht musst du es anders angehen? Beruhige ihn!«

      »Malte«, begann sie ruhig, und soweit sie es konnte, mütterlich, »du musst auch mal mich verstehen: Woher weiß ich, dass du zum Beispiel kein Stalker bist? Kein Halbstarker, der seinen Kumpels etwas beweisen muss? Du sagst, dass du mich ›ausgesucht‹ hast – warum mich? Du hast mich mit anonymen Mails kontaktiert. Ich glaube fast, dass du von mir mehr weißt, als ich es erahne, und mit Sicherheit mehr, als ich von dir. Und deine Geschichte … du erzählst von Morden, von Senatoren, von hohen Polizeibeamten, von Richtern … also, für mich ist das schon eine ziemlich extreme Geschichte, von der du mich da überzeugen möchtest!«

      Malte senkte den Kopf und versank ein wenig auf dem Stuhl, auf dem er seit über zwei Stunden saß. Mit ruhelosem Blick starrte er auf den Boden vor sich und verfolgte die Muster der Holzmaserungen im Parkett. Seine unruhigen Finger schienen nach etwas zu suchen, und seine rechte Ferse sprang nervös auf und ab. Und doch … er beruhigte sich etwas.

      »Bitte verzeih, dass ich dich so einfach geduzt habe, aber ich denke, dass wir uns so einfacher miteinander unterhalten können – was meinst du dazu?« Jantina fühlte sich wie bei einem Blind Date, bei dem sie den Anfang machen musste. Sofort musste sie an ihr katastrophales Liebesleben denken, sofern man die völlige Abwesenheit einer Beziehung oder auch nur von so etwas Ähnlichem als Liebesleben bezeichnen konnte. Ihr letztes Date war mit einem Thorsten und lag sechs Monate zurück – und war schrecklich! Thorsten hörte sich am Telefon nicht schlecht an, er hatte zumindest eine angenehme Stimme … viel mehr Ansprüche stellte sie inzwischen schon nicht mehr: Stimme, Humor, intelligent und im Bett kein Totalausfall. Sie fragte sich immer wieder, ob dies denn so viel verlangt wäre? Aber selbst diese wenigen ›wichtigen Merkmale‹ schienen anmaßend zu sein, denn sie fand diese bei nicht einer ihrer letzten Verabredungen. Das Date mit Thorsten war grauenhaft; am Telefon noch o. k., war Thorsten, als sie sich trafen, nur noch peinlich. Er war ein Nerd, ein hundert­prozentiger Nerd! Nur Computer, Gears, Apps und Spiele im Kopf … Auf ihre Frage, welches sein Lieblingsbuch sei, antwortete er nur, dass er doch nicht im ›Off‹ leben würde und Bücher so was von ›unawesome‹ wären. ›Un­awesome‹ – ein schrecklicheres Wort hatte Jantina noch nie gehört! ›Awesome‹ ist ja o. k., aber ›unawesome‹? Zum einen gab es das Wort nicht und zum anderen: Warum konnte er nicht sagen, dass Bücher in Zeiten von E-Books überholt wären oder dass Bücher etwas für Romantiker wären? ›Un­awesome‹ war einfach nur schlimm! So wie Thorsten eben – er sprach hauptsächlich in der Nerd-Sprache: LOL, awesome, AFK, THX usw. Nein! Das ging auf gar keinen Fall! Aber sie hatte schon ewig keinen Sex mehr, und da sie unter falschem Namen – Thorsten hätte es wohl Avatar genannt – unterwegs war, wollte sie zumindest einen Quicky auf ihrer Haben­seite des Abends verbuchen können. Doch die 30 Sekunden in seinem Ford Ka waren mit Abstand das Schlimmste in Sachen Sex, was sie jemals erlebt hatte!

      »Ja, ist o. k.«, unterbrach Malte ihren Tag­traum.

      »Wa … was?«, stotterte Jantina, die überhaupt nicht wusste, was Malte wollte, und sich erst wieder orientieren musste.

      »Ja! Duzen ist in Ordnung!«, wiederholte Malte mit einem verwunderten Blick in Richtung Jantina.

      »Schön … ich bin Jantina!« Die Staats­anwältin war nun wieder im Hier und Jetzt.

      »Weiß ich.«

      »Freundlichkeit ist nicht dein Ding, oder?«

      »Sorry … ich … weiß noch nicht, wie ich Ihnen … dir … alles erklären kann, damit du mich verstehst, und ich habe Angst, dass wir Zeit verlieren und dass noch mehr geschieht.«

      »Was geschieht?«

      »Wieder ein Mord!«

      »Wieder?«

      »Ja, es gab schon drei

      Malte stand auf, stampfte mit kräftigen Schritten zur Wand, stieß seine Stirn ein paarmal gegen das Mauerwerk, drehte sich um und rutschte an der Wand entlang nach unten. Er saß nun auf dem Boden, schloss die Arme um seine angezogenen Knie, auf die er seine von den Stößen rot gewordene Stirn senkte, und weinte.

      »Ich bin schuld«, schluchzte er.

      »Woran bist du schuld?«, wollte Jantina wis­sen.

      »Wenn ich schnell genug zu dir gekommen wäre, dann könnte eine der drei Frauen vielleicht noch leben. Aber ich wollte alles alleine hinbekommen. Ich hab Scheiße ge­baut. Wie hätte ich denn das alles erklären sollen, ich wollte nicht auffliegen und …«

      »Auffliegen? Womit denn?«, hakte die Staats­anwältin nach.

      »Scheiße! Verdammte Scheiße! Ich bin so ein gottverdammtes Arschloch!«

      »Malte, so kommen wir nicht weiter. Wenn ich dir helfen soll, dann musst du dich konzen­trieren und dich beruhigen. Schaffst du das?«

      »Weiß nich’ …«

      »Wie wäre es, wenn ich dir erst einmal Fragen stelle? Ich bin richtig gut im Fragenstellen. Ist mein Job!«

      Malte hob seinen Kopf und schaute Jantina mit tränengefüllten, roten Augen an: »Könnte ich vorher einen Kaffee bekommen? Schwarz?«

      »Klar kannst du einen Kaffee bekommen, ich hole dir einen.«

      »Danke.«

      Jantina Alfering ging kurz aus ihrem Büro und holte für Malte und sich selbst einen Kaffee, beide schwarz.

      Wieder zurück, reichte sie Malte seine Tasse. Malte saß immer noch auf dem Boden und an die Wand gelehnt; er nahm die Tasse, be­dankte sich und stellte sie neben sich auf den Boden.

      »Möchtest