Rolf-Dieter Meier

Ernteplanet


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im Büro, das Kirstin kurze Zeit später erreicht hatte, konnte sie keine weiteren aufhellenden Auskünfte erhalten. Der Spekulation war Tor und Tür geöffnet und die unglaublichsten Vermutungen wurden ausgesprochen und wieder verworfen. Eingedenk der zu erwartenden Staus auf den Straßen hielt sich Kirstin nicht länger auf als notwendig und machte sich schließlich auf den Heimweg. Auch im Bus setzte sich das Rätselraten fort, wobei wildfremde Menschen, die sich sonst eher schweigend gegenüber saßen, nun heftig miteinander debattierten. Nur kurz erstaunte Kirstin die Ruhe und Gelassenheit, mit der die Menschen das Ereignis erörterten, wo man normalerweise Anzeichen von Angst oder Panik erwarten würde. Das lag mit Sicherheit an der Form, die die Bundespräsidenten bei ihrer Ansprache gewählt hatte und die die Gemüter beruhigte. Kirstin konnte es nun kaum mehr abwarten, sich selbst ein Bild von dieser Rede zu machen und fieberte der Ankunft in ihrer Wohnung entgegen.

      Erik hatte sich nach dem Telefonat mit Kirstin noch einmal zu Dr. Konzalik begeben. Dieser befand sich auch bereits im Aufbruch und war sichtlich genauso ratlos wie Erik.

      „Mein Gott“, begann er, als Erik das Zimmer betrat, „hoffentlich kündigen sie keinen Zusammenbruch von Großbanken an. Oder eine neue Wirtschaftskrise.“ Er machte jetzt tatsächlich einen verzweifelten Eindruck, so als müsste er sich von der Aussicht einer dicken Erfolgsprämie verabschieden.

      „Das wird wohl nicht der Grund sein. Da hätte es längst Zeichen von den Märkten gegeben“, entgegnete Erik, „das wird etwas sein, womit keiner rechnet. Etwas Ungewöhnliches.“

      „Natürlich, was sonst.“ Dr. Konzalik schien peinlich berührt, dass ihm nichts Besseres eingefallen war, als eine Banken- oder Wirtschaftskrise ins Feld zu führen und versuchte seinen Ausrutscher zu heilen: „Sie haben vollkommen recht. Es muss etwas von großer Bedeutung sein, sonst hätte man nicht diesen erstaunlichen Weg gewählt mit all der Geheimniskrämerei. So etwas hat es ja noch nie gegeben.“ Dr. Konzalik betrachtete die Papiere auf seinem Schreibtisch, schob sie dann zu einem Stapel zusammen, um sie anschließend in seinem Aktenkoffer zu verstauen. Augenscheinlich wollte er die ausgefallene Arbeitszeit am Wochenende nachholen. Er legte die rechte Hand an die Stirn, als wäre ihm gerade eine Idee gekommen. „Vielleicht ist es ein großer Meteorit, der sich im Anflug auf die Erde befindet.“ Und wie zur Bekräftigung seines Gedankens fügte er an: „Ja, so muss es sein.“

      „Ich weiß nicht“, meldete Erik Zweifel an, „diese Ankündigung würde die Welt wohl ins Chaos stürzen. Ich würde das so lange wie möglich geheim halten, insbesondere dann, wenn es keinen Ausweg gibt. Ehrlich gesagt, dieses Szenario möchte ich mir lieber nicht vorstellen. Ich bin mir sicher, da steckt etwas anderes dahinter. Etwas, was keiner vermutet. Das Ganze ist doch unglaublich.“

      Dr. Konzaliks Gesicht nahm einen verbitterten Ausdruck an, so wie es Erik noch gut aus vergangenen Zeiten in Erinnerung hatte. Er wirkte zutiefst beleidigt, dass seine Idee in das Reich der Fantasie katapultiert worden war. Unvermittelt begann er jedoch zu lächeln. „Ich wollte nur mal ihre Reaktion testen.“ Und fast fröhlich fügte er an: „Und sie haben den Test bestanden.“

      Erik war über die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, so irritiert, dass er lediglich ein „Danke!“ herausbrachte.

      „So, und jetzt gehen wir alle nach Hause und lassen uns überraschen.“ Lachend verließ Dr. Konzalik das Büro und ließ einen verblüfften Erik zurück.

      Erik bereute es nachträglich Dr. Konzalik noch einmal aufgesucht zu haben, da das Gespräch nur wenig zur Aufhellung der Situation beigetragen hatte. Er war so ratlos wie zuvor und daher beschloss er dem Beispiel von Dr. Konzalik und seinem eigenen Ratschlag an Kirstin zu folgen und die Heimfahrt anzutreten. Wie zu erwarten, waren auch seine Kolleginnen und Kollegen bestrebt, das Büro so schnell wie möglich zu verlassen, nachdem auch die Geschäftsleitung der Aufforderung der Bundespräsidentin gefolgt war, den Mitarbeitern für den Rest des Tages freizugeben. Da für die Verwaltungsangestellten sowieso schon Dienstschluss war, war diese Entscheidung relativ leicht gefallen. Also machte sich auch Erik auf den Heimweg.

      Erstaunlicherweise kam Erik relativ gut durch den Verkehr, sodass er eine halbe Stunde vor der angekündigten Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen zu Hause eintraf. Nachdem er seinen leichten Übergangsmantel an die Garderobe gehängt und seine Tasche abgestellt hatte, war er gleich ins Wohnzimmer gegangen, um den Flachbildschirm zu aktivieren. Kurz darauf wurde das Emblem der UNO sichtbar, untermalt von dezenter Musik. Er war gerade dabei, die verschiedenen Sender auszuprobieren, die tatsächlich alle das gleiche Bild zeigten, als auch Kirstin ihr Heim betrat. Noch während er sie im Flur herumhantieren hörte, wurde auf dem Bildschirm ein Text eingeblendet: „Wir bitten Sie um Ihre Aufmerksamkeit für eine Ansprache der Bundespräsidentin.“

      „Kirstin, komm“, rief Erik Richtung Flur, „die Bundespräsidentin!“

      „Ich komme!“ Kurz darauf betrat Kirstin das Zimmer. Ihr Gesicht war leicht gerötet, da sie den Weg von der Haltestelle heute etwas schneller angegangen war. Sie küssten sich flüchtig, was den besonderen Umständen geschuldet war und nahmen auf der Couch Platz. In diesem Moment erschien auf dem Bildschirm auch schon die Bundespräsidentin. Sie saß hinter einem schweren dunklen Schreibtisch, auf dem lediglich eine Vase mit einem Blumenstrauß stand. Die Bundespräsidentin, die vor kurzem sechsundfünfzig geworden war, trug einen lindgrünen Blazer zu einer weißen Bluse. Eine dezente Perlenkette rundete die gepflegte Erscheinung ab, die einen entspannten Eindruck machte und freundlich in die Kamera lächelte. „Jetzt bin ich aber gespannt“, konnte Erik gerade noch sagen, als die Bundespräsidenten auch schon ihre Ansprache begann.

      „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, der Generalsekretär der vereinten Nationen hat mich heute früh darüber informiert, dass er für zehn Uhr Ortszeit, das heißt sechzehn Uhr unserer Zeit, eine außerordentliche Generalversammlung einberufen hat. Gleichzeitig hat er mich gebeten, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, sodass sie die Möglichkeit erhalten, an der Übertragung dieser Versammlung teilzunehmen. Nach den mir vorliegenden Informationen wird eine Botschaft verkündet, die für die Menschen auf diesem Planeten von erheblicher Bedeutung sein soll. Der Inhalt dieser Botschaft ist im Einzelnen bisher nur wenigen Amtsträgern bekannt. Hierzu gehören neben dem Generalsekretär der Vereinten Nationen die Präsidentinnen der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union, die Präsident der Russischen Föderation und der OAU sowie die Staatschefs von China und Indien. Diese haben nach der Prüfung der Fakten dem Vorschlag des Generalsekretärs der UN zugestimmt, eine außerordentliche Generalversammlung einzuberufen. Ich gebe zu, dass dieser Vorgang einzigartig ist und dass ich genauso wie sie mit Bangen und Hoffen diesem Termin entgegensehe. Was immer auch die Botschaft sein mag, ich bitte Sie in jedem Fall Ruhe zu bewahren. Ich versichere Ihnen, dass wir alles in unserer Macht stehende tun werden, auch zukünftig Schaden von den Menschen abzuwenden. Ich danke Ihnen!“

      Erneut erschien auf dem Bildschirm das Emblem der UNO, verblasste aber gleich wieder, um einer Ansicht des UN-Gebäudes in New York zu weichen. Es handelte sich wohl um eine Aufnahme aus einem Flugzeug oder Hubschrauber, denn das Gebäude wurde in niedriger Höhe umflogen.

      „Selbst unsere Bundespräsidentin ist augenscheinlich nicht über Einzelheiten informiert.“ Kirstin war sichtlich betroffen.

      Erik, der bisher fast bewegungslos die Rede der Bundespräsidentin verfolgt hatte, drehte sich nun zu ihr um. „Sie wissen nichts. Auch die Regierung nicht. Es ist unglaublich! Wie ist so etwas in einer Demokratie möglich? Wo ist die Presse?“

      Kirstin zuckte hilflos mit ihren Schultern. „Mir ist ehrlich gesagt, ein bisschen mulmig.“

      „Mir geht’s nicht besser“, pflichtete ihr Erik bei.

      Aber um sie aufzurichten, fügte er an: „Es wird schon nicht so schlimm werden. Denken wir positiv. Die letzte Woche war doch schon super.“

      Sie sahen sich an, ihre Gesichter verzogen sich und dann brach es aus ihnen heraus, ein befreiendes, herzhaftes Lachen.

      Einige Minuten später erschien auf dem Bildschirm der Plenarsaal der UNO. Ein Kameraschwenk zeigte, dass das Plenum von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, vollständig war. Überall diskutierten die Abgesandten angeregt, was anlässlich des ungewöhnlichen Vorgangs kein Wunder war. Eine auf dem Bildschirm