Till Angersbrecht

Die Weltenretter


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gewaltsamen Entführung von Benedict Krzsymanski, dem großen Nobelpreisträger, verdanken. Wir, ein verwöhnter und, wie manche sagen, mittlerweile geradezu dekadenter Westen, ließen uns damals die einmalige Chance entgehen, die größte Erfindung unseres Jahrhunderts – den eigenen Bürgern zugänglich zu machen.

      Nachdem ich dieses Versagen und seine Folgen erkannte, stand es für mich außer Frage, dass es für mich nun kein Zurück geben würde. Was ging damals wirklich auf Merson Island vor? Das war die Frage, die mich fortan keinen Augenblick mehr loslassen sollte. Um ehrlich zu sein, hatte meine bisherige Tätigkeit mich auf solche Nachforschungen nicht unbedingt vorbereitet. Bis dahin war ich ein unbedeutendes Rädchen im politischen Apparat unserer Republik gewesen, damit beschäftigt, als Ghostwriter die Reden wechselnder Politiker sozusagen nach Maßgabe ihrer jeweiligen Mediokrität so zurechtzuschneidern, dass sie möglichst faltenlos zu ihrer mehr oder weniger dürftigen Persönlichkeit passten. Wie sich der Leser denken kann, ist das ein Lügengewerbe, dessen ich schließlich so überdrüssig wurde, dass ich nach der Wahrheit zu streben begann. Da war dann allerdings nichts natürlicher, als dass ich irgendwann auf Merson Island und die Zusammenkunft der größten Wahrheitssucher unserer Zeit stoßen würde.

      Warum die Chinesen den größten Nutzen aus diesem Treffen ziehen sollten, das habe ich bald begriffen, doch es dauerte einige Zeit, bis ich die Gründe dafür durchschaute, warum die kritische Geistesmasse - diese unglaubliche Ballung von Wissen und Wahrheit - keine Explosion erzeugte, warum sie den Erdball nicht einmal mit kleinen Stößen von drei oder vier auf der Richterskala zu erschüttern, geschweige denn ihn vor den furchtbaren Bedrohungen unserer Zeit zu retten vermochte. Da trafen Wissende aufeinander, von denen jeder gewappnet war, um sich den Reitern der Apokalypse entgegenzustellen. Auf den ersten Blick schien es geradezu undenkbar, dass ein Treffen wie dieses so wenig Aufsehen erregte. Denn eines ist ja nicht mehr zu leugnen. Nicht nur das Quantengehirn, die Erfindung Krzsymanskis, alias Newtons, hat sich längst durchgesetzt, wenn auch vorerst nur im östlichen Asien – auch die übrigen in Merson Island entworfenen Projekte für eine andere und, wie manche hartnäckig behaupten, bessere Welt sind längst auf dem Wege der Verwirklichung; einige vorerst noch heimlich wie die Sulfo-Zölo-Gamie andere in aller Öffentlichkeit.

      Warum also hat das damalige Treffen so wenig Aufmerksamkeit erregt? Die Antwort auf dieses Paradox lässt sich keineswegs aus dem Handgelenk schütteln. Sie ist auch nicht damit abzutun dass - außer dem zuvor schon erwähnten Felix Federlein - die Medien praktisch keine Notiz von dem Ereignis nahmen oder allenfalls den berühmten Nacktvogel Gymnopterus maximus kurz erwähnten, weil dessen genetische Programmierung in der breiten Masse eine gewisse Neugierde erweckte. Selbst diese Neugierde ist uns Heutigen allerdings schwer verständlich, sind wir doch längst gewöhnt, von Tieren umgeben zu sein, die aufgrund des Einbaus menschlicher Gene mit uns kommunizieren können. Kommunikation mit der bis dahin stummen Kreatur ist möglich und verschafft besonders den sensibleren Naturen in unserer Mitte ein hohes Maß an Befriedigung, denn zum ersten Mal wissen wir jetzt, wie unsere Mitgeschöpfe über uns denken. Mit-Leid, Mit-Gefühl, aber auch Mit-Freude, kurz eine alle höheren Lebewesen umgreifende und sie vereinende Empathie, sind damit zum Markenzeichen unserer Epoche geworden, ein gewaltiger Fortschritt, den ich keineswegs schmälern möchte. Aber Merson Island auf den Nacktvogel und dessen Erfinder Bobby Spiderton zu reduzieren, wäre denn doch zu einfach. Ein solches Vorgehen liefe auf eine drastische Verengung der Perspektive hinaus. Die Erfindungen und intellektuellen Heldentaten der übrigen Teilnehmer besaßen eine mindestens ebenbürtige Dimension – darüber bestand für mich von dem Augenblick an nicht der geringste Zweifel, als ich tiefer in die Protokolle und Aussagen der auf Merson Geladenen einzudringen begann.

      Und damit bin ich auch schon bei dem springenden Punkt oder vielmehr, dem Punkt, der mich selbst zum Springen und dazu brachte, meine Laufbahn als subalterner Ghostwriter für noch subalternere Politiker aufzugeben und mich ganz der Forschung des damaligen Treffens zu widmen. Ich selbst – das möchte ich der Wahrheit halber gleich zu Anfang berichten – bin nie nach Merson Island gekommen. Seit Lady Lonedale vereinsamt und wohl auch verbittert in einem Altenheim in Heathrow, London, gestorben ist, war wohl auch jede Verbindung zu der entlegenen Insel gekappt. Das sei auch völlig richtig, ließ mich die Lady bei meinem letzten Besuche in London wissen, denn der Lord sei mit ihr nach England zurückgekehrt, als sie aus Altersgründen die Insel aufgeben musste und sich in ein Heim für adlige Senioren begab (da irrt die Lady, denn Lord Palmerstone war bereits tot, als die Lady kurz nach dem Treffen der Koryphäen Merson Island für immer verließ). Ohne den Lord, so die Lady, sei die Insel doch nur eine Anhäufung von totem Gestein und grüner Vegetation gewesen. Der Lord habe die Insel erst zu einem Zentrum der spirituellen Kraft und Ausstrahlung gemacht. Da hatte sie zweifellos recht.

      Seit es uns beide dort nicht mehr gibt, leben dort nur die Möwen, vielleicht sind auch noch einige Exemplare des Nacktvogels übrig. Wer weiß das schon?

      Also, das berichtete die Lady anlässlich meines letzten Interviews kurz vor ihrem Tode, wobei sie immer wieder von der spirituellen Kraft und Ausstrahlung auf Merson Island sprach. Dazu will ich mich noch nicht äußern, umso weniger als die vermeintlichen spirituellen Kräfte in der Tat eine gewaltige, wenn auch, meiner Meinung nach, eher verderbliche Rolle spielten. Die Lady jedenfalls ließ nichts von solcher Kraft erkennen, als ich Sie in ihrem Heim besuchte. Im Gegenteil machte sie einen kränklichen und, wie ich schon sagte, sogar verbitterten Eindruck. Sie beschwerte sich sogar über den längst verstorbenen Lord. Aus einer ihr unbegreiflichen und für sie zutiefst kränkenden Laune sei ihr dieser seit geraumer Zeit nicht mehr erschienen, obwohl er dieser Gewohnheit seit seiner Verwandlung in feinkörperliche Substanz doch regelmäßig oblegen hätte. Diese fehlende Zuwendung eines Mannes, dem sie ihr ganzes Leben gewidmet habe, bereite ihr furchtbare Pein. In der Fortsetzung ihrer irdischen Existenz könne sie allein deswegen keinen Sinn mehr erblicken.

      Die Verbindung mit Merson Island ist also völlig abgerissen. Die Insel ist in den Tiefschlaf zurückgefallen, aus dem sie seit Beginn der Geschichte nur zwei Male aufgeweckt wurde. Immerhin ist es mir aber gelungen, die meisten Teilnehmer des damaligen Treffens persönlich zu kontaktieren und auszufragen. Es ist wahr, dass sich Darwin (Bobby Spiderton) zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Zustand fortgeschrittener Auflösung befand, seine berühmt-berüchtigte violette Punkfrisur hat einer schrumpeligen Glatze weichen, sein ehemals stattlicher Kugelbauch zu einer Art fehlplaziertem Kropf schrumpfen müssen. Manni Zhou, deren Können als geübte Agentin und Verführerin eines Nobelpreisträgers das Reich der Mitte den Zugriff auf das Quantengehirn verdankt, wurde zu einer für uns Westler unzugänglichen Eminenz, aber sie hat Memoiren verfasst, aus der ihre damalige Rolle hinreichend deutlich hervorgeht. Maximilian Wendell, den sympathischen alten Herrn, habe ich kurz vor seinem Ableben noch ausführlich sprechen können.

      Setzen Sie zehn Gelehrte um einen Tisch, und Sie werden zwanzig verschiedene Meinungen erhalten, hat er das Treffen auf Merson Island in einem einzigen Satz zusammengefasst. Setzen Sie diese Gelehrten auf einer Insel aus, wo sie einander täglich ertragen müssen, und es werden in kürzester Zeit zentrifugale Kräfte zwischen ihnen entstehen, die sie irgendwann wie eine Supernova mit äußerster Sprengkraft zerplatzen lassen. Sehen Sie, der einzige Bekannte, mit dem ich später noch Kontakt pflegen konnte, ist dieser ehemalige Schüler, Sie wissen schon, Julian Seebenstein, den sie dort als Sekretär angestellt hatten. Er ist übrigens in meine Fußstapfen getreten – ein lieber Mensch und recht erfolgreicher Psychologe, wie Ihnen ja bekannt sein dürfte. Damals schon war er ein lieber Kerl, der an die Güte des Menschen, aber ein gesundes Misstrauen gegenüber unseren allzu selbstbewussten Wissenschaftspropheten und Forschern hegt. Wir beiden schreiben uns bis heute, aber fragen Sie mal die anderen: Pinkelbein, Tentorius, Darwin und wie sie sonst noch heißen. Die sind alle im Zorn auseinander gegangen. Und von dem jungen Theologen hat man nichts mehr gehört. Wie heißt er noch?

      Gottlieb Theophrast, springe ich ein. Damals nannten ihn alle Jesus.

      Richtig, Jesus kam als glühender Weltverbesserer, aber er ging voller Ekel und Zorn. Von Versöhnung wollte er danach nichts mehr wissen. Von seinen Bemühungen um einen gemeinsamen Glauben, der die Menschheit einen sollte, hat auch niemand mehr etwas gehört. Soweit ich weiß, ist er als Eremit auf den Athos gezogen.

      Das stimmt, ich habe ihn dort sprechen können, aber es war nur wenig aus ihm herauszubekommen.