Till Angersbrecht

Die Weltenretter


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mit der Spitze den Ansatz von Spidertons Schulter berührt. Das hält der Mann für modern, aber mit dieser Geschmacksverirrung ist er nur ein Sündenfall für die Wissenschaft - so jedenfalls sehe ich diese Maskerade. Und dann noch der ballonartige Bauch! Man könnte glauben, der Mann wäre schwanger im neunten Monat. Ein solcher Bauch ist einfach unwissenschaftlich, hat Tamara einmal gesagt – und damit hat sie ja recht! Natürlich ist bleibt ein Bauch eine Privatsache, und deshalb halten wir alle ja nach außen hin brav unseren Mund. Seit Spiderton dem schwedischen König in dieser Aufmachung gegenübertrat, ist seine Erscheinung auch gewissermaßen offiziell. Da lässt sich gar nichts mehr sagen. Die Erscheinung ist sozusagen von höchster Stelle aus abgesegnet. Aber seine Gedanken wird sich immerhin noch erlauben dürfen, zumal er selbst gnadenlos ist. Er kanzelt jeden ab, der auch nur ein Wort in seinem Gebiet mitreden will.

      Der junge Mann, das ist Jesus flüstert mir Tamara ins Ohr, so wird er von seinen Freunden genannt. Ein sensationell begabter Theologe. Man munkelt, dass Dr. Gottlieb Theophrast das ganze neue Testament und einen Teil des Alten auswendig hersagen kann.

      Na schön, noch so ein Genie, habe ich mir schon gedacht! Dann passt der Mann ja bestens in unsere Runde. Offenbar lässt er sich von Spidertons kaltschnäuziger Zurechtweisung nicht beirren.

      Barbarossa, meine Damen und Herren, stellt die Wissenschaft vor eine fundamentale Herausforderung. Ihnen brauche ich nicht zu sagen, dass die Biologen seit den Zeiten des ersten Darwin zutiefst überzeugt sind, dass nur die jeweils bestmöglich angepassten Exemplare der biologischen Evolution eine Chance auf Überleben haben. Dieser Glaube wird nun leider durch unseren Rotbart gründlich erschüttert, man könnte auch sagen: auf fulminante Art widerlegt. Gerade der Fluguntüchtige, der am wenigsten Angepasste, bringt die meisten Nachkommen hervor.

      Alle Achtung, der junge Mann hat Courage. Er nimmt Spiderton direkt auf die Hörner. Das geht nun gewiss nicht gut. Da haben wir es schon: Spidertons Gesicht verfärbt sich vor Ärger.

      Nun hören Sie aber auf, junger Mann! Es tut mir leid, Ihnen ein tiefes Unverständnis des wissenschaftlichen Konnexes bescheinigen zu müssen. Offenbar haben Sie nicht begriffen, dass hier sexuelle Selektion durch das Weibchen im Spiel ist. Der Bärtige gibt der Frauenschaft ein unüberhörbares Signal. Seht einmal, sagt er, ich kann kaum noch fliegen, ich bin den Feinden hilflos ausgeliefert, weil mich mein stattlicher Bart so mächtig zu Boden zieht, aber ich überlebe trotz allem. Muss ich nicht ein besonders toller Kerl sein und deshalb auch besonders begehrenswert?

      Spiderton hebt den tätowierten Arm und den Finger mit der Kralle, er hebt ihn wie eine Pistole, mit der er direkt auf Jesus zielt. Ich glaube, dass er den Aufsässigen am liebsten erschossen hätte. Wenn Spiderton eines überhaupt nicht verträgt, dann ist es die Dreistigkeit eines Laien.

      Er schüttelt die violette Mähne mit solchem Nachdruck, dass sogar der mächtige Bauch in wabernde Schwingung gerät.

      Sehen Sie, junger Mann, es fehlt Ihnen schlicht an Einfühlungsvermögen in die weibliche Psyche, die, wie die meisten von uns ja aus persönlicher Erfahrung wissen, eine überaus komplexe Struktur besitzt. Als Theologe bringen sie für die hierzu notwendige Einfühlung vermutlich nicht die idealen Voraussetzungen mit.

      Spiderton blickt sich um, aber das erwartete Gelächter bleibt aus.

      Ich jedenfalls kann Ihnen als Fachmann versichern. Im Unterschied zu Ihnen begreifen die Weibchen den Bärtigen und seine Botschaft sehr wohl. Sie wissen, dass der Vogel mit dem längsten Bart vollkommen recht hat. Obwohl er sich kaum noch vom Boden erheben kann, ist er immer noch da. Wirklich erstaunlich. Eigentlich sensationell. Genau das wissen die Weibchen entsprechend zu würdigen.

      Die lebhafte Auseinandersetzung hat unter den Anwesenden Betroffenheit ausgelöst. In meinem Rücken höre ich Murmeln, so leise, dass Spiderton nichts davon mitbekommt. Mir aber dringt das leise gesprochene Wort ganz deutlich ins Ohr. Irgendjemand murmelt da ein Wort, das sich wie „Papageienhirn“ anhört.

      Ich drehe mich um und bemerke die eindrucksvolle Gestalt eines Mannes, der sich die Pfeife offenbar gerade eben erst aus dem Munde zog, um das bewusste Wort zu murmeln. Der Mann hat ein breites, freundliches Gesicht. Wüsste gern, wer das ist.

      Nach dem Schlagabtausch verläuft sich die Runde – vermutlich fühlen sich alle etwas verärgert. Der Nachmittag ist so freundlich, die Sonne so mild, die Luft so einschmeichelnd weich. Da passt ein Streit einfach nicht zu unserer erwartungsfrohen Stimmung. Ich gehe in Richtung Bug und lehne mich über die Reling. Dort unten schwimmen noch immer die Delphine mit dem Schiff um die Wette. Sie schießen aus der Tiefe nach oben, kurz glänzt ihr Rücken silbrig auf, dann verschwinden sie erneut in der Tiefe. Sie tun es unermüdlich, treue Begleiter eines Schiffes, dessen Nutznießer sie nicht einmal kennen. Vielleicht ist diesen Tieren ein spezielles Gen eingebaut, ich meine für Lebensfreude, das bei uns Menschen leider vergessen wurde.

      Nein, vielleicht doch nicht ganz vergessen. Heute verspüre ich so etwas wie sorgenfreie Zufriedenheit, ob man das Glück nennen darf? Jedenfalls ist es so angenehm, dass dir der warme Wind beinahe ungehindert durch das dünne Sträflingsgewand bis auf die Haut durchbläst! Unter dem Kimono tragen wir ja nichts als Unterhose und Unterhemd. Da spürt man den Atem des Meeres.

      Tamara tritt an mich heran.

      Das war Maximilian Wendell, sagt sie, der bekannte Psychologe, seine Freunde nennen ihn Freud.

      Freud? sage ich. Dann haben wir also auch einen Seelenspion in der Gruppe? Diese Leute habe ich, ehrlich gesagt, nie sonderlich ernst genommen. Sie bilden sich ein, Wissenschaft zu betreiben, in Wahrheit tischen sie uns nichts als Märchen auf, aber immerhin macht er einen freundlichen Eindruck.

      Der rothaarige Riese dort in der Gruppe, fährt Tamara fort, das ist ein Ire, James McGall, Lord Palmerstones Mann für alles. Neben ihm, die Frau mit den Schlitzaugen, ist Manni Zhou, eine Superdatistin, weiß immer noch nicht, was das ist. Es heißt, dass in ihrem kleinen Kopf die Datenströme aus aller Welt zusammenfließen. Den zerknitterten Mann neben ihr, scheinbar achtzig Jahre alt, in Wahrheit aber erst um die vierzig, den kennen Sie sicher vom Fernsehen. Das ist Peter Pinkelbein, der Neurologe.

      Ich weiß, sage ich, wer würde Pinkelbein nicht aus dem Fernsehen kennen? Den Einstein der Neurologie nennen sie ihn. Im Fernsehen sieht er natürlich viel jünger aus, aber mit ausreichend Schminke bügelt man jedes Gesicht wieder glatt. Den Nobelpreis hat er sich übrigens redlich verdient, Pinkelbein ist eine unglaubliche Koryphäe. Die ganze Neurologie hat sich in seinem Schädel wohnlich eingerichtet. Man sagt übrigens, dass er ohne seine Frau völlig hilflos sei. Sogar bei seinen Vorlesungen ist sie zugegen, eine wahre Xantippe. Und hinter ihm, da steht doch dieser, wie heißt er noch?

      Das muss Tentor Tentorius sein, der Mann mit der Dogge.

      Richtig, in der Wissenschaft ist auch Tentorius ein Begriff, schon deshalb, weil niemand ihn leiden kann. Nur der Teufel experimentiert noch mehr mit Schwefel als er.

      Und der da der Kauz an der Reling, der den Delphinen zuwinkt.

      Das ist der Retter, wie ihn boshafte Stimmen nennen, ein enfant terrible, der die Wissenschaft als satanisches Werk bezeichnet, ein Verrückter, ein ...

      Wir kommen nicht dazu, weitere Betrachtungen anzustellen, denn im gleichen Augenblick tritt der Kapitän auf die Brücke.

      Land in Sicht! Merson Island. Schauen Sie dort hinten, der grüne Berg.

      2. Der Lord

      Julian Seebenstein:

      Noch immer kann ich es nicht glauben, nun bin ich wirklich dort, ich, Julian Seebenstein. Persönlich eingeladen von einem Lord, umgeben von den größten Geistern des Globus. Die hat er zu sich gebeten hat, damit sie, die besten in ihrem Fach, die Welt vor dem Untergang retten. Wenn ich daran denke, dass ich vor einem halben Jahr noch nicht einmal wusste, dass es diese Insel überhaupt gibt! Merson Island, ein Stückchen Land irgendwo am südlichen Rand der Welt, nur von schweifenden Albatrossen besucht und natürlich von diesem bizarren englischen Lord. Dabei ist alles noch viel großartiger, als ich mir vorgestellt hatte. Im Grunde ist diese Insel nichts anderes als ein steiler,