Till Angersbrecht

Die Weltenretter


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Genies auf engstem Raum. Wir versprachen uns davon einen Aufbruch, eine Revolution, eine Erneuerung unseres Denkens und unserer Lebensart – und was ist dabei herausgekommen? Vielleicht haben wir einfach zu viel von den Wissenschaftlern erwartet, wir meinten ja alle und viele meinen es heute noch, dass uns ein paar Formeln erlösen könnten. Doch, sehen Sie, darin liegt für nicht der einzige, nicht einmal der Hauptgrund für das Scheitern des Experiments. Was mich betrifft, bin ich der Meinung, dass Lord Palmerstone, der doch die besten Absichten hegte, wesentlich schuld am Misslingen trägt. Der Lord und die Lady wollten Gelehrte bei sich sehen. Sie glaubten, den reinen Geist nach Merson eingeladen zu haben, doch es kamen leibhaftige Menschen - das war nicht vorgesehen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

      Wendell, in der damaligen Runde Freud genannt, war ein renommierter Psychologe, ohne Zweifel einer der hervorragendsten seiner Zeit - Wendell sagte tatsächlich nicht mehr. Nur als ich ihn nach dem ‚Retter’ fragte, lebte der alte Mann noch einmal auf.

      Alle hassten ihn, sie begriffen nicht, wie ihn der Lord überhaupt einladen konnte, einen Mann, der die Wissenschaft hasste, der in ihr die Ursache für die meisten uns heute bedrängenden Übel sah. Lord Palmerstone war eben ein Exzentriker durch und durch. Er sah alles in Gegensätzen, die er vereinigten wollte – Coincidentia Oppositorum. Sie kennen diesen Ausdruck natürlich aus der Philosophie der Mystik. Auf Merson Island sollte sich alles treffen und frontal zusammenstoßen: fanatische Forschungsverneinung und grenzenloser Forschungsglaube. Ja, und genauso ist es denn auch gekommen.

      In diesem Gespräch begriff ich zum ersten Mal, wie groß die Wunden waren, die dieses Treffen in den Teilnehmern hinterlassen hatte – gerade weil es zunächst so gewaltige Hoffnungen erregte. Bald wurde mir auch bewusst, dass jeder der ehemaligen Teilnehmer und heutigen Zeugen die Ereignisse von damals aus einer anderen Perspektive sah. Allenfalls gab es zwischen ihnen eine Übereinstimmung im Hinblick auf die nackten Fakten – doch selbst das war nicht immer der Fall. Dieser Vielfalt musste ich unbedingt Rechnung tragen, wenn ich die Ereignisse nicht einseitig darstellen und dadurch verfälschen wollte. So beschloss ich, die Teilnehmer selbst zu Worte kommen zu lassen, damit sie jeweils von ihrem Standpunkt, ihrer eigenen Warte aus – so beschränkt und willkürlich diese auch bisweilen erscheint – ihre je eigene Sicht darlegen.

      1. Das Schiff

      Benedict Krzsymanski:

      Da könnte ich doch manchmal an mir selbst irre werden. Ein wenig strahlende Feriensonne genügt, ein paar spielende Delphine, die vor dem Schiffsbug aus dem Wasser schnellen, ein bisschen lauer Wind, der die Haut mit seidenweichem Finger streichelt, und schon vergisst man die innere Berufung, mutiert zu einem schlichten Urlaubsbürger. Und damit noch nicht genug, auf einmal bringt es mir noch dazu Spaß, hin und wieder einen Seitenblick auf Tamara zu werfen, sie ist ja wirklich schön, wie ihr die leichte Meeresbrise so durch die Haare fährt, ihr eine blonde Strähne über die Augen legt, die sie dann mit lächelnder Ungeduld wegretuschiert, als führte sie einen Liebeshändel mit den Winden des Stillen Ozeans.

      Bin ich, ein Mann der Physik, denn immer noch so primitiv programmiert, dass der alte Adam in mir auf derartige Reize wie ein Pawlowscher Hund reagiert? Längst sollte ich doch begriffen haben, dass genau darin der ganze Betrug unseres Lebens liegt. Immer wieder lassen wir uns von flüchtigen Reizen, etwas Sonnenschein oder einem Lächeln, betören. Dabei ist das alles nicht mehr als Gaukelei, Lüge und Schein. Das Meer ist das Meer ist das Meer, und meine Assistentin bloß Assistentin – nicht mehr und nicht weniger als eine halbwegs brauchbare Hilfskraft. Natürlich ist sie nebenbei auch eine junge und hübsche Frau, aber als Forscher hat mich das rein gar nichts anzugehen! Davor habe ich die Augen zu schließen, ganz bewusst und ohne Wenn und Aber.

      Dennoch, immer gelingt das nicht, schon Beispiel gerade in diesem Augenblick nicht. Widerstrebend muss ich mir eingestehen, dass ich die biologische Programmierung sehr wohl in mir spüre. Ich kann einfach nicht umhin, hin und wieder auf die im Winde fliegenden blonden Strähnen zu schauen.

      Welch ein Glück, dass meine hochachtenswerten Kollegen nicht über die Gabe der Hellsichtigkeit verfügen! Würde irgendjemand Krszymanski, den berühmten Nobelpreisträger für Physik, noch schätzen können, wenn er mir in die Hirnschale blicken und dabei entdecken würde, dass da neben dem Erfinder des Quantenhirns noch ein zweites armseliges Wesen haust, das der Nobelpreisträger mit seinen atavistischen Vorfahren, den Steinzeitmenschen ebenso teilt wie mit jedem x-beliebigen Mann auf der Straße? Wie gut, dass es diese undurchdringliche Hirnschale gibt und das erbärmliche Steinzeitwesen dahinter verborgen bleibt.

      Ach, da steht ja Spiderton, der grient wieder einmal über das ganze Gesicht. Ich glaube, der bildet sich ein, dass wir alle nur in Erwartung des Gymnopterus hier sind – als hätte sich auch nur einer von uns wegen eines lächerlichen Vogels auf die Insel begeben. Bitte schön, wir sind hier in einer sehr ernsten wissenschaftlichen Mission. Das ist kein Schülerausflug. Ich verstehe schon, lieber Kollege, dass du die Dinge auf deine Art siehst, du bist der Erfinder dieses kuriosen Vogels und deshalb fachlich befangen und vorbelastet. Du hast dir den Vogel sogar auf den rechten Arm tätowiert. Sehr schlechter Geschmack für einen Gelehrten, das muss ich schon sagen, damit hast du dir keine Freunde gemacht.

      Ist zwar ein toller Wissenschaftler, sagen alle, ein zweiter Darwin, aber davon einmal abgesehen ist der Mann schlichtweg verrückt. Und dann diese Haare! Warum hast du sie violett eingefärbt? Ob Gymnopterus ein violettes Federkleid trägt?

      Seltsam, warum kommt Spiderton gerade jetzt auf mich zu? Manchmal frage ich mich, ob unsere Hirnschalen vielleicht doch nicht absolut dicht sind? Nein, so ganz ausschließen dürfen wir die Möglichkeit nicht, dass die elektrische Ladung eines Gehirns sich über eine gewisse Distanz einem anderen mitteilt. Eine bloße Hypothese, natürlich, aber sie würde vieles erklären. Jedenfalls hält Spiderton jetzt direkt auf mich zu.

      Wissen Sie Newton, dass mein lieber Urvogel, Gymnopterus maximus, nach allem, was wir heute wissen, mit großer Wahrscheinlichkeit, ich möchte sogar von Gewissheit sprechen, das Vorbild war für den Vogel Greif aus Tausendundeiner Nacht? Seine Flügelspannweite betrug einmal ganze sechs Meter, da können wir uns mühelos vorstellen, dass ein Mensch in den Klauen des Maximus ebenso klein wird wie eine Maus, die von einem Adler gepackt wird. Allerdings hat das Federvieh die Fliegerei schon früh aufgegeben, seit etwa drei Millionen Jahren. Der Grund leuchtet ein: Auf Merson Island und den umliegenden Inseln hatte der Vogel keine Feinde. Also sind wir bequem geworden, haben unsere Flügel einfach nicht länger benutzt, und was man nicht benutzt, das verliert nach einiger Zeit seine Funktion. Dekadenz, nenne ich das, lieber Kollege, Dekadenz, wie sie im Buche steht.

      Na ja, bis zum Jahre 1709 gab es auf Merson wirklich keine Feinde. Aber dann waren sie auf einmal da, für die armen Vögel wurde es lebensbedrohlich. Denn in diesem Jahre strandete dort die Glorious und spuckte mehr als ein Dutzend überlebender Meuterer auf die Insel. Da ist es uns – ich meine die lieben Vögel - so richtig schlecht ergangen, zumal wir die Ankömmlinge ja zunächst einmal sehr sympathisch fanden. Das waren zweibeinige Wesen ganz wie wir selbst. Deswegen haben wir sie ja auch voller Interesse begrüßt, vermutlich sogar mit naiver Begeisterung, denn eine Insel bietet ja an und für sich wenig Abwechslung. Also versuchen Sie bitte, sich diese Situation anschaulich vorzustellen! Einerseits meine Vögel, vertrauensselig und liebenswürdig, andererseits diese wilden ausgehungerten Meuterer.

      Na ja, das traurige Ende der Geschichte war unschwer vorauszusehen. Die Meuterer liebten die Vögel auch, aber auf ihre Weise, nämlich erst, wenn sie gebraten waren. Das waren raue Leute, sie kamen aus einer Kolonialmacht voller Mordinstinkte und mussten zudem ums Überleben kämpfen. Natürlich hatten diese Barbaren keine Ahnung von dem wissenschaftlichen Wert meines Gymnopterus; ich fürchte, die Kerle hätten sich aber so oder so über den Nacktvogel hergemacht. Anders gesagt, die Tiere wurden zu einer leichten und, wie es scheint, überaus schmackhaften Beute für die verirrten Repräsentanten ihrer britischen Majestät. Ich halte es übrigens für durchaus möglich, dass sich die Handvoll Matrosen zwanzig Jahre lang überwiegend von Gymnopterus ernährte, solange der Vorrat an lebenden Exemplaren eben reichte. Als schließlich auch noch der letzte Vertreter des Vogel Greif im Kochtopf geendet war, starben auch die Matrosen aus. Na ja, das hätte ich ihnen natürlich voraussagen können.