Alfred Kachelmann

Sie wollte leben, einfach nur leben...


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hin zu ihrem Elternhaus. Sie sah ihren Vater schon von Weiten. Er stand da mit seinem gebückten Rücken, ruhig und besonnen wie immer, bemühte sich den Verschluss eines der Fensterläden neu zu justieren. Er hatte sie noch nicht bemerkt. Leise ging sie die letzten Schritte auf ihn zu. Ebenso leise sprach sie ihn, der ihr noch immer den Rücken zuwendete an. „Vater“ ...

      Mein Gott, wie lange hatte er diese, ihm so vertraute Stimme schon nicht mehr gehört. Er richtete sich auf, drehte sich langsam um. Tränen der Freude liefen ihm über seine Wangen als er in ihr Gesicht sah. Wortlos fielen sie sich in die Arme. Sie hielten sich fest wie zwei Er-trinkende, die befürchteten unterzugehen sobald sie sich voneinander lösten. „Vater“…. überglücklich hatte sie dieses Wort über ihre Lippen gebracht. Ihr Herz schlug ihr dabei zum Zerspringen. In seinen Armen fühlte sie sich wieder wie das kleine Mädchen das so viele Jahre glücklich und zufrieden in diesem Haus gelebt hatte. Sie wollte ihn am liebsten überhaupt nie mehr los lassen…

      Mutter ging es nicht gut, sie hatte vor einigen Wochen einen neuen Schlaganfall gehabt. Seither konnte sie ihr Bett nicht verlassen. Warum ihr Vater sie nicht verständig hatte, wollte sie wissen. Dieser konnte ihre Frage nicht verstehen, schließlich habe er ihren Mann, dem er in der Stadt begegnet war, darauf angesprochen und gebeten sie zu informieren. Der wiederum hätte ihm im Gegenzug zugesichert, dass er dies auf jeden Fall tun würde. Auch wollte er mit ihr zusammen schon lange vorbeikommen. Vater hatte sich gewundert warum sie ihm keine Antwort zukommen ließ. Er dachte schon ihr sei auch irgendetwas passiert. Schließlich hing sie doch immer so an ihrer Mutter.

      Als Vater hörte, dass sie überhaupt keine Ahnung von der erneuten Erkrankung ihrer Mutter hatte, schüttelte er nur verständnislos seinen Kopf. Leise murmelte er vor sich hin dass er glaube die Heirat sei ein großer Fehler gewesen, sie habe den falschen Mann ausgesucht. Sie konnte verstehen was er vor sich hin brummte, aber sie wollte ihm keine Antwort darauf geben. Er hatte ja Recht damit, aber sollte sie ihm dies wirklich eingestehen? Würde sie seine Probleme damit nicht nur noch größer machen? Er konnte ihr ja doch nicht helfen. Sie musste ihr Päckchen alleine tragen, schließlich hatte sie es ja selbst so gewollt. Jung und blauäugig wie sie damals war. Für sie war es die erste große Liebe gewesen. Andere Männer kannte sie nicht. Ob sie heute noch einmal so entscheiden würde, diese Frage wagte sie sich selbst nicht zu beantworten.

      Kapitel 5

      Sie blieb einige Tage bei ihren Eltern. Kümmerte sich rührend um ihre kranke Mutter und es machte ihr große Freude die Beiden wieder einmal zu bekochen, oder das Haus, das ihr Vater so gut es ging sauber hielt, von oben bis unten zu putzen. Sie genoss die Zeit, fühlte sich wieder wie ein kleines Mädchen, das keine Sorgen, keinen Kummer kannte.

      Sie schlief in ihrem alten Zimmer. Ihre Eltern hatten nichts darin verändert seit sie gegangen war. Selbst ihr altes Album lag noch auf ihrer Kommode. Genau an der Stelle an der sie es an ihrem letzten Tag zu Hause liegen lies. Vater hatte ihr frische Blumen in die Vase auf dem kleinen Tisch gesteckt. Er war froh, dass sie wieder hier war. Diese kleine Geste zeigte dies. Er war nie ein Mann großer Worte gewesen, aber sie spürte seine große und ehrliche Freude über ihre Anwesenheit. Sein Lächeln, seine zärtlichen Berührungen, seine Dankbarkeit wenn sie ihn in die Arme nahm.

      Er vermied über ihre Ehe oder über ihren Mann nachzufragen. In den Tagen in denen sie daheim war wurde dieses Thema nie angesprochen und seltsamerweise machte es ihr auch nichts aus. Im Gegenteil sie war dankbar dafür. Es hätte noch Wochen so weiter gehen können. Aber da war er plötzlich wieder der Gedanke an ihren Mann. Schließlich würde er nicht ewig weg bleiben. Was würde er wohl sagen oder tun wenn sie bei seiner Rückkehr nicht zu Hause wäre?

      Dieser Gedanke bereitete ihr Unbehagen. Erst versuchte sie sich abzulenken, wollte solche Fragen erst gar nicht in sich aufkommen lassen. Aber es gelang ihr mit der Zeit immer weniger diese Angst, die dabei in ihr aufstieg, zu verdrängen. Es würde ihr wohl nichts anderes übrig bleiben als wieder zurückzugehen. Schließlich war sie seine Frau und noch gehörte sie an seine Seite. Warum hatte sie nur solche Angst davor?

      Gestern, in den späten Abendstunden, war sie wieder zurückgekehrt in ihre eigene Wohnung. Als sie durch die Tür trat schnürte es ihr das Herz zusammen, am liebsten hätte sie sich gleich wieder umgedreht und wäre zurück auf die Straße gerannt. Zurück zu ihren Eltern die ihr dieses Gefühl der Geborgenheit, dass sie so lange vermisst hatte, endlich wieder gegeben hatten. Wärme, Liebe, Geborgenheit, das kannte sie in ihrer Ehe nicht mehr. Kälte und Unbehagen schlugen ihr entgegen als sie die Türe hinter sich schloss. Düsterheit und Angst kroch in ihrer Seele hoch als sie sich auf ihr Sofa setzte. Warum tat sie sich das an, warum ging sie nicht einfach ganz von ihm weg?

      Es dauerte noch ein paar Tage bis er auch wieder zu hause eintraf. Er war wie üblich gereizt und zeigte wenig Interesse an ihr. Es interessierte ihm nicht einmal als sie begann von ihren Eltern zu erzählen. Er saß nur abwesend auf dem Sofa und hielt die Flasche Schnaps, die er immer griffbereit am Tisch stehen hatte, in der Hand. Ab und zu nahm er einen tiefen Zug aus ihr und schüttelte sich nur kurz als ihm die Scharfe des Brandes durch die Kehle lief.

      Teilnahmslos und apathisch wirkte er auf sie. Erst als sie begann ihn zu fragen warum er ihr nicht vom Zusammentreffen mit ihrem Vater erzählt hatte, sprang er wütend auf, warf die Flasche achtlos zu Boden und schrie sie an sie solle endlich das Maul halten. Mit hochrotem Kopf plärrte er ihr entgegen dass er die Nase voll hätte von ihr, dass er es sich nicht mehr gefallen lassen wolle wie sie das Haus herunterkommen lies. Mit ihr könne er sich in der Öffentlichkeit nicht mehr sehen lassen. Sie sei langweilig und dumm.

      Ängstlich zuckte sie zusammen, hielt ihre Hände schützend vors Gesicht, in Erwartung der Schläge, die jetzt mit Sicherheit wieder kommen würden. „Mach schon…“, ging es ihr durch den Kopf: „los mach schon, schlag endlich zu, damit wir es hinter uns bringen…“. Sekundenlang stand sie so und wartete. Aber er stürmte in die Küche, riss den Schlüssel für den Keller vom Hacken an der Wand und rannte hinaus ins Treppenhaus. Sie hörte seine stolpernden, hastigen Schritte die Holztreppe hinunter hetzen. Sie wusste was er wollte. Er würde sich jetzt eine neue Schnapsflasche aus dem verschlossenen Abteil, in das sie noch niemals hinein gehen durfte, holen, sich an-schließend auf sein Sofa setzen und sich sinnlos betrinken. Danach würde er wieder zu ihr kommen und sich sein, seiner Meinung nach, angestammtes Recht als Ehemann nehmen.

      Tränen des Entsetzens und der Angst liefen ihr über ihr Gesicht. Langsam ging sie in ihr Schlafzimmer, legte sich angekleidet auf ihr Bett und verharrte reglos. Hoffentlich würde es schnell gehen. Hoffentlich tat er ihr nicht so weh. Sie hörte ihn noch wieder aus dem Keller herauf kommen. Hörte das Sofa ächzen unter der Last als er sich achtlos darauf fallen lies. Sie lag da und wartete…

      Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Als sie die Augen aufmachte war es dunkel im Zimmer. Das Mondlicht warf bereits lange Schatten der Bäume, die vor ihrem Haus standen, durchs Fenster. Ängstlich lauschte sie hinüber ins Zimmer. Schließlich war sie der Meinung, dass er noch dort auf seinem Sofa sitzen und Schnaps trinken würde. Sie ver- hielt sich ganz leise, atmete selbst ganz flach, nur damit sie auch jedes Geräusch, das er machen könnte, auffangen würde. Aber da war nichts.

      Nicht das kleinste Geräusch drang zu ihr herüber. Nichts, da war nichts. Anstatt sich zu beruhigen kroch ihr die Angst immer tiefer hinein in ihre Seele. Sie wagte kaum noch zu atmen, bewegte keinen Muskel ihres Körpers, nur um ihn nicht noch auf sich aufmerksam zu machen. So lag sie fast eine ganze Stunde lang. Sie wusste es, weil sie die Turmuhr vom nahen Rathaus hatte leise schlagen hören.

      Fast eine Stunde lag sie völlig regungslos, vollkommen ruhig aber fast wahnsinnig vor Angst. Wann würde er im Türrahmen erscheinen, wann würde er sich über sie werfen, ihr seinen schnapsgetränkten Atem ins Gesicht blasen? Wann würde er kommen und wütend und sinnlos auf sie einschlagen? Tränen liefen ihr dabei über ihre Wangen.

      Sie war erschöpft und ausgelaugt. Ausgelaugt von diesem Mann. Einem Mann, der ihr einmal versprochen hatte sie zu lieben und zu ehren, so wie ein Mann es mit seiner Frau tun sollte. Dieser Mann, der sie behandelte als wäre sie seine Leibeigene, als sei sie es nicht wert sich seine Frau zu nennen. Was war nur aus ihnen geworden…?