Sebastian Liebowitz

Kindsjahre


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die Nacht hallten.

      „Abeendschtundööoo-haad-Gooldimmundeehöhöööäää“ krächzte da jemand, während er über die Strasse torkelte. Dabei wurde der Schreihals immer wieder von Hustenanfällen geschüttelt, die gelegentlich auch in einem trockenen Würgen mündeten. Dann hallte ein Rumsen durch die Nacht, als der Schädel der bis dahin noch unbekannten Person hart mit unserer Haustüre kollidierte und wir wussten: Aha, Papa kommt heim.

      Kurz darauf quietschte eine Tür. Schwere Schritte, begleitet von ebensolchem Schnaufen, schleppten sich die Treppe hinauf. Der Erfolg, es fast bis nach oben geschafft zu haben, liess Papa leichtsinnig werden. Siegessicher stimmte er noch einmal seinen Lieblingsschlager an. Schnell stellte sich heraus: Papa mochte vieles gewesen sein, Multitasking-fähig war er nicht.

      „Abendschtundööö---oh-verda-aaah“, tönte es, dann polterte und ächzte es ein paar Mal und schon lag Papa wieder unten.

      Im ganzen Haus war es auf einmal totenstill. Wir lauschten angestrengt. War das ein leises Stöhnen? Keiner wagte zu atmen. Jemand schluchzte verhalten. Sicher hatte sich Papa beim Sturz sämtliche Knochen gebrochen und rang mit dem Tod. Im Nebenzimmer knarrte es leise, als Mama aufstand, um nach Papa zu sehen. Zaghaft tastete sie nach dem Lichtschalter. Es dauerte eine Ewigkeit, bis endlich Licht unter der Tür durchschimmerte. Im Zimmer herrschte gespannte Stille.

      Plötzlich ein Schrei.

      „Abendschtundäääöööo..ohhooo..“, hallte es durch das Treppenhaus, um dann in undefinierbarem Gebrabbel zu versickern.

      Nun singen Tote in der Regel nicht und auch von Schwerverletzten hört man es eher selten. Unter diesen Umständen mag man es uns sicher nachsehen, dass wir diese Geräusche zum Anlass nahmen, erleichtert in unsere Betten zurückzusinken. Sogar ein Kichern war zu hören.

      Wenn auch nur ganz leise.

      Nach dieser denkwürdigen Premiere folgten bald weitere Vorstellungen ähnlicher Art. Unterschiede waren, wenn überhaupt, nur in Details zu erkennen. So purzelte Papa nur noch selten die Treppe hinunter (oft legte er sich schon auf der ersten Stufe hin) und auch die ständig alternierende Titelauswahl brachte etwas Abwechslung in die Sache. Da war zum Beispiel „Mendocino“ (Mendösiööää), „Azzurro“ (Assuuurohoo) und sogar die schöne „Monja“ schaute ab und zu auf einen kurzen Sprung vorbei, blieb verständlicherweise aber nie (Mooöönjähää, Mohöönjähäää…).

      An diesem Ablauf sollte sich die nächsten Wochen erst mal wenig ändern. Als dann aber auch noch die Wochenenden dazu kamen, hielt es Mama für an der Zeit, meinen Vater ab und zu daran zu erinnern, dass zuhause ein paar hungrige Mäuler zu stopfen wären. Die Besitzer derselben (11 an der Zahl) wurden kurzerhand zwangsrekrutiert und auf Aufklärungstouren in die benachbarten Kneipen geschickt.

      Mission: Such den Saufkopf

      Heutzutage hält man natürlich auch ein Auge auf die Medienwirksamkeit und bedient sich daher wohlklingender Begriffe wie „Desert Storm“ oder „Enduring Freedom“, die oft kaum Rückschlüsse auf den Zweck der Unternehmung zulassen. Mamas Variante hingegen hatte den entscheidenden Vorteil, auch für einen der englischen Sprache nicht mächtigen Dreikäsehoch leicht verständlich zu sein.

      Zumindest, nachdem uns Mama erklärt hatte, dass mit „Saufkopf“ eigentlich Papa gemeint war.

      Natürlich lernten wir schnell, dass es ratsam war, Mamas Worte nur sinngemäss wiederzugeben. „Saufkopf“ mochte Papa nämlich nicht so gern genannt werden, vor allem dann nicht, wenn er mit seinen Kumpels am Stammtisch sass. Was er oft tat, der Papa. Eigentlich sehr oft sogar, denn Papa war ein Gewohnheitsmensch. Das vereinfachte einerseits unsere Suchaktionen, beeinflusste andererseits aber auch unsere Wahrnehmung bezüglich Papas Tagesablauf erheblich. Schliesslich hatte uns noch niemand so richtig das Konzept „Arbeit“ erklärt. Wenn Papa nicht zu Hause war, so dachten wir einfältig, so musste er ganz bestimmt in der Kneipe sein.

      Nicht ganz zu Unrecht, wie sich zeigen sollte.

      Bis zu diesem schicksalsreichen Tag, an dem ich zum ersten Mal mit Alkohol in Berührung kam, hatte ich mich stets unter fadenscheinigen Gründen von dieser lästigen Pflicht drücken können. Damit war nun Schluss. Die Ausrede, ich könne nicht laufen, zog ohnehin schon länger nicht mehr. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich mit der Aneignung dieser Fähigkeit noch zugewartet, aber dafür war es jetzt zu spät. Und als ich mich auch noch auf mein jugendliches Alter berief, um der drohenden Entsendung in die Kneipe gegenüber zu entgehen, wurde Mama deutlicher.

      „Jetzt hab dich nicht so, du bist ja schliesslich kein kleines Kind mehr“, murrte sie.

      „Doch, Papa sagt schliesslich auch immer ‚mein liebes Kind‘ zu mir.“

      „Ha“, lachte Mama, „du tust gut daran, nicht alles zu glauben, was dir der alte Sauf..äh, Papa erzählt. Mir hat er damals auch das Blaue vom Himmel versprochen und das hab ich nun davon.“

      „Warum hat Papa dir denn etwas versprochen und nicht gehalten?“

      „Na, weil der geile Bock mich rumkriegen wollte, äh, ich meine, weil Papa damals ganz fürchterlich in Mama verliebt war.“

      „Was ist denn ein geiler Bock?“

      Mama überlegte kurz.

      „Das ist ein, äh, ein netter Mann, genau.“

      Aha, das war ja interessant. Diesen Ausdruck musste ich mir merken, falls wieder mal jemand nett zu mir war. „Vielen Dank, Sie geiler Bock“ kam sicher viel besser an als bloss „Vielen Dank“.

      „So, jetzt aber genug gemosert“, unterbrach Mama meine Überlegungen, „du gehst jetzt rüber in den ‚Rosengarten‘ und holst deinen Papa.“

      „Und wenn er gar nicht da ist? Vielleicht ist er ja auf der Arbeit.“

      „Ha, der und arbeiten, das wäre ja noch schöner. Aber wenn du ihn nicht siehst, fragst du halt Benno, das ist der Wirt dort, das ist so ein Dicker mit Glatze. Vielleicht ist er ja auch im Löwen. Da fragst du dann am besten ‚Beinebreit Rosi‘, das ist so eine schwarzhaarige mit..“

      „Wieso heisst die denn ‚Beinebreit Rosi‘?“

      „Ähm, naja, weil sie, äh, fürchterliche O-Beine hat, darum.“

      „Also eine Schwarzhaarige mit O-Beinen.“

      „Genau“, nickte Mama. „Aber nicht, dass du in den Löwen reinmarschierst und nach ‚Beinebreit Rosi‘ fragst, hast du verstanden?“ Sie gab mir einen Klaps auf den Hintern und schob mich in Richtung Tür. „So, und jetzt schleich dich.“

      Und so kam es, dass ich nur wenig später das erste Mal in meinem Leben eine Kneipe betrat. Eigentlich hatte ich mich schon länger gefragt, wie wohl der Ort aussehen würde, an dem Papa so viel Zeit verbrachte. Der Blick, der sich mir von der Tür aus bot, war jedoch ernüchternd. Statt der erwarteten Wohlfühloase erwartete mich nämlich bloss ein muffiger Schankraum, dessen Einrichtung selbst in der schummrigen Beleuchtung nicht an Liebreiz gewann. Die Attraktivität des Hauses lag wohl eher in dem grossen, runden Tisch begründet, an dem mein Papa sich gerade lautstark mit ein paar Männern unterhielt. Man war sich offensichtlich uneinig darüber, welcher Gemüseladen in der Gegend die schönsten Früchte im Angebot hatte.

      „Ich sag euch, die Rosi aus dem ‚Löwen‘ hat die dicksten Melonen weit und breit“, verkündete Papa und wedelte mit seiner Zigarre.

      „Jaja, aber ich kann euch sagen, die von meiner Hanni sind auch nicht ohne“, behauptete der Herr mit der dicken, roten Nase, der ihm gegenüber sass.

      Der Mann, der neben Papa sass, stiess ihn mit seinem Ellbogen in die Seite.

      „Nur, dass das nicht das Einzige ist, was an ihr gross ist“, feixte er.

      Das schien den Herrn mit der roten Nase furchtbar böse zu machen.

      „Was willst du denn damit andeuten?“, schrie er und schüttelte drohend seine Faust. „Halt bloss dein elendes Schandmaul, du..“