Sebastian Liebowitz

Kindsjahre


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feiert? So mit Luftballons und Tischbomben und so?“

      „Äh, nicht so ganz. Man betet eher.“

      „Beten? Das ist aber eine komische Feier. Wie betet man denn da?“

      Mutter blickte mir streng ins Gesicht.

      „Du willst mir doch nicht sagen, dass du nicht weisst, wie man betet?“

      „Doch.“

      „Also man betet, um, nun ja, äh, weil man..äh“, stammelte sie, während ihre Hände nervös über ihre Schürze strichen, „also sozusagen, in gewisser Weise, äh..“ Sie gab sich einen Ruck. „Halt so wie wir es immer machen, wenn wir bei Tisch sind. Das nennt man dann ein Tischgebet.“

      Damit konnte ich etwas anfangen.

      „Ach so, und ich hab mich immer gewundert. Wofür ist das denn, dieses Tischgebet?“

      „Das weisst du doch selbst, schliesslich betest du es jeden Mittag und Abend.“

      „Äh, wenn ich ehrlich bin, mach ich bloss immer ‚müml-müml-müml‘. Ihr haltet euch ja immer die Hände vor den Mund und nuschelt so, das versteht ja keiner.“

      „Aha, soso“, nickte „Mutter“. „Darüber reden wir dann besser mal mit ‚Vater‘, damit er dir mal zeigt, wie man richtig betet.“

      „Und wofür man betet.“

      „Na, das solltest du mittlerweile ja wirklich wissen. Man betet, um sich für die Gaben zu bedanken, die der Herr uns beschert hat.“

      „Welcher Herr denn?“

      „Also, der Herr ist der, der uns unser Essen beschert, äh, gegeben hat, so quasi.“

      Ich überlegte kurz.

      „Aha, das ist sicher der Herr im blauen Kittel, der im Laden immer die Regale auffüllt. Aber bei dem könnte man sich doch auch persönlich bedanken, der würde sich doch sicher freuen.“

      „Mutter“ schüttelte empört ihren Kopf.

      „‘Der Herr im blauen Kittel‘, also, wie kommst du denn da drauf? Gott kann man doch gar nicht sehen, weil er nämlich unsichtbar ist.“

      „Unsichtbar?“ Ich warf einen nervösen Blick über meine Schulter. „Das heisst, er könnte jetzt direkt hinter mir stehen.“

      „Genau, Gott ist nämlich überall.“

      „Wie kann dieser Gott denn überall sein und gleichzeitig hinter mir stehen? Also, ich versteh das nicht.“

      „Das ist ganz einfach, Gott ist überall, er hört alles und sieht alles. Denk daran, wenn du wieder einmal sündigst.“

      Ich schluckte trocken. Die Vorstellung, dass mir sogar jemand beim Pieseln zuschaute, liess mich erschaudern. Ich war da sehr eigen, wenn mir jemand zusah, bekam ich keinen Tropfen raus. Mir schwante Übles. Gar am Ende bekam ich noch eine Blasenentzündung, weil ich nicht mehr pieseln konnte. Das wollte ich jetzt genauer wissen.

      „Und dieser Gott steht also bei uns in der Küche und hört zu, wenn wir das Tischgebet sprechen?“

      „Naja, er steht nicht direkt bei uns in der Küche, aber er hört trotzdem alles.“ Sie nickte bestimmt. „Und darum hört er auch, wenn wir uns für die Speisen bedanken, denn ohne ihn hätten wir ja nichts.“

      „Das ist aber komisch“ sagte ich. „Roland, der gegenüber wohnt, sagt, dass sie nie so ein Tischgebet sprechen und trotzdem täten sie leben wie die Maden im Speck.“

      „Roland ist ein Idiot.“

      Und auch „Vater“ hatte sich zu diesem Thema bedeckt gehalten.

      „Du wirst schon sehen“, hatte er verlauten lassen und sich energisch seinen Hut auf den Kopf gestülpt.

      „Äh, was denn sehen?“

      „Jetzt frag nicht so blöd.“

      Und so liess ich mich willig an der Hand nehmen und von „Vater“ in die Kirche führen, wo ich neben ihm auf einer Holzbank Platz nahm und meinen Blick schweifen liess. Und obwohl ich dabei in der Tat „sah“, wie „Vater“ vorausgesagt hatte, wurde mir allein dadurch überhaupt nichts klar. Ganz im Gegenteil.

      Das fing schon bei der spartanisch eingerichteten Halle mit den kargen Holzbänken an. Sogar an den Sitzkissen hatte man gespart. Dafür hatte man dicke Bücher auf jeden Sitz gelegt, die aber, wie ich bald feststellen musste, als Sitzunterlage so gut wie nichts taugten. Scheinbar hatte „Vater“ in der zweiten Klasse Platz genommen, denn weiter vorne war die Einrichtung bedeutend luxuriöser. Da gab es eine reich verzierte Eckbank, auf der dicke Kissen lagen, daneben war eine Küchenzeile zu sehen, die aus purem Gold zu sein schien und der Esstisch war mit einem wunderschönen Tischtuch bedeckt, welches man allerdings falsch herum auf den Tisch gelegt hatte. Während links und rechts noch der blanke Stein hervorlugte, hing das Tischtuch vorne und hinten nämlich fast bis auf den Boden. Zudem hatte man die Stühle vergessen, was erklärte, wieso noch niemand Platz genommen hatte. Aber auch sonst schien mir die Einrichtung etwas unüberlegt. So hing über dem Esstisch eine Funzel, die zwar hübsch anzusehen war, aber so gut wie kein Licht spendete. Dazu kam, dass das Ding viel zu hoch hing, was wohl auch der Grund dafür war, dass noch niemand die Birne gewechselt hatte. Dafür hatte man ein paar Kerzenständer aufgestellt, die den Raum aber mehr schlecht als recht beleuchteten. Die tanzenden Flammen warfen ein flackerndes Licht an die Wand hinter dem Esstisch, so, dass ich die Figur, die dort hing, fast übersehen hätte. Dann aber mochte ich meinen Augen nicht trauen. Anstelle eines Bildes eines röhrenden Hirschen, wie es bei uns in der Stube hing, hatte man hier eine furchteinflössende Skulptur an die Wand gehängt. An einem hölzernen Kreuz hing nämlich ein junger Mann, dem man in barbarischer Weise Nägel durch Hände und Füsse getrieben hatte. Der grausige Anblick liess mir eine Gänsehaut über den Rücken rieseln und ich wandte schaudernd meinen Blick ab. Dabei fielen mir zum ersten Mal die Malereien an der Decke auf, wo es gar seltsame Figuren zu entdecken gab. So waren ringsum ein paar milchbärtige Jünglinge abgebildet, die ausser einem Umhang zwar fast nichts trugen, dafür aber eine Art Motoradhelm auf dem Kopf hatten. Und in der Mitte waren pausbäckige Kinder mit dicken Windeln zu sehen, die Flügel wie Vögel hatten und mit diesen dümmlich grinsend um ein paar barbäuchige Rentner herumschwirrten. Durchwegs üble, bärtige Burschen, die sich auf dicken Kissen räkelten und grimmig auf die Kirchenbesucher unter ihnen starrten. Ihre durchdringenden Blicke schienen sich in mein Innerstes zu bohren und ich rutschte unwillkürlich näher zu „Vater“. Die himmlische Umgebung jagte mir auf einmal eine Höllenangst ein. Was es mit all den komischen Figuren wohl auf sich haben mochte? Es war höchste Zeit, „Vater“ um Rat zu bitten. Dabei hatte ich aber die Rechnung ohne die Herren gemacht, die rings um uns Platz genommen hatten. Diese hatten es sich offensichtlich zum Ziel gesetzt, sämtliche Unterhaltungsversuche durch Störgeräusche zu torpedieren.

      „Vater, warum hat der ...“, begann ich.

      „Pssst!“, tönte es hinter mir.

      Ich zuckte zusammen und schielte nach hinten. Dort schüttelte ein schnurrbärtiger Herr mürrisch den Kopf. Sicher hatte ich zu laut gesprochen.

      „Vater, wieso hat..“, versuchte ich es noch einmal, diesmal leiser.

      „Psssst“, tönte es von vorne. Der Herr vor mir drehte sich um und warf mir einen bösen Blick zu. Aha, wohl immer noch zu laut. Meine Stimme war nun kaum mehr zu hören.

      „Vater, weshalb....“

      „Pssssssst“, machte der Herr links von mir und schüttelte empört seinen dicken Kopf.

      Trotzdem wollte ich noch einen letzten Versuch riskieren. Ich lehnte mich zu Vater und flüsterte ihm ins Ohr. „Vater…“, hauchte ich.

      „Psssssssst!“, machte dieser und legte sich vielsagend den Zeigefinger an die Lippen. Ringsherum drehte man sich zu mir um und warf mir vorwurfsvolle Blicke zu. Ich wich beschämt den Blicken aus. Sicher hatten jetzt alle bemerkt, dass ich noch nie