Sebastian Liebowitz

Kindsjahre


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nicht ganz verstand. So tickte eine Minute nach der anderen dahin und als wir endlich wieder aufstehen durften, gab es nicht wenige, die sich mit schmerzverzehrtem Gesicht ihre arthrosegebeutelten Knie rieben. Spätestens an dieser Stelle hätte Herr Eleison das Ruder noch mit einem kurzweiligen Schwank herumreissen müssen, um das Publikum bei Laune zu halten. Stattdessen fing er erneut an, in einer Fremdsprache vor sich hinzufaseln, obwohl ich weit und breit keinen Gastarbeiter entdecken konnte. So salbaderte er minutenlang an seinem Zielpublikum vorbei und es kam, wie es kommen musste. Bis der Alte endlich den Alk aus dem Kasten holte, war die Stimmung längst im Eimer. Dabei war der Tiefpunkt der unsäglichen Veranstaltung aber noch längst nicht erreicht. Statt uns nämlich etwas von dem feinen Roten abzugeben, kippte sich der geizige Lump das edle Tröpfchen in einem Zug allein hinter die Binde. Noch nicht einmal ein „Prost“ kam ihm über die Lippen, die er sich nach dieser Einlage genüsslich leckte. Für die armen Teufel, die sich mit knurrendem Magen in einer Reihe aufgestellt hatten, gab es nur gerade ein einziges Plätzchen. Hauchdünn, und noch nicht einmal mit Käse oder Schinken belegt. Und selbst das bekam nur, wer mit heraushängender Zunge um Nahrung flehte. So gab es nicht wenige, die, kaum dass sie an ihren Platz zurückgekehrt waren, vom Hunger geschwächt in die Knie gingen.

      Ich war heilfroh, als sich nach einer Weile mein erster Kirchbesuch endlich seinem Ende zuneigte. Mir war todlangweilig, meine Knie taten mir weh und meinen Hintern spürte ich schon gar nicht mehr. So konnte ich mir ein erleichtertes Seufzen nicht verbeissen, als uns der mürrische Herr endlich mit den Worten „geht mit Gott“ in die Nacht entliess. Dieser gab sich leider nicht zu erkennen, so dass ich stattdessen mit „Vater“ den Heimweg antrat.

      Zuhause in meinem Bettchen liess ich die Geschehnisse Revue passieren.

      Ich war verwirrt. Da drängte man sich in eine feuchte Halle, drückte sich auf Holzbänken den Hintern platt, schürfte sich die Knie an rohen Holzbalken auf und bekam noch nicht mal was zu Trinken. Und trotzdem war die Hütte brechend voll, während in der geselligen Kneipe zwei Strassen weiter noch jede Menge Tische frei waren. Dabei wurde man dort noch persönlich vom Wirt begrüsst, man konnte sich den Bauch mit Schinkenbroten und Limonade vollschlagen und gesungen und gelacht wurde auch.

      Irgendwie musste das Ganze mit dem Herrn zu tun haben, der ganz vorne am Kreuz hing. Dem hatte dieser ‚Pfarrer‘, wie ihn ‚Vater‘ nannte, nämlich zugeprostet, bevor er sich den Wein hinter die Binde gegossen hatte. Der Herr am Kreuz, soviel hatte ich schon herausgefunden, schien ohnehin sehr beliebt zu sein. Bei uns hing nämlich, wie ich herausgefunden hatte, praktisch in jedem Raum eine kleine Version und im komischen Garten hinter der Kirche mit den vielen Erdhaufen wimmelte es nur so davon.

      Dem Rätsel hiess es, auf den Grund zu gehen. Und so bat ich eines Tages „Mutter“ um Aufklärung und fragte sie, wer der Herr sei und was es mit dem Kreuz auf sich habe.

      „Das ist Jesus, der Sohn von unserem Herrgott“, antwortete sie kurzangebunden.

      „Unser Herr Gott? Hat der auch einen Vornamen? Und warum--“

      „Herrgott nochmal“, entfuhr es „Mutter“. Sogleich zuckte sie zusammen, warf einen entschuldigenden Blick zu unserem Herrn Gott und bekreuzigte sich.

      „Äh, ich meine, nicht Herr Gott, sondern Herrgott. Also unser Heiland eben.“

      „Unser Heiland?“

      „Naja, der Sohn vom heiligen Geist, so quasi.“

      Der Sohn vom heiligen Geist? Grad wie ein Geist kam mir die muskulöse Gestalt, die da am Kreuz hing, nicht gerade vor. Er hatte zwar auch ein Leintuch um, aber nur ein kleines, und auch das nur um die Hüfte geschlungen. Das schien mir doch alles sehr vage.

      „Und wieso hängt er da am Kreuz und hat fast nichts an?“

      „Weil ihn die Juden ans Kreuz genagelt haben. So, jetzt weisst du’s.“

      Das war es also. Endlich sprach jemand mal offen aus, wer für diese gemeine Tat verantwortlich zu machen war. Was für ein mieses Lumpenpack diese ‚Juden‘ doch sein mussten. Nagelten sie doch einfach jemanden ans Kreuz. Noch dazu jemanden, der so nett aussah. Sicher tat das furchtbar weh.

      „Aber so was darf man doch nicht machen, oder?“, hörte ich mich mit weinerlicher Stimme fragen.

      „Juden schon, die machen so was“, konstatierte ‚Mutter‘, das ist denen egal, die nageln dich einfach ans Kreuz, wenn ihnen deine Visage nicht passt.“

      Jetzt hatte „Vater“, der bis dahin ungerührt seine Zeitung gelesen hatte, genug gehört.

      „Aber Mutter“, schalt er diese, und faltete kopfschüttelnd die Zeitung zusammen, „erzähl dem Kleinen doch nicht so einen Quatsch.“

      „Wieso denn Quatsch?“, gab „Mutter“ zurück. „Stimmt das etwa nicht? Der Kleine soll nur wissen, wie das damals war.“

      Aha. Mutter war also sozusagen Zeitzeugin. Kein Wunder, hatten die Geschehnisse sie traumatisiert. Da konnte „Vater“ gut reden, der die ganze Geschichte offensichtlich gerade mal vom Hörensagen kannte.

      Trotzdem hatte dieser für einmal das letzte Wort. Er sah „Mutter“ mit einem nachsichtigen Blick an, wie er es immer tat, wenn die beiden einmal nicht einer Meinung waren, und warnte: „Mach bloss so weiter, du setzt dem Jungen am Ende noch Flausen in den Kopf.“

      Und genau so war es dann auch.

      Diese grausame Geschichte steckte mir nämlich noch tagelang in den Knochen. Fortan vermutete ich in jedem Fremden, der bei uns die Strasse entlanglief, einen Juden, der mich ans Kreuz nageln wollte. Ganze zwei Wochen lang traute ich mich kaum mehr aus dem Haus und wenn „Mutter“ mich nach dem Grund fragte, hüstelte ich und täuschte eine Erkältung vor. Es gibt zwar Angenehmeres, als im August gut zugedeckt mit Schal, Zipfelmütze und Bettflasche im Bett zu liegen und heissen Kamillentee zu trinken, aber dafür war ich in meinem Bett vor jüdischen Kreuznaglern sicher.

      Dass diese Saat dann schliesslich doch nicht aufging, lag zum einen an „Vaters“ mahnenden Worten, die je länger, je mehr nachhallten und zum anderen am Umstand, dass unsere Familie zwar arm sein mochte, aber mit Antisemitismus und Rassismus überhaupt nichts am Hut hatte. Die Zeit bei den beiden sollte mich daher, von dieser denkwürdigen Episode einmal abgesehen, durchaus positiv prägen. Die regelmässigen Aufenthalte während meiner Sommerferien bescherten nämlich nicht nur meinem Bauchumfang, sondern auch meinem Wortschatz einen enormen Zuwachs.

      Man denke sich nur, mein Vokabular umfasste auf einmal Fremdwörter, die uns zuhause nie über die Lippen gekommen wären. „Danke“ oder „bitte“ fallen mir spontan ein, aber auch Exotisches wie „Guten Tag“ und „auf Wiedersehen“ war dabei und sogar die eher persönliche Ebene wurde mit „Gesundheit“ und „Mahlzeit“ angeschnitten. Letzteres ein Wort, welches zuhause mangels Gelegenheit natürlich eher selten zum Einsatz kam.

      Aber auch andere schlechte Angewohnheiten, die ich aus dem Exil mitbrachte, sorgten für Erheiterung. So zum Beispiel meine Frage, wieso man bei uns zuhause kein Tischgebet spreche, wenn es denn schon mal was zu essen gebe.

      „Hihihi, hohoho, hört euch den an“, prustete mein Bruder Franz los, „‘danke‘, ‚bitte‘ und ‚Tischgebet‘, dass ich nicht lache. Kaum ein paar Wochen weg, schon hält er sich für was Besseres. Du kannst ja beten, dass ich dir nicht noch eine verpasse, du dämlicher Hosenscheisser.“ Zack, gab es eine Kopfnuss.

      Kein Zweifel, ich war wieder daheim. Wiedersehensfreude sah anders aus.

      Eine Geschichte von Hasenzüchtern und züchtigen Hasen

      So rüde das Verhalten meiner Brüder auch erscheinen mag, man darf nicht vergessen, dass auch sie nicht viel zu lachen hatten. Mit meinem Auszug sollte ich nämlich eine Kettenreaktion ins Rollen gebracht haben, die weitreichende Auswirkungen auf unsere Familie hatte. Da es zuhause nun ja ein Maul weniger zu stopfen gab, blieb ein wenig Geld übrig, welches sinnvoll angelegt werden wollte. Ob jetzt „in der Kneipe versaufen“ sinnvoll ist oder nicht, sei einmal dahingestellt.