Sebastian Liebowitz

Kindsjahre


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bereits. Aber wie hätte ich auch wissen sollen, dass man sich in so einer Kirche nur mit „Psst“ Lauten unterhalten darf, wenn überhaupt? Jetzt galt es, „Vater“ zu zeigen, dass auch aus mir noch ein rechter Kirchgänger werden konnte. Meine Chance kam, als sich der Herr neben mir räusperte. Sofort glotzte ich ihn vorwurfsvoll an, schüttelte dazu heftig meinen Kopf und machte „Pssssssssssssssst“.

      Irgendwie muss ich dabei aber wohl etwas falsch gemacht haben, denn dem Herrn schoss auf einmal das Blut in den Kopf, dass er wie eine behaarte Tomate aussah. Dazu grunzte er etwas, was sich wie „frecher Bengel“ anhörte. Wenn ich auch nicht ganz sicher sein konnte, weil er ja recht schwer zu verstehen war, so, wie ihm der Schaum vor dem Mund stand. Dennoch, diese Kirchensprache war wohl doch komplexer, als ich angenommen hatte. So kamen, dem Verhalten des Herrn neben mir zu urteilen, wohl auch nonverbale Kommunikationstechniken wie Zähnefletschen und Fäusteballen zum Einsatz. Da war es wohl besser, wenn ich mich mit weiteren Kommentaren vorerst zurückhielt. Mit Schläfenadern so dick wie Fahrradschläuche war schliesslich nicht zu spassen. Wenn die Dinger platzten, gab es sicher eine Riesensauerei. Nicht zum ersten Mal sehnte ich mich in die heimische Stube zurück. Diese „Kirche“ entpuppte sich je länger, je mehr als unwirtlicher Ort. Die harten Holzbänke, die seltsamen Zeichnungen an der Decke, das unfreundliche Volk. Ganz zu schweigen vom grausigen Wandschmuck. Und trotzdem war die Hütte brechend voll mit Leuten, die, wie es „Mutter“ ausgedrückt hatte, die „heilige Messe feiern“ wollten. Sicher hatte sie da etwas falsch verstanden. Die übellaunige Bande feierte doch höchstens den Weltuntergang.

      Wenn ich da an das Fussballturnier vor ein paar Wochen zurückdachte. Da hatte die Stimmung im Festzelt geradezu gebrodelt, gar kein Vergleich zu hier. Da wurde gesungen und gelacht, dass kein Auge trocken blieb, und das, obwohl die Bänke auch nicht bequemer gewesen waren, als hier. Dafür wurde wacker Bier getrunken.

      Das Wichtigste überhaupt bei einer jeden Veranstaltung, wie mir ein netter, wenn auch etwas rundlicher Herr verraten hatte, der mir gegenüber sass.

      „Hast du wacker Bier im Ranzen, lässt es sich auf jeder Beerdigung tanzen“, hatte er lauthals verkündet und seinen Bierkrug geschwenkt. Ein Spruch, der sogar „Vater“ zu hemmungslosem Kichern animierte. Natürlich wollte ich auf der Stelle auch einmal einen Schluck von diesem tollen Getränk probieren. Das aber wollte „Vater“ partout nicht zulassen, wiewohl dem Wundertrank vom netten Herrn gegenüber geradezu Zauberkräfte zugeschrieben wurden. Es gäbe nichts, was durch Bier nicht noch besser gemacht werde, tönte er, was rundherum mit kräftigem Nicken quittiert wurde, bei „Vater“ aber für Stirnrunzeln sorgte. Und als der nette Herr mit dem hochroten Kopf auf meine Nachfrage hin ansetzen wollte, mir die Bedeutung von „Schönsaufen“ erklären zu wollen, griff er ein und lenkte das Gespräch auf ein weniger verfängliches Thema.

      Er würde sich nicht wundern, wenn die „Kürblisberger Tigers“ dieses Jahr wieder den ersten Platz holen würden, bemerkte er, und zack, gab es unter dem Tisch für den netten Herrn einen Tritt gegen das Schienbein, den dieser mit lautem Schmerzgeheul quittierte.

      Plötzlich hörte man eine Tür knallen. Unruhe machte sich breit. Zwischen den Köpfen der Männer vor mir erspähte ich eine Gestalt, die mit schnellen Schritten auf den Stammtisch zuging. Es schien sich wohl um den Chef der Truppe zu handeln, der gerade erst aus dem Bett gekrochen war. Statt eines Anzugs, wie die meisten seiner Zuhörer, trug er nämlich bloss einen schlechtsitzenden Morgenmantel, der zudem wie ein Sack an ihm herunterhing. Sogar das Badetuch, welches er für die Rasur verwendet hatte, hing ihm noch über den Schultern. Er postierte sich breitbeinig vor dem Stammtisch und funkelte dann finster in die Runde. Der Anblick des immer noch ungedeckten Esstischs hatte ihm wohl die Laune verdorben. Statt schon mal mit dem Ausschank zu beginnen, stand das Bedienungspersonal in den weissen Kutten nämlich bloss untätig herum und bot Maulaffen feil. Wohl in Erwartung dessen, dass der Chef dem Treiben endlich ein Ende bereiten würde, rappelten sich nun ringsum die Leute auf die Beine und reckten den Hals. Dabei versperrten sie mir leider die Sicht, so dass ich dem weiteren Geschehen nur mit dem Gehör folgen konnte.

      Eine sonore Stimme erfüllte den Raum.

      „Ich begrüsse Sie zum heutigen Gottesdienst“, sagte sie, und weiter, „wir feiern heute das Fest der Kreuzerhöhung..“

      Aha, allen Unkenrufen zum Trotz schien es sich also doch um ein Fest zu handeln. Das Kreuz, welches vorne zu sehen war, hing wohl noch nicht hoch genug. Normalerweise feierte man zwar erst, nachdem man die Arbeit erledigt hatte, aber diese Handwerker waren ja seit jeher ein geselliges Völkchen. Die feierten ja auch schon Aufrichtfest, wenn ausser ein paar Holzbalken kaum was stand.

      Ich lauschte angestrengt.

      „…und singen ‚Lobet den Herrn‘“ tönte es gerade.

      Kaum waren die Worte verhallt, liess ein schauriges Gewummer die Wände erzittern. Das Geräusch schien von der Decke zu kommen. Jeder Ton klebte sekundenlang in der Luft, bevor er zäh wie Pech auf die Köpfe der Kirchgänger heruntertropfte. Die fingen alle auf einmal grauslich zu singen an. Jeder sang in der Tonlage, wie es ihm gerade passte und das schräge Gejohle dümpelte träge von einer Strophe zur andern. Als hätte man einer Kuh ins Euter gezwickt. Kein Wunder, dass keiner mitschunkelte. Man konnte nur hoffen, dass der ‚Herr‘, der dermassen „gelobt“ wurde, kein Musikliebhaber war. Nach drei schier unendlich langen Strophen kehrte endlich wohltuende Stille ein.

      Wieder war die Stimme zu hören.

      „Lasset uns beten“, sprach sie.

      So, da war es nun endlich, dieses Beten. Nun hiess es gut aufgepasst. Ich spitzte meine Ohren, um nur ja nichts zu verpassen. Dabei war ich wahrlich nicht der einzige, der keine Ahnung hatte, wie dieses „Beten“ vonstatten ging. Der seltsame Herr musste nämlich fast jeden Satz wiederholen und seinen Namen musste er uns sogar ganze drei Mal vorkauen, weil er so kompliziert war. So erfuhr ich, dass der Herr im Bademantel Kyrie Eleison hiess, und dem Vernehmen nach wohl ein schwedischer Immigrant war. Die harten Silben wollten dem recht einfach gestrickten Dorfvolk dann aber doch nie ganz richtig von der Zunge rollen und so gab Herr Eleison schliesslich händeringend auf. Frustriert wünschte er sich, irgendein Herr möge sich seiner erbarmen und richtete seinen Blick hilfesuchend zum Himmel. Dann fasste er sich erst an die Stirn, wohl weil er vom Gesang noch Kopfweh hatte, und dann an sein Herz, wahrscheinlich, weil ihm vor lauter Ärger über uns schon die Pumpe ging. So, wie er stumm seine Lippen bewegte, mochte er dabei wohl auch leise vor sich hin geflucht haben. Schliesslich riss er sich aber doch zusammen und machte gute Miene zum bösen Spiel. Er hob seine rechte Hand und winkte dann ein paar Herrschaften auf den vorderen Reihen zu, die ich aber nicht sehen konnte. Das Publikum jedenfalls nahm diese lockere Stimmung sogleich zum Anlass, sich wieder auf die Bänke plumpsen zu lassen. Herr Eleison wartete geduldig, bis das Knarren, Husten und Schnäuzen verstummt war und setzte dann an, uns eine langatmige Räuberpistole von ein paar „Jüngeren“ zu erzählen. Eine Fehlentscheidung, wie sich bald zeigen sollte. Sein Publikum, vorwiegend ja ältere Semester, zeigte nämlich wenig Interesse an den Machenschaften dieser „Jüngeren“ und gähnte bald unverhohlen um die Wette. Das lag nicht zuletzt daran, dass dem redseligen Alten auch noch jegliches Talent als Geschichtenerzähler abging. Er holperte tonlos von einem Satz zum nächsten und von einer knackigen Pointe hatte er wohl auch noch nie etwas gehört. Zudem blieben die Hauptpersonen blass, was nicht zuletzt daran lag, dass in seiner Geschichte alle „heilig“ waren. Ein Umstand, der der Unterscheidung der Haupt- von den Nebenpersonen nicht gerade zuträglich war. Dieser Paulus war heilig, der Petrus auch, die Mutter von diesem Gott sowieso und der Sohn gleich dazu, bis hinunter zur Jungfrau waren sie alle heilig, sogar der Geist. Wie wollte man da die Übersicht behalten? Mir drehte sich der Kopf.

      Wie anders doch die Geschichten, mit denen der nette Herr vom Festzelt unseren Tisch zum Brodeln gebracht hatte. Seine Geschichten, wie die von der hinkenden Liesel, dem stotternden Hansi und einem Herrn mit dem komischen Namen „Tripper“, hatten Pepp und Schmiss. Gut, ich mag zwar nicht immer alles verstanden haben, aber lustig war es trotzdem.

      Von lustig konnte hier keine Rede sein. Das Publikum jedenfalls goutierte seine Geschichte mit stoischem Gleichmut und als er endlich fertig war, gab es noch nicht einmal Applaus. Das passte Herrn Eleison natürlich überhaupt