Melanie Mende

Syleria


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und Blätter entwickelten, bis eine große und stattliche Eiche mit einem Stamm, so dick wie der Bauch eines Riesen vor ihm stand. Die Wurzeln öffneten sich zu einem Portal und als er hinein sah, konnte er Stufen erkennen, die in den Baum hinein führten. Ein Wohnbaum. Von denen hatte er schon mal gehört. Früher gab es viele davon, doch dann hatte man versucht, ein Geschäft aus ihnen zu machen. Sie zu vermieten, umzupflanzen, nach Kundenwünschen zu gestalten. Das Problem an der Geschichte war nur, dass es sich bei den Wohnbäumen nicht um Dinge, sondern um lebende Wesen mit einem eigenen Bewusstsein handelte. Und eines Nachts waren sie alle einfach verschwunden. Sie warfen ihre Besitzer vor die Tür und setzten sich in Bewegung. Seitdem nannte man sie den Wandernden Wald. Es gab immer mal wieder Gerüchte, jemand hätte ihn gesehen, doch die bestätigten sich nie.

      „Wenn sich die Einrichtung verändern soll, oder du noch ein weiteres Zimmer wünschst, musst du es dem Baum nur sagen.“

      Als er sich umdrehte um ihr noch einmal zu danken, sah er nur noch, wie sich all die kleinen Wesen einfach in glitzernden Staub auflösten. „Danke, das werde ich euch nie vergessen.“, sagte er mehr zu sich selbst, mit einem dankbaren Blick zu der Stelle, wo sie gerade eben noch gestanden hatte. Sie hatte ihm Zuflucht gewährt und ihm einen Ausweg aus einer aussichtslosen Situation geboten. Wie konnte er ihr das jemals vergelten? Er hoffte, es würde sich eines Tages die Gelegenheit bieten. Dann setzte er zum ersten Mal einen Fuß in sein neues zu Hause.

      *

      Erst als er am Ende der kleinen Treppe angelangt war konnte er sehen, wie groß das Innere des Wohnbaums wirklich war. Es war überraschenderweise angenehm kühl und taghell und als er nach oben blickte sah er, dass der gesamte Stamm, bis zur Krone hin, durchzogen war von kleinen Fenstern, die den Blick auf die Blätter freigaben. Sie würden Schutz vor Regen bieten und gleichzeitig dennoch genügend Licht hindurch lassen. Außerdem mochte er das Geräusch, das die Blätter machten, wenn der Wind durch sie hindurch fegte. Im Moment war der gesamte Stamm ein einziger großer leerer Raum. Was hatte die Königin gesagt? Er musste sich eine Veränderung nur wünschen? Nun gut. Einen Versuch war es Wert. Vielleicht für den Anfang etwas Einfaches. Fynnick räusperte sich und sagte möglichst laut und deutlich: „Stuhl!“

      Sofort veränderte sich die Maserung der Rinde vor seinen Füßen und das Holz begann in die Höhe zu wachsen und Triebe zu bilden. Kleine Zweige verflochten sich zu einem komplizierten Geflecht und kaum eine Minute später stand ein gemütlicher, großer Korbsessel vor ihm. Beeindruckt hob Fynnick die Augenbrauen. Er hatte an einen einfachen, stabilen Stuhl gedacht. Etwas Rustikales, Funktionales. Doch es schien fast, als wollte der Baum angeben. Na schön, dachte sich Fynnick, dann wollen wir doch mal sehen, was du kannst. „Treppe!“, sagte er als nächstes. Nur Augenblicke später begann sich eine Wendeltreppe an der Außenseite des Stammes, Stufe für Stufe bis nach oben zur Krone zu winden. Ein Geländer spross hervor, aus jungen Trieben, die ein verschnörkeltes Muster bildeten. Aufgeregt rannte Fynnick die Stufen hinauf bis ganz nach oben und sah über das Geländer nach unten. Er schätzte, dass er sich nun über dreißig Meter über dem Boden befand. Da hörte er hinter sich ein Knacken in der Rinde. Als er sich umdrehte sah er, dass sich der Stamm nach außen öffnete und sich ein großer Balkon bildete. Beeindruckt trat er hinaus und sah sich um. Sein Baum überragte die meisten der anderen Bäume und so hatte er eine gute Aussicht. Er konnte einige der Funkelfeen durch die Baumwipfel flitzen sehen und auch viele Vögel und Insekten. Alles um ihn herum schien voller Leben. Hier war nichts zu spüren von der Verderbnis, die das Land heimsuchte und Fynnick spürte eine innere Ruhe wie schon lange nicht mehr. Hier würde er ein gutes Leben führen können.

      *

      Ihm fehlte es an nichts. Er brauchte sich keine zwei Schritte von Borke, so nannte er seinen Baum inzwischen, zu entfernen um etwas zu essen zu finden. Es gab Beeren und Pilze im Überfluss und auch alle Kräuter, die ein Zauberer benötigte. Er baute sich einfache Werkzeuge und Fallen, mit denen er kleine Tiere fangen konnte. Mit der Zeit hielt er sich sogar einige als Haustiere. Die Tage vergingen und irgendwann hatte Zeit für ihn keine Bedeutung mehr. Er vergaß beinahe, dass außerhalb dieses Waldes noch eine andere Welt existierte. Lange Spaziergänge waren in der Zwischenzeit zu einer Gewohnheit geworden und er erkundete mit viel Freude den umliegenden Wald. Dabei gelangte er jedoch nie an sein Ende. Wie die Legenden sagten, er war anfangs- und endlos. Ging er lange genug in die selbe Richtung, kam er irgendwann wieder am Ausgangspunkt an. Ab und zu erblickte er auch mal einen seiner kleinen Freunde, doch die meiste Zeit über hielten sie sich im Laub der Bäume versteckt, wo sie kaum zu sehen waren. Doch einmal, als er von einem besonders ausgedehnten Spaziergang zurückkehrte und es bereits zu dämmern begann, da konnte er sie in den Baumwipfeln sehen, wie sie die Sterne putzten und polierten bis sie glänzten und sie dann wieder zum Himmel hinauf schickten. Es war ein überwältigender Anblick. Überall glitzerte es in den Baumkronen und es sah aus, als hätte sich der Himmel auf sie ergossen. Einer nach dem anderen kehrten die Sterne dann an ihren angestammten Platz am Himmelszelt zurück und funkelten dort wieder hell und strahlend.

      Mit der Zeit stellte er fest, dass Borke ein Baum mit Sinn für Humor war, der sich immer mal gerne einen Spaß erlaubte. So wachte Fynnick zum Beispiel an manchen Tagen auf und die Räume befanden sich plötzlich nicht mehr dort, wo sie noch am Vortag waren. Da war das Bad an der Stelle der Küche und diese wiederum an der Stelle des Schlafzimmers oder umgekehrt. Das machte es mitunter schwierig, mitten in der Nacht im Halbschlaf zur Toilette zu torkeln. An manchen Tagen, wenn Borke es besonders bunt trieb, konnte es auch schon mal passieren, dass die Decke plötzlich unten war und der Fußboden oben. Dann hatte er immer das Gefühl, als wäre alles richtig, nur er selbst passte irgendwie nicht ganz ins Bild. Deshalb hatte Fynnick es sich angewöhnt, keine losen Dinge herumliegen zu lassen, da die bei solchen Wandlungen immer heillos durch die Gegend flogen und er das Chaos am Ende wieder beseitigen musste. Leider schien es noch immer keine selbstreinigenden Wohnbäume zu geben. Außerdem war Borke einer von den Komikern, die gern über ihre eigenen Witze lachten. Jedes mal, wenn Fynnick sich über das heillose Durcheinander aufregte, erzitterte der Baum und es stöhnte im Stamm sein Gelächter.

      Ansonsten war es ein ruhiges Leben, ein gutes Leben, ein Leben, wie man es sich nur wüschen konnte. Es war vielleicht nicht spannend und aufregend, doch er hatte jede Menge Zeit, sich seinen Studien zu widmen und seine mathemagischen Fähigkeiten zu verfeinern. Manchmal regte sich in ihm eine leise Stimme, die nach Aufregung und Abenteuern schrie, doch er verbannte sie jedes Mal schnell wieder in die hintersten Winkel seiner selbst. Diese sichere Zuflucht wieder zu verlassen wäre einfach nur töricht. Und so gewöhnte er sich mit der Zeit an die Abgeschiedenheit. Nachts wurde er entweder von leisem Regengeprassel oder vom sanften Rauschen des Laubes in den Schlaf begleitet. So lebte er lange Zeit sorglos vor sich hin.

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