Anna Bloom

Sophies Erwachen


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der Straßenlampen. Die schneegeschwängerte orangefarbene Luft wirbelte sich hinten am Horizont zu einem schwarzen Loch zusammen. Dort lag unsichtbar, aber noch zu erahnen die Skyline von Frankfurt. Das war er nun, der letzte Abend, bevor es ans andere Ende der Welt ging. Ich zündete mir heimlich die letzte Zigarette an, verabschiedete mich von meiner Stadt. Die gespenstischen Türme spendeten einen bitteren Trost. Ich versuchte den Zigarettenrauch so auszublasen, dass er nicht ins Zimmer hineinströmen würde. Mein Kopf ragte weit aus dem Fenster hervor, so dass sich langsam eine Schneekrone auf meinen Haaren absetzte. So sehr mich der lang anhaltende Schneefall ärgerte, so sehr würde ich den Schnee morgen vermissen. In Neuseeland war es derzeit Sommer. Innerlich schwankte ich zwischen Wehmut, Angst und Hoffnung. Ich war zu aufgeregt, um schlafen zu können. Ich fragte mich, ob sich nach meiner Rückkehr meine Freunde noch an mich erinnern würden. Ein ganz anderer Mensch werde ich wohl nicht sein. Aber ich würde gut Englisch sprechen und hätte ein neues, ganz anderes Land kennengelernt. Schlecht würde es mir nicht gehen. Immerhin würde ich bei Papas Freunden leben. Aber wenn ich in Neuseeland keine Freunde finden würde? Ein Jahr war eine sehr lange Zeit, um einsam zu sein. So grübelte ich noch die halbe Nacht vor mich hin. Irgendwann gegen drei oder vier Uhr schlief ich dann doch ein. Ich träumte vom Regenwald. Das war ein ganz anderer Wald als der bei uns. Keine Eichen oder Buchen, nur unbekannte Bäume. Alles war grün. Farne und grünes langes Moos wuchsen an den Sträuchern, an den Steinen, an den Bäumen. Wie der Bart von uralten versteinerten Göttern. Ich lief barfuß im Wald umher. Das Moos war so fest und dicht, dass mir die Steine an den Füßen nicht wehtaten. Nebelschwaden rauschten herbei und wieder fort. Ein leichter Nieselregen tropfte auf meine Haut. Er war weder kalt, noch warm. Ich fühlte mich nicht geborgen und doch sicher. Ich suchte nach etwas. Ich wusste aber nicht wonach. Es war eine ganz tiefe Sehnsucht, wie nach Wasser oder Essen. Ich wusste, dass ich mich vor wilden Tieren nicht fürchten musste. Aber wie war es mit Menschen? Nein, um Menschen musste ich mir auch keine Sorgen machen. Ich versuchte, mein Gedächtnis zu erforschen, wonach ich suchte, ich schien es aber ganz vergessen zu haben. Übrig blieb nur die Erinnerung an die Suche. Als ich so auf dem Boden saß wurde ich müde, legte mich hin und drehte den Kopf zur Seite. Das Moos war wie ein Kissen an meiner Wange. Die Farne wuchsen in einer unglaublichen Geschwindigkeit, um eine Decke für mich zu flechten. Die Decke fühlte sich warm und feucht an. Ich öffnete die Augen und blickte in ein Augenpaar. Ob sie menschlichen oder tierischen Ursprungs waren, konnte ich nicht sagen. Sie waren grün und ich hatte keine andere Wahl, als ihnen zu vertrauen. Ein schriller Ton zwang mich dazu, den Blick von diesem Augenpaar abzuwenden. Das weiße, gleißende Licht, das mich umgab, kam nicht aus dem Wald. Es kam aus meinem Frankfurter Zimmer. Automatisch griff meine linke Hand nach dem Wecker und schaltete ihn endlich ab. Es war acht Uhr. Meine Koffer und Taschen stapelten sich im Raum. Mein Bett stand wie eine Insel mitten im Zimmer. Ich balancierte zwischen den Koffern zur Tür und steuerte das Bad im Korridor an. Das Bad war frei und ich schloss die Tür hinter mir zu. Ich drehte die Dusche auf und stellte die Wassertemperatur so heiß ein, wie ich die Hitze ertragen konnte. Da meine nächste Dusche erst in zwei Tagen sein würde, wusch ich mich so gründlich wie möglich. Die Haare föhnte ich kurz durch und packte in meinen Waschbeutel alles ein, was ich in Neuseeland brauchen würde. Das waren die letzten Dinge, die ich noch nicht verpackt hatte. In meinem weißen Bademantel ging ich wieder zurück ins Zimmer. Auf meinem Bett lagen die Klamotten, die ich für den Flug vorbereitet hatte: Unterwäsche, eine bequeme Jeans, ein T-Shirt und ein Kapuzenpulli. Auf dem Weg in die Küche hörte ich die Stimmen meiner Eltern. Sie waren wohl schon wach. Sie deckten den Tisch, meine Mutter wirbelte in ihrem Bademantel herum. Mein Vater goss den Kaffee ein.

      „Guten Morgen, Schatz!", sagte mein Vater, als er mich sah.

      „Ach, hallo Sophie! Du bist ja schon wach", fügte meine Mutter überrascht hinzu.

      „Guten Morgen, Ihr Beiden", sagte ich und setzte mich auf meinen Stammplatz, von dem ich aus dem Fenster schauen konnte. Wurde ich gerügt, als ich noch klein war, hatte ich meinen Blick immer aus dem Fenster in die Freiheit schweifen lassen. In letzter Zeit allerdings verstand ich mich mit meinen Eltern viel besser. Vielleicht lag es daran, dass ich älter wurde, etwas vernünftiger, aber vielleicht lag es auch an meinen Eltern, die umgänglicher wurden und anfingen, mir zu vertrauen. Ein Vertrauensvorschuss verpflichtet, ihm gerecht zu werden. Vielleicht hatten sie das in einem Elternratgeber gelesen. Zumindest schien es zu funktionieren. Ich hatte viel Freiheit, die ich nun selbst einschränken musste. Ob das Verhältnis zu meinen Gasteltern in Neuseeland genauso reibungslos funktionieren würde? Ob sie mich am Wochenende lange ausgehen lassen würden? Hier in Frankfurt war ich es gewohnt, erst um fünf oder sechs Uhr morgens nach Hause zu kommen, nachdem ich lange in den Clubs gefeiert hatte. Ich war ja immerhin schon 17 Jahre alt. Für meine Eltern war es auch kein Problem, wenn mein Freund bei mir übernachtete. Als ich noch einen hatte. Aber das ist eine andere Geschichte.

      Meine Mutter stellte die weich gekochten Eier auf den Tisch und setzte sich zu mir und meinem Vater.

      „Iss dich an den Brötchen satt. In Neuseeland gibt es kein gutes Brot. Zumindest kein Dunkles. Es gibt nur Toastbrot und fluffiges Weißbrot. Du wirst dich schnell nach unserem schönen Brot sehnen".

      Mein Vater war öfters geschäftlich in Neuseeland unterwegs. Bei einer dieser Geschäftsreisen hatte er meinen Gastvater Volker, einen ausgewanderten Deutschen, kennengelernt. Die beiden verstanden sich sehr gut und trafen sich immer wieder auf Geschäftsreisen in Neuseeland oder in Deutschland. Irgendwann kam mir die fixe Idee, ein Auslandsjahr zu machen. Ich wollte weg aus Frankfurt. Etwas Neues erleben, neue Leute kennen lernen. Es kamen die USA, Kanada, Australien oder Neuseeland in Frage. Da mein Vater die Familie meines Gastvaters gut kannte und es ihm lieber war, wenn seine Tochter bei Bekannten unterkam als bei Fremden, organisierte er meinen Aufenthalt bei meinem Gastvater in Neuseeland. Für mich war dieses Land zuerst das „Ende der Welt“. Klar, alle sprachen Englisch und das war die Begründung für meinen Wunsch, ins Ausland zu gehen. Insofern konnte ich mich nicht dagegen wehren, ausgerechnet am anderen Ende der Welt ein Schuljahr zu verbringen. So wie mein Vater von Neuseeland schwärmte, würde ich es doch nicht schlecht treffen. Er zeigte mir Fotos, Fernsehdokus und ich surfte im Internet, um mehr über dieses Land und seine Bewohner herauszufinden. Irgendwann steckte er mich mit seiner Begeisterung an und ich willigte ein. An meiner Schule hatten bereits viele Schüler Auslandsjahre absolviert. Insofern war es kein Problem, dass auch ich ein Jahr lang weg sein würde. Die Schulen in Neuseeland haben einen sehr guten Ruf, die Lehrinhalte sind vergleichbar. Ich müsste bestimmte Kurse besuchen und dann könnte ich, ohne ein Jahr zu verlieren, hier in Frankfurt das Abitur machen.

      Nun war es mein letztes Frühstück zusammen mit meiner Familie. Ich biss in mein Kürbiskernbrötchen, das ich mit Leberwurst bestrichen hatte. Das wird es tatsächlich ein Jahr lang nicht geben. Ich versuchte mir den Geschmack einzuprägen. Dann nahm ich eine Brezel aus dem Brotkorb und bestrich sie mit Butter. Brezeln wird es in Neuseeland auch nicht geben. Ich genoss alles, was auf dem Tisch lag. Selbst den Kaffeegeschmack versuchte ich so lange wie möglich auszukosten. Vielleicht trinkt man in Neuseeland nur Instant-Kaffee. Ich schaute meine Eltern an. Auch sie würde ich ein Jahr lang nicht sehen. Das Gesicht meiner Mutter mit den zarten Falten um die Augen und die muskulösen Hände meines Vaters. Er würde mich ein Jahr lang nicht in die Wange kneifen, wie er es immer tat. Ich lächelte meine Eltern an und sagte: "Es wird schon gut gehen."

      „Aber natürlich. Sonst verfolge ich Volker bis zu seinem Lebensende“, lächelte mein Vater verschmitzt.

      „Ach, Papa“, rollte ich mit den Augen.

      „Ich geh jetzt noch kurz ins Internet. Dann können wir alles ins Auto packen und losfahren.“ Ich stand auf und strich meiner Mutter über die Wange.

      „Bis gleich, Schatz.“ Wenn sie traurig war, dann ließ sie es sich heute gewiss nicht anmerken. Sie kann sich immer so gut beherrschen. Ich dagegen bin eher der emotionale Typ, wie mein Vater.

      Ich loggte mich bei Facebook ein und postete auf meiner Wand: „auf zum ende der welt!“ Zwei meiner Freunde waren auch eingeloggt. Als sie sahen, dass ich auch online war, wünschten sie mir einen guten Flug. Ich hatte einen Kloß im Hals. Beim Telefonieren hätte man es mir angemerkt, aber beim Chatten nicht.

      Ich schrieb: „ich hab einen kloß im hals.“

      Und: